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Noch einmal Paccard

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Von Carl Egger.

Die zeitgenössische Literatur hat sich immer noch nicht mit den durch Dübi, Montagnier, Stevens, Mathews und Freshfield aufgedeckten geschichtlichen Tatsachen über Paccard abgefunden. So hat hauptsächlich Lehner ( Die Eroberung der Alpen, 1923 ) die alten Märchen weiter verbreitet und sich zu ganz verstiegenen Lobsprüchen über Balmat als Alleingeher grössten Stiles und Held hergegeben, Kugy ( Monte-Rosa-Buch, 1941 ) hat ihm mit einem einzigen Satz zugestimmt und Steinauer ( Der weisse Berg, 1941 ) bringt die längst abgetane Geschichte von der Alleinbesteigung Balmats wieder auf. In der verdienstlichen Zusammenstellung einiger Hauptdokumente kommt Geissler ( Rund um den Mont Blanc, 1941 ) zu dem unrichtigen Schluss: der Anteil Balmats am Gelingen der Unternehmung steht gleichberechtigt neben dem seines Partners! Dies nur einige wenige Beispiele; sie liessen sich mit Leichtigkeit vermehren, besonders wenn man noch die Tageszeitungen berücksichtigte. Leider ist auch vor einem Jahr in den « Alpen » ( S. 110 ) die falsche Version über die Auffindung des Mont-Blanc-Weges aufgetaucht. Es ist daher unerlässlich, immer und immer wieder auf die Wahrheit hinzuweisen. Ein hervorragender Bergschriftsteller hat mir gestanden, dass er das ( längst vergriffene ) Buch « Paccard wider Balmat » 1913 vom Verfasser Dübi selbst erhalten, dass er es aber nur flüchtig gelesen habe, weil es ihm zu umständlich und langweilig erschienen sei! Es gehört in der Tat ein wenig Enthusiasmus dazu, sich in den Fall Balmat zu vertiefen, aber das Unrecht gegenüber Paccard wird so krass und offenbar, dass man schliesslich leidenschaftlich alle Phasen wie in einem spannenden Roman verfolgt. Da aber auch jetzt noch immer wieder in die gleiche Kerbe geschlagen wird, scheint doch etwas daran zu liegen, dass die meisten Leser ( und Schriftsteller !) nicht Zeit dazu haben, in die umschichtige Angelegenheit mit allem Pro und Contra einzudringen, und vielleicht ist es nicht unangebracht, wenn eine auf den wenigen Paccardschen Originalquellen beruhende Erzählung, entkleidet von allem Beiwerk, dargeboten wird.

Geboren ist Michel-Gabriel Paccard am 21. Februar 1757 als dritter Sohn einer angesehenen Familie. Der Vater war Notar und Curial im Prieuré von Chamonix, gebildet und von vielen bedeutenden Fremden gern aufgesucht; der ältere Bruder war Advokat, der zweite Abbé. Alle drei Söhne sind ohne Zweifel gut erzogen worden. Michel-Gabriel1 ) besuchte das Collège Royal des Provinces in Turin, studierte dort an der Académie Royale und später auch in Paris, promovierte zum Doktor der Medizin vermutlich vor 1781 und wurde vier Jahre darauf von der Académie Turin zum korrespon-dierenden Mitglied ernannt. Neben seiner Tätigkeit als Dorfarzt beschäftigte er sich mit botanischen, geologischen und physikalischen Studien. Er sammelte Pflanzen, Steine, besass einen kleinen Alpengarten, veröffentlichte eine Abhandlung über Gesteinsschichtung, machte Schneemessungen auf Winter-ausflügen und lieh seine physikalischen Instrumente, wegen deren er mehrmals mit Saussure korrespondierte, an verschiedene Mont-Blanc-Besteiger aus. Im Jahre 1796 heiratete er Marie-Angélique Balmat, war kurze Zeit Richter und Maire seines Dorfes und starb 1827.

Als Bergsteiger lernen wir ihn als einen unternehmenden, ausdauernden Gänger kennen, der sich früh schon mit dem Problem Mont Blanc beschäftigte, aber von seinen Taten schlicht und bescheiden erzählte. Ein Ölporträt aus späteren Jahren ist von ihm erhalten, das sympathische, intelligente und männliche Züge aufweist und mehr über seinen aufrichtigen Charakter verrät als manche Aufzeichnungen.

Die erste Kunde von ihm erhalten wir aus dem Tagebuch des Thomas Blaikie. Dieser war am 30. August 1775, mit einem Empfehlungsbrief an den Vater Paccard versehen, zu Fuss von Sallanches in Chamonix angekommen und stieg noch am gleichen Nachmittag unter Begleitung von Pierre-Joseph und Michel-Gabriel über Le Buchet zur Mer de Glace auf, damals Glacier des Bois geheissen, wo sie auf dem ebenen Teil bis zur Mitte vordrangen und wieder auf der rechten Seite, der Moräne folgend, zur Arveyronquelle und dem Weiler Les Bois abstiegen. Der Fremde bewunderte den Kontrast des Eises in der Nähe der Kornfelder und die von ihm mit « chinesischen Obelisken » verglichenen Seraks im Eisbruch. Blaikie war Gärtner und Botaniker und beauftragt, Alpenpflanzen zu sammeln: es ist leicht möglich, dass der 18jährige Jüngling die ersten Anregungen für seine Kenntnis der Alpenflora von ihm empfangen hat. Am folgenden Tag wurde früh zu einer bedeutenderen Exkursion aufgebrochen, ja zu einer für jene Zeit und für einen Anfänger ungewöhnlich kühnen Unternehmung. Direkt südlich vom Prieuré stieg Michel-Gabriel mit seinem Gast zum Seelein Plan de l' Aiguille und noch etwas höher bis in die Nähe des Gletschers von Blaitière ( etwa auf 2300 m ) hinauf. Hier hatten sie das Schauspiel einer Lawine ganz aus der Nähe. Michel erzählte, dass Mitte Mai die donnernden Lawinen für das Tal den Anbruch des Frühlings einläuteten. Vorbei am Seelein von Nantillon stiegen sie auf die Alp Blaitière-dessus hinunter und übernachteten dort bei den Paccard bekannten Hirten. Es fällt auf, dass Blaikie von allen erreichten Punkten deutliche Höhenzahlen angibt. Das rührt offenbar daher, dass er sie von den Paccard erhielt auf Grund von trigonometrischen Messungen eines wenige Wochen vorher bei ihnen weilenden Sir George Shuckburgh, der auch die Höhe des Mont Blanc bisher am genauesten bestimmte.Vielleicht liegen auch da die Fäden zutage, die zu der späteren Vorliebe Paccards für barometrische Messungen führen.

Am andern Morgen gingen sie zum Glacier des Bossons hinüber, überschritten ihn zur Montagne de la Côte und stiegen ziemlich hoch in der Richtung zur Aiguille du Goûter an. Michel-Gabriel, der offenbar schon Erfahrungen im Begehen von Gletschern besass und seinem Freund zeigte, wie man auf steilen Eishängen mit Hilfe ihrer acht Fuss langen Stöcke abfahren konnte, wollte nicht mehr weiter, und Blaikie gab seine höherfliegenden Absichten auf, « weil ja da oben doch keine Pflanzen mehr zu holen waren ».

Am 2. September wurde der Brévent in Angriff genommen, der einzige bisher von Fremden öfters besuchte Berg in der Umgebung von Chamonix. Die Paccard besassen auf Planpraz ein Chalet. Michel-Gabriel, vom letzten Tag noch müde, benötigte den Zuspruch des Vaters und Bruders, mitzukommen. Doch schon am 3. September sehen wir ihn und den Abbé wieder mit Blaikie unterwegs zum Montenvers und über die Mer de Glace und links über die Felsen hinauf zum Glacier de Talèfre bis zum Jardin, der ihnen eine reiche botanische Ausbeute bot. Blaikie schreibt, dass selbst den Paccard dieser Jardin unbekannt und also an diesem Tage eigentlich entdeckt worden war. Der 3. September wurde zum Verpacken der Pflanzen und wahrscheinlich zum Besuch des Glacier d' Argentière über Lognan benutzt; dann wanderte der unermüdliche Schotte allein weiter. Der junge Paccard aber hat sich mit den an diesen sechs Tagen unternommenen grösseren Ausflügen und Gletscherwanderungen durchaus vertraut gezeigt.

In der Zwischenzeit hören wir nur durch einen Brief von der Besteigung des Buet ( 1779 ), aber nach seiner definitiven Niederlassung beschäftigt er sich einlässlich mit dem Mont Blanc und nimmt teil an der verunglückten Expedition Bourrits 1783 auf die Montagne de la Côte als ausdrücklich beauftragt, barometrische Messungen auszuführen. Während Bourrit zeichnete und keinen Fuss auf das Eis setzte, ging er mit den drei Führern desselben im Gletscherbruch vor, wo mit einer Axt Stufen gehauen wurden. Aber durch aufsteigende Wolken wurden sie veranlasst, umzukehren. Schon vorher waren zweimal Chamoniarden in dieser Richtung aufgebrochen und bis zu den Grands-Mulets-Felsen oder noch ein wenig darüber hinaus gekommen, liessen sich jedoch durch die Hitze, Unwohlsein und weichen Schnee von weiterem Vordringen abhalten. Allgemein war die Furcht vor der stickigen Luft in der « Vallée Blanche » gross, und auch Saussure schloss aus diesen Versuchen, dass ein Aufstieg auf den Mont Blanc auf diesem Weg hoffnungslos sei.

Im nächsten Jahr machte Paccard mit Pierre Balmat eine zweitägige Rekognoszierung auf den Taculgletscher. Sie schliefen am Fuss der Noire und versuchten am folgenden Tag während zweier Stunden, den Géant-gletscherbruch auf der orographisch rechten Seite zu überwinden, ohne viel höher zu kommen. Als der Schnee zu weich wurde, kehrten sie um und besuchten noch den Paccard schon bekannten Jardin de Talefre. Das Resultat dieser Fahrt war die Erkenntnis, dass dem Mont Blanc auch auf diesem langen Weg nicht beizukommen war.

In diesem Sommer kam Paccard zum erstenmal mit Saussure zusammen, der bei Verwandten der Paccard wohnte und ihn zum Essen einlud. ( Er bezeichnet ihn in seinem Tagebuch als « joli garçon, plein d' intelligence ». ) An diesem Abend werden sie wohl über die Möglichkeit einer Besteigung gesprochen haben, und es wäre nicht ausgeschlossen, dass Paccard sich auf Veranlassung Saussures hin dem Weg über die Aiguille du Goûter zuwandte. Kurz darauf begab er sich nämlich — natürlich bewaffnet mit seinem Barometer, den er unterwegs zerbrach und gegen einen andern eintauschte — auf eine 36stündige Rekognoszierung gegen die Aiguille du Goûter und notierte auch genau alles, was sich auf den folgenden Versuchen in dieser Richtung begab. Die dabei am weitesten gelangten Führer sahen von den Vallotfelsen aus sowohl den Bossesgrat als unmöglich wie auch einen direkten Aufstieg vom Grand Plateau aus als hoffnungslos an. Paccard war 1785 noch einmal auf dem Buet und setzte seine barometrischen Höhenmessungen eifrig fort, erbat sich von Saussure auch eine Tabelle zur Ausrechnung und mass z.B. zur Kontrolle den Kirchturm von Chamonix barometrisch und direkt mit einer Schnur, wobei er an seinem ungradierten Glas die Höhen mittelst Papierstreifen markierte.

Unterdessen reifte in Paccard ein neuer Plan: seit 1783 untersuchte er mit dem Fernrohr vom Brévent aus die Schneeverhältnisse auf dem oberen Bossonsgletscher und an der Nordwand des Mont Blanc. Es schien ihm dort ein Aufstieg über den Ancien Passage, wenn auch lawinengefährdet, möglich, insofern der Schnee nicht in zu grossen Mengen vorhanden war und sich gesetzt hatte; und selbst wenn diese Verhältnisse nicht so günstig wären, schien ihm noch der Weg durch den Corridor offen zu stehen. Freilich war er sich klar, dass unter Umständen ein Biwak nötig war. Nachdem aber vor kurzem ein Führer ein unfreiwilliges Biwak mitten im Gletscher gut überstanden hatte, zögerte er nicht mehr.

Anfangs August 1786 muss er die Zeit günstig zur Ausführung seines Plans gehalten haben, und er suchte einen Begleiter. Da sein gewöhnlicher Führer abwesend war, engagierte er Jacques Balmat des Baux als Träger, der sich ihm im Hinblick auf den von Saussure ausgesetzten Preis für den ersten Mont-Blanc-Besteiger selbst anbot. Balmat war Kristallsucher und Gemsjäger und hatte erst einmal von sich hören gemacht, als er sich am 7./8. Juni den Führern angeschlossen hatte, die einen neuen Weg von der Montagne de la Côte auf den Dòme fanden, kürzer als der bisherige über die Aiguille. Sie drangen ebenfalls bis zu den Vallotfelsen vor, wo Balmat sich von ihnen entfernte, um zu « strahlen ». Als er zurückkehrte, waren die andern schon aufgebrochen, denn schlechtes Wetter mit Gewitter und Hagel war unterdessen eingetreten, und die Nacht überraschte ihn, als er mühsam ihren Spuren in dem nun sehr hohen und weichen Schnee ( es war ja anfangs Juni !) folgte. Bei einem Schrund, den die andern übersprungen hatten, während er dazu nicht mehr genügend sah, erwartete er den Morgen. Seine Kleider waren in der Nacht vollständig gefroren, aber er widerstand der Kälte und kehrte um 8 Uhr morgens heim, indessen die andern noch in der Nacht gegen 10 Uhr zurückgekommen waren. Jede Einzelheit dieses Zwischenfalls ist wichtig, weil sich später das ganze Lügengebäude Balmats auf die Zeit dieses ohne Zeugen verbrachten Alleinseins aufgebaut hat.

Die Ausrüstung Paccards bestand aus 2% Meter langen und mit einer eisernen Spitze versehenen Alpenstöcken, wie sie allgemein im Gebrauch waren, genagelten Schuhen, Eissporen, Gamaschen, Barometer, Thermometer, Kompass, Cyanometer ( von Saussure erfunden und geliehen ) und einem Fläschchen Tinte. Sie hatten weder Seil noch Beil noch Schleier oder Brillen, wohl aber eine Decke zum Übernachten. Sieht man dagegen, mit welchem grossen Apparat ein Jahr später Saussure gereist ist ( zwei eigens hergerichtete Lagerstätten, ein Zelt, das bis auf den Gipfel getragen wurde, ein Feldbett mit Matratze, Decken, Leintücher und Vorhang, Strohsäcke, ein Tischchen, ein Kochtopf mit Kohlen, Äxte, Schneeschaufel, Seile, Geländerstangen, eine Leiter, Sonnenschirm, Pelzhandschuhe, Pantoffeln, Schleier und vielleicht auch grüne Brillen, dann zwei Barometer mit Gestellen, zwei Thermometer, zwei Hygrometer, Elektrometer, Cyanometer, eine Art Sextant, zwei Kompasse, Siedethermometer, Geologenhammer, Fernrohr, grosse Flaschen in Tragkiste für Luftproben, eine für Schneeprobe, Schreibzeug, ferner verschiedene weitere Instrumente, die wegen Ermüdung nicht zur Verwendung kamen, Proviant, Wein, Kirsch usw.; dazu 18 Führer und ein Bedienter ), so muss man die Kühnheit bewundern, wie dieser Paccard allein mit einem Begleiter und in primitiver Ausrüstung sich anschickte, die grosse Unternehmung zu beginnen. Als er Balmat mitteilte, er wolle den Weg über die Montagne de la Côte nehmen, hatte dieser, nach seinen früheren Beobachtungen vom Dôme aus, Zweifel an dem Gelingen der Tour. Er hat sie also schon zu Beginn mit einem gewissen Vorurteil angetreten, und nur die Versicherung Paccards, dass er die Gegend schon lange mit dem Fernrohr studiert habe, und der Anreiz des ausgesetzten Preises bewogen ihn zur Bereitschaft. Sie gingen miteinander am Nachmittag des 7. August vom Prieuré fort und übernachteten auf der Höhe der Montagne de la Côte in einer Schäferhütte. Bei Anbruch eines wunderschönen Tages, um 4 Uhr, wurde aufgebrochen und der Gletscher betreten, aber erst gegen Mittag, also nach acht Stunden, waren sie bei den Felsen der Grands Mulets angelangt. Das zeigt ohne weiteres die Schwierigkeiten an, die sie im Gletscherbruch der Jonction und weiter oben zu überwinden hatten. Hier und besonders in der Nähe des obern Felsens, wo später die Hütte Saussures erstellt wurde, hatten sie die meisten Spalten gefunden, von denen sie die breiteren, sichtbaren auf den quer über sie gelegten Stöcken auf allen Vieren überkrochen. Paccard hat deshalb der Leiter Saussures lebhaft zugestimmt und geraten, die Besteigung überhaupt auf eine frühere Jahreszeit zu verlegen, da bei der im Juni erfolgten Begehung durch Balmat viel mehr Spalten vom Winter her noch überdeckt und ausserdem die Tage länger waren. Die gebrauchte lange Zeit erklärt sich jedenfalls auch daraus, dass sie sehr viel, erst vor einigen Tagen gefallenen Neuschnee antrafen, der bei der vorgeschrittenen Tageszeit und der starken Sonne weich wurde. Hier, beim Traversieren von den Grands Mulets nach dem Fuss der Schneehänge hinüber, über die Balmat vor zwei Monaten zum Dôme aufstieg, scheinen auch die ersten Differenzen zwischen den beiden aufgetaucht zu sein. Noch immer war Balmat der Meinung, der Weg führe nun über den Dôme, hatte auch angeblich einem Bekannten gesagt, er könne sie mit dem Teleskop um 9 Uhr auf der Spitze des Dôme suchen. Als nun aber Paccard am Fusse des Dôme in spitzem Winkel sich dem steilen Hang zum Petit Plateau hinauf zuwandte, begehrte er umzukehren, indem er vorgab, er habe seiner Frau mit ihrem kranken, 18 Tage alten Kinde versprochen, noch am gleichen Abend heimzukommen. In der Tat ist das Kind auch an diesem Nachmittag gestorben. Paccard aber glaubte, das seien blosse Ausflüchte des Trägers, und munterte ihn auf, auszuharren; denn trotz der vorgerückten Tageszeit und weil er ja von Anfang an mit einem Biwak gerechnet hatte, übernahm er mit unentwegtem Mute den Vortritt und liess nicht ab, seinen Begleiter aufzufordern, weiter zu steigen, ja er nahm ihm sogar einen Teil seiner Last ab. Jetzt war er ja auf seinem eigenen, neuen Weg und verfolgte ihn ohne Unterlass zum bisher noch nie betretenen Petit und Grand Plateau. Der Aufstieg zum Grand Plateau dauerte etwa drei Stunden. Hier war besonders ermüdend eine Schneekruste, die sie abwechselnd trug oder durchbrach. Wieder äusserte sich Balmat, er könne nicht mehr weiter, wenn Paccard nicht die Führung übernähme und vorspure; das tat nun Paccard bis hinauf, also gerade an der schwierigsten Stelle des Weges. Es war der steile Hang des Ancien Passage, der zwischen den beiden Felsbändern der Rochers Rouges hinaufführt, und wo mit der Spitze des Stockes Stufen ausgekratzt werden niussten. Denselben Weg ging Balmat bei seiner zweiten Besteigung vom 5. Juli 1787 mit zwei andern Führern, erst auf der dritten Besteigung mit Saussure vom 1. August 1787 wurde der etwas leichtere obere Weg, also oberhalb der beiden Felsen, gewählt. Deshalb konnte Balmat später auch bei dieser Variante von « seinem Weg » sprechen. Nach etwa zwei Stunden am Fuss der Calotte angekommen, hiess Paccard den Träger nach einem geeigneten Platz für ein Nachtlager Ausschau halten, während er sich selbst mit dem Gestein der Petits Rochers Rouges beschäftigte. Es war schon kalt geworden und ein heftiger Nordwestwind wehte, der ihnen fast den Atem benahm und auch den Hut des Doktors entführte. Da sich unter diesen Umständen hier nicht übernachten liess, stand Paccard vor dem Entschluss, entweder umzukehren oder doch noch so spät am Abend den Gipfel seines Berges zu erreichen. An diesen Moment muss Saussure gedacht haben, wenn er später in seiner Reisebeschreibung ausrief: « Wenn ich mir Doktor Paccard und Jacques Balmat vorstelle, wie sie bei der Tagesneige als die Ersten in diesen Einöden auftraten, ohne Unterkunft, ohne Schutz, ja ohne die Gewissheit zu haben, ob Menschen in diesen Höhen, denen sie zustrebten, überhaupt leben können, und wie sie trotzdem unerschrocken ihr Ziel verfolgten, so muss ich sie bewundern um ihrer Geisteskraft und ihres Mutes wegen. » Der Entschluss war gefasst, Paccard rief den Träger zu sich. Miteinander gingen sie weiter bis zu den Petits Mulets genannten Felsen, wo Balmat sich vor dem Wind schützte, während Paccard sie untersuchte und Handstücke sammelte. Der Schnee war nun weich, und alle 100, später alle 14 Schritte, mussten sie anhalten, um Atem zu schöpfen. Trotzdem fühlte sich Paccard wohl und stieg mit grosser Leichtigkeit weiter, direkt über den letzten Hang hinauf, während Balmat einen kleinen Umweg nach links machte, um dann im Laufschritt gleichzeitig mit dem Doktor auf dem Gipfel anzulangen. Es war 6 Uhr 23 Minuten, der ganze Aufstieg hatte also 14y2 Stunden in Anspruch genommen. Den Weg von den Petits Rochers Rouges bis hier hatten sie in der unglaublich kurzen Zeit von 38 Minuten zurückgelegt, Saussure brauchte dazu 2 Stunden.

Da beständig Wind und grosse Kälte herrschte — das Thermometer zeigte —6° Réaumur —, war der Aufenthalt auf dem Gipfel nur von kurzer Dauer, wobei sie sich beständig in Bewegung erhalten mussten. Wieder sah sich Paccard nach einem Biwakplatz um, allein der Wind war überall, auch hinter dem Gipfelkamm, gleich stark und kalt. Ihre Kleider waren nicht dafür eingerichtet. Paccard trug z.B. lederne Handschuhe, der eine, rechte, war durch die Berührung mit Schnee nass geworden, so dass ihm die Hand bei verhältnismässig geringer Kälte erfror und schwarz wurde. Er rieb sie mehrmals mit Schnee ein, worauf sie wieder Farbe bekam, aber noch nach 14 Tagen gefühllos blieb. Er wechselte seine mit den Pelzhandschuhen Balmats, worauf auch dessen Rechte litt und auf gleiche Weise behandelt werden musste. Das mitgenommene Fleisch war gefroren, so dass sie davon nichts geniessen konnten, ebenso die Tinte. Paccard pflanzte einen der Stöcke mit einem daran geknüpften roten Nastuch auf. Zwei Bergdohlen mit gelben Schnäbeln und Füssen flogen um den Gipfel herum, und die Sonne neigte sich dem Untergang zu.

Die Aussicht war ringsum ausgedehnt, nur am Horizont waren einige Gegenden durch Wölkchen verdeckt, aber Paccard konnte über die Berge des Dauphiné hinweg auf ferne Gebirgszüge sehen. Ganz Savoyen lag zu ihren Füssen. Die hohen Felsberge in der Nähe und ihre Schichtungen beschäftigten den Doktor wieder sehr, er verglich den Verlauf des Hauptkammes mit einer 7, wobei die Aiguille-Verte-Kette den Querbalken bildete. Aber nun richtete sich sein Hauptaugenmerk auf die wenigen Messungen, die ihm in der kurzen Zeit des Aufenthalts zu machen vergönnt waren.

Es wurde ihm später viel vorgeworfen, dass ihre Ergebnisse mager gewesen seien. Was hatte es damit eigentlich für eine Bewandtnis? Seine Ausrüstung war primitiv, weil eben ein Träger allein ja nicht viel mitnehmen konnte, dazu waren die Verhältnisse ihm ungünstig. Den Barometerfuss Die Alpen — 1941 — Les Alpes.12 steckte er tief in den weichen Schnee ein, wobei ihm auffiel, dass Hagelkörner in diesem eingebettet waren. Übrigens besass das italienische Instrument keine Gradierung, er markierte die Höhen unterwegs und auf dem Gipfel mit Hilfe einer Feile auf dem Glas, « doch war ihm die untere Höhe des Quecksilbers in der Kapsel nicht bekannt»1 ). Das Barometer zerbrach auf dem Rückwege auf dem Rücken des Trägers, aber das Rohr mit den Marken war offenbar noch vorhanden. Der Messung der Intensität des Himmels-blaus mit dem Cyanometer und damit der Transparenz der Luft war der späte Abend natürlich nicht günstig. Paccard glaubte, am Kompass auf dem Gipfel eine grössere Abweichung der Magnetnadel nach Westen beobachtet zu haben als unten, was aber durch Saussure dann keine Bestätigung erfuhr.

Die geringe Ausbeute wollte Paccard durch einen zweiten Mont-Blanc-Besuch korrigieren, als für ihn die Katastrophe eintrat, indem die wissenschaftlichen Ergebnisse der Saussurebesteigung seine Versuche ja bei weitem überholten. Er hat sich aber auch später immer mit den Messungen beschäftigt und seine verbesserten Instrumente ausgeliehen, obschon sie ihm oft verloren oder beschädigt wurden.

Von der Kälte durchschauert und auf der Flucht vor der nahenden Nacht stiegen die beiden Mont-Blanc-Besucher nach einer halben Stunde eilends ab und waren, da sie an steilen Hängen auf ihre Stöcke gestützt abfuhren, schon nach 6 Minuten bei den Petits Rochers. Die Sonne war eine Zeitlang durch ferne Wolken verschleiert gewesen, jetzt brachen ihre letzten Strahlen erneut hervor und Übergossen die Höhen mit Rosaschein. Dieser eilige Abstieg der durch Müdigkeit und Kälte, durch Hunger und Durst beeinflussten, aber durch das Gefühl ihres Sieges gehobenen Bergsteiger über die gefährlichsten Stellen ist sicher ein abenteuerliches Stück ihrer Fahrt. Zum Glück kamen sie vor Einbruch der Nacht zum Grand Plateau, und dann war ihnen der Mond zum Aufsuchen ihrer Spur behilflich. Manchmal irrten sie auch herum und brachen viermal bis zum Bauch in verdeckte Spalten ein, doch konnten sie sich jeweils mit Hilfe der rasch vorgehaltenen Stangen wieder herausarbeiten. Nach fünf Stunden kamen sie zu ihrem Nachtlager und ruhten dort zwei Stunden. Durch die Strahlung waren beide stark mitgenommen, und besonders der Doktor war beim Erwachen schneeblind. Am Morgen um 8 Uhr waren sie zu Hause und litten mehrere Tage unter den Strapazen dieser für alle Zeiten einzigartigen und denkwürdigen Besteigung. Was dann darauf folgte, ist ein unerfreuliches Kapitel der Berggeschichte: um so strahlender sollte heute das Bild dieses charaktervollen, auf Maul-heldentum verzichtenden Bergsteigers und wahren Pioniers einer neuen, uns allen teuren Zeit leuchten.

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