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Nomadismus. Transhumanz und Alpwirtschaft

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Mit 2 SkizzenVon Hans Boesch

( Zürich ) Im wissenschaftlichen Sprachgebrauch bezeichnen Nomadismus, Transhumanz und Alpwirtschaft genau umschriebene Formen der Viehhaltung; in diesem Sinne sind die genannten Ausdrücke auch in der französischen, englischen, spanischen und andern Sprachen zu finden ( nomadisme, transhumance, estivage; nomadism, transhumance, pastoral life of the mountain; Ph. Arbos, 1923 ) und haben ihre wissenschaftlichen Definitionen und zahllose belegende Beschreibungen erhalten. Im allgemeinen Sprachgebrauch ist der Ausdruck Transhumanz im Deutschen freilich so gut wie unbekannt, und Nomadismus wird bei uns wie in Frankreich populär in einem viel weiteren Sinne gebraucht; in wissenschaftlichen Arbeiten sollte dagegen von einem « alpinen Nomadismus » nicht mehr gesprochen werden, da damit etwas ganz anderes gemeint ist. Es ist der Sinn dieser Zeilen, die drei Begriffe erläuternd zu definieren.

Es sei gleich eingangs bemerkt, dass praktisch alle Übergänge zwischen den drei genannten Formen der Viehhaltung vorhanden sind; zahlreiche Grenzfälle stellen uns immer wieder vor das Problem, welcher Gruppe der betreffende Einzelfall zuzuteilen sei. Aus diesem Grunde stellen die genannten drei Begriffe auch nur drei typische Oberbegriffe dar, die ihrerseits eine ganze Reihe mehr oder weniger gut definierter Unterbegriffe umschliessen. Verhältnismässig gut untersucht und gegliedert wurden bisher der Nomadismus und die Transhumanz, während merkwürdigerweise der Begriff der Alpwirtschaft noch keine befriedigende Unterteilung erfahren hat.

Nomadismus, Transhumanz und Alpwirtschaft sind in erster Linie als Anpassungen der Wirtschaft an ein bestimmtes natürliches Milieu und nicht als Stufen der kulturellen Entwicklung aufzufassen, wie dies für den Nomadismus fälschlicherweise lange im Rahmen der Entwicklungsreihe: Jäger—*-NomadeAckerbauer angenommen wurde. Aus diesem Grunde sind die Verbreitungsgebiete der drei genannten Formen der Viehhaltung auch räumlich im allgemeinen wohl differenziert. Im europäisch-afrikanischen Sektor findet sich der Nomadismus in erster Linie in der Steppen-Wüsten-Übergangs-zone, die Transhumanz im Mittelmeergebiet und die Alpwirtschaft in den nördlich anschliessenden Gebirgsgegenden, wo Schneefall den Weidegang im Winter verhindert. Die Bindung an diese Zonen ist aber keineswegs starr, und politisch-historische Bedingungen beeinflussen die Verbreitungsgebiete beträchtlich und unterwerfen die Formen der Viehhaltung ausserdem einem konstanten Wechsel.

Der Nomadismus ist durch gleitende Übergänge mit jenen Wirtschaftsformen verbunden, wo der Mensch als Jäger oder als Nutzniesser den von Weideplatz zu Weideplatz wechselnden Tieren folgt. Entscheidend erscheint, dass der Nomade die Leitung der Herden in die Hand nimmt, zum Hirten wird — wenn auch von einer Viehzucht nur in den seltensten Fällen gesprochen werden kann — und mit Familie und seinem ganzen Besitze auf ständiger und meist periodischer Wanderung von Weideplatz zu Weideplatz begriffen ist. Diese Form der Landnutzung findet sich somit in reiner Form in jenen Gras-gebieten, wo der Ackerbau ausgeschlossen ist und die Voraussetzungen für feste landwirtschaftliche Siedlungen fehlen. In welcher Weise die Wanderungen verlaufen, bestimmen im übrigen die Weideverhältnisse. In Figur 1 ist ein typischer Fall aus dem submediterranen Gebiet ( syrische Wüste ) aufgezeichnet: die Winterweidegebiete im Innern Arabiens wechseln je nach den Niederschlägen von Jahr zu Jahr; die Sommerweidegebiete liegen in den Randgebieten gegen die bebaute Zone und sind an die an Brunnen fixierten Stammeslager gebunden. Hier erfolgt auch die Kontaktnahme mit der sesshaften Bevölkerung zum Zwecke des notwendigen Güteraustausches ( animalische gegen vegetabile Produkte und Manufakturwaren ).

Bestimmt so im wesentlichen die mögliche Landbaugrenze das Verbreitungsgebiet der Nomaden, so muss doch darauf hingewiesen werden, dass diese auch über die genannte Grenze hinaus immer dann einbrechen werden, wenn die Randstaaten politische Schwächeperioden durchlaufen. Dann gelangen Nomadenstämme unter natürliche Verhältnisse, die mit der Zeit zur Aufnahme eines beschränkten Ackerbaues, zur Anlage von temporären und festen Siedlungen und damit zum Übergang zum Ackerbauer oder zur Transhumanz führen können. Diese Übergänge sind vor allem in Nordafrika und in der syrisch-arabischen Wüste wohl untersucht und haben ihren Niederschlag in einer Reihe von Begriffen ( z.B. Vollnomaden, Halbnomaden, Berg-nomaden, Wüstennomaden u. ä. m .) gefunden.

Die Transhumanz, welche wir im ganzen Mediterrangebiet von Spanien bis in den Mittleren Osten finden, stellt eine lose Kombination von Ackerbau und fester Siedlung einerseits mit Viehhaltung anderseits dar. Die natürlichen Verhältnisse des Mittelmeergebietes beschränken die landwirtschaftlich nutzbare Fläche auf kleine Areale; riesige Weidegebiete stehen im Innern und in den Bergregionen zur Verfügung. Schneefall tritt wohl in den Bergen auf, aber im Winter ist der Weidegang im Tiefland und im Süden möglich. Der Besitzer der Herden lebt mit seiner Familie in der Regel im Dorf, bestellt die Äcker und Rebberge oder geht auch einem nichtlandwirtschaftlichen Berufe nach; die Obhut über die Herden — in Anbetracht der langen Wanderungen sind es meist Schafherden — überträgt er Hirten. Eine innere funktionelle Beziehung zwischen der Viehhaltung und der übrigen Tätigkeit besteht wie gesagt nicht. Im Gegenteil: oft ist sogar ein ausgesprochener Gegensatz zwischen den Interessen der Viehhaltung und des Ackerbaues festzustellen, indem die Herden auf ihren Wanderungen die Ackerzonen queren müssen, wobei genügend Anlass zu mannigfachen Konflikten besteht.

In Spanien und in Südfrankreich spielte die Transhumanz in den vergangenen Jahrhunderten eine grosse Rolle. In Spanien besass die « Mesta », die Organisation der Viehbesitzer, bis zur Agrarreform des letzten Jahrhunderts gegenüber den Dorfbewohnern ausserordentliche Befugnisse und Vorteile; die 75 m breiten « caiiadas reales » verbanden als grosse Herdenstrassen den Süden Spaniens mit den Pyrenäen und dem kantabrischen Gebirge. Hier, wie im Süden Frankreichs, hat heute die Bahn den grössten Teil der Kleinviehtrans-porte übernommen, und nur selten sieht man noch kleinere Schafherden auf ihren Wanderungen.

Die französischen Geographen sprechen von einer « transhumance normale » oder « d' été », wenn die Besitzer im Tieflande wohnen ( dieser Fall ist auf Figur 1 dargestellt ), von einer « transhumance inverse » oder « d' hiver » im umgekehrten Falle und einer « transhumance commerciale », wenn der Besitzer — beispielsweise ein Viehhändler — nicht landwirtschaftlich tätig ist. Diese Anwendung der Ausdrücke lässt sich aus der Wortbildung gut verstehen, indem transhumance aus dem lateinischen « trans » und « humus » ( Erde, Land ) zusammengesetzt ist; wo die Landnutzung über die bestellte Erde in Form der Viehhaltung hinausgreift und mit ihr keine andere Einheit als die des Besitzes ( aber keine betriebliche Einheit ) bildet, haben wir Transhumanz vor uns. Je nach dem Standorte des Besitzers ergibt sie sich dann als « transhumance d' été » oder « transhumance d' hiver ».

Es ist klar, dass Transhumanz in den Schweizer Alpen nicht möglich ist, fehlen bei uns doch die Voraussetzungen für den winterlichen Weidegang. Hingegen ist bis in die neueste Zeit der Uberschuss an magerer Schafweide in vielen Gebieten als Sommerweide für Schafherden aus dem Mittelmeergebiet verpachtet worden. Vor allem in den Kanton Graubünden, aber auch weiter in die Schweizer Alpen hinein wanderten alljährlich Schafherden aus Oberitalien ( Bergamasker z.B. ) ein; damit erstreckte sich echte Transhumanz auch bis in den Bereich der Schweizer Alpen.

Aus dem bisher Gesagten geht schon hervor, dass sich die Alpwirtschaft in den folgenden Punkten wesentlich von der Transhumanz unterscheidet: Als Folge der winterlichen Schneedecke fällt die Winterweide weg und das Vieh wird im Stall durchgefüttert. In der Regel werden damit auch die Distanzen zwischen Sommer- und Winterstandort des Viehs kleiner, in vielen Fällen erstrecken sie sich nur über ein und denselben Gebirgshang; der Zwang zur Schafhaltung aus Gründen der Marschdistanz fällt weg. Mit wenigen Ausnahmen — man könnte etwa an die Sommerung von Schlachtvieh denken, welche mit der « transhumance commerciale » zu parallelisieren wäre — steht die sommerliche Weide in sehr enger Beziehung betrieblicher Natur mit dem Talgut. Nicht nur verbringt das Vieh einen Teil des Jahres im Talgut und wird aus dessen Futterfläche ernährt, auch Teile der Weidefläche ( vor allem die Heuberge und Maiensässe ) werden als Winterfutterlieferanten in die Talwirtschaft einbezogen. Auch wenn auf der Sommerweide das Vieh in vielen Fällen nicht vom Besitzer oder von Familienmitgliedern gewartet, sondern von angestellten Hirten gepflegt wird, so erstreckt sich diese Wartung doch nur über einen Teil des Jahres, und die Beziehungen zwischen dem Talgut und dem auf den Alpen weidenden Vieh reissen auch im Sommer nie ganz ab. In funktioneller Beziehung bilden Tal- und Bergbetrieb bei der Alpwirtschaft ein untrennbares Ganzes, während bei der Transhumanz Viehhaltung und Landbau zwei getrennte Betriebsrichtungen unter demselben Besitzer darstellen.

NOMADISMUS, TRANSHUMANZ UND ALPWIRTSCHAFT Wir wiesen eingangs darauf hin, dass die scharfe Begriffsbildung im Falle der Alpwirtschaft noch recht viel zu wünschen übrig lässt; vor allem ist der Herausarbeitung von bestimmten Alpwirtschaftstypen noch wenig Beachtung geschenkt worden. Alpen sind bisher meist nur als solche und nicht in ihrer Verbindung mit den Talgütern betrachtet worden. So gelangte man Nomadismus Transhumanz Sommerweidegebiete Winterweidegebiete Sommerweidegebiete mit Heunutzung Anbauland, inkl. Futtergewächse Wanderwege der Herden Sommerlager der Nomaden feste Wohnsitze id ., mit Ställen für das Vieh Viehställe O D Alp Wirtschaft und Alpwirtschaft beispielsweise zu der bekannten Gruppierung in Privat-, Gemeinde- und Korporationsalpen; in Kuh-, Galtvieh-, Schafalpen usw., in 2-, 3-, 4- und n-staffe-lige Alpen auf Grund der vorgenommenen Staffelwechsel; in Terrassen-, Schuttkegelalpen usw. auf der Basis der topographischen Lage. Kaum berücksichtigt wurde aber bisher der enge funktionelle Zusammenhang zwischen den Alpen und den Talgütern, das heisst der vertikale Aufbau des alpinen Wirtschaftsraumes.

Diese Beziehungen sind mannigfacher Natur, wenn wir allein die heutigen Verhältnisse berücksichtigen. Vor allem zeigt sich aber auch, wie Verande- NOMADISMUS, TRANSHUMANZ UND ALPWIRTSCHAFT rungen der Wirtschaftsstruktur im Tale sich sofort in der Nutzung der alpinen Weideflächen widerspiegeln. Und zwar gilt dies sowohl im Hinblick auf kurzfristige, z.B. konjunkturbedingte Änderungen, wie vor allem auch mit Bezug auf Änderungen, die sich über längere Zeiträume erstrecken.

Aus diesen Überlegungen heraus sind im Rahmen der Arbeiten des Geographischen Institutes der Universität Zürich eine grössere Zahl von Untersuchungen über die wirtschaftsgeographische Struktur alpiner Täler an die Hand genommen worden, die diesen beiden Problemen nachspüren. Vor allem wäre hier etwa auf Jost Hoesli, Die Glarner Land- und Alpwirtschaft in Vergangenheit und Gegenwart, 1948, hinzuweisen. In dieser Arbeit wird unter anderem gezeigt, in welcher Weise sich die Veränderungen der glarnerischen Talwirtschaft unter dem Einfluss der Industrialisation auf die Alpnutzung Sommerweidegebiete id ., mit Heunutzung Anbauland, inkl. Futtergewächse Wanderwege der Herden Wanderwege ausschliesslich der Menschen D feste Wohnsitze ohne Ställe [5] id ., mit Ställen. Viehställe Fig. 2. Komplexer Alp Wirtschaftstyp Erweiterung des alpwirtschaflichen Nutzungstypes durch Aufgliederung des Talbetriebes auswirken. Die Alpen werden jetzt nicht mehr für sich, sondern in engster Verbindung mit der Landwirtschaft betrachtet. Andere Arbeiten sollen den strukturellen Aufbau der alpinen Wirtschaft und den Einbau der Alpen-nutzung in dieselbe an möglichst vielen Einzelbeispielen untersuchen; solche Arbeiten betreffen das Puschlav ( Gerhard Simmen, Die Puschlaver Alpwirtschaft, 1949 ), das Oberengadin und die Landschaft Davos ( letztere zwei in Bearbeitung ). Kleinere Aufnahmen wurden ausserdem an folgenden Orten vorgenommen: Mittelprättigau, Domleschg, Walenseetal, Toggenburg, Waadtländer Alpen, Jura-Alpen und im Wallis. Wie nicht anders zu erwarten war, ergab sich vorerst ein Bild grösster Vielfalt; tatsächlich gibt es selbst auf kleinem Räume kaum zwei Alpbetriebe, welche sich mit Bezug auf ihre funktioneile Eingliederung und ihre formale Struktur als identisch erweisen. Es wird noch eine grosse Aufgabe sein, durch weitere Untersuchungen das Belegmaterial zu vermehren und typische Merkmale herauszuarbeiten, die erst zu einer befriedigenden Gruppierung führen können.

Die Alpwirtschaft stellt damit einen von der Transhumanz und vom Nomadismus wohl zu unterscheidenden Wirtschaftstyp dar. Selten verwendete man für die Alpwirtschaft in der Literatur bisher unrichtigerweise die Bezeichnung Transhumanz ( so etwa F. Erickson in seiner Beschreibung des Schächentales, 1938 ); häufiger spricht man schon vom alpinen Nomadismus, besonders wenn man auf die im Wallis nicht seltenen Fälle ( klassisches Beispiel: Val d' Anniviers ) der Aufgliederung des Talbetriebes in eine Reihe von Filial-betrieben ( Rebdörfer, Ackerbaudörfer usw. ) und die damit gelegentlich notwendigen Wanderungen ganzer Dorfgemeinschaften zu sprechen kommt ( Figur 2 ). Im Sinne unserer Betrachtungsweise handelt es sich hier aber nur darum, dass nicht allein das der Viehzucht dienende Areal in einen stockwerk-artigen Aufbau gegliedert erscheint, sondern dass dieselbe Aufgliederung mit dem Landbauareal vorgenommen werden kann und muss. Damit liegt hier lediglich ein besonderer, komplexer Typ der charakteristischen alpinen Wirtschaftsweise vor, in keinem Falle jedoch besitzt er aber die charakteristischen Merkmale der nomadischen Wirtschaftsform.

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