Notiz über die alpine Pflanzendecke des St. Gotthard | Club Alpino Svizzero CAS
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Notiz über die alpine Pflanzendecke des St. Gotthard

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Von Dr. Hermann Christ.

Die Vegetation des St. Gotthard ist ein Mittel-und Bindeglied zwischen derjenigen der feuchten Nord-und der trockenen, warmen West- und Südalpen. Im Wallis, das ( pflanzengeographisch betrachtet ) noch gänzlich dem Gebiet der Südwestalpen angehört, herrscht bis in Bergthäler hinauf das Buschwerk Südeuropa's. Noch bei Stalden und an den untern Stufen des Simplon herrschen die Mahalebkirsche, der Ysop, der Seven-baum, der Blasenstrauch und viele andere, diesem Typus angehörige Sträucher. Auch in der höhern Zone macht sich der Einfluss des trockenen Südens geltend. Die Birke tritt an die Stelle des Ahorns der Nordalpen, die Lärcfie nimmt den Platz der Weisstanne und theilweise auch der Rothtanne ein. Selbst die alpine Zone bietet den eigenthümlichen Habitus des Südens. Der Rasen trocknet bald aus und wird rothbraun: die saftig dunkelgrünen Teppiche der mittleren Schweiz sind im August nur an besonders geschützten Stellen zu schauen:

die hervortretenden Flanken der Abhänge sind fahl. Statt der gewimperten Alpenrose, statt der Rausch- und Moosbeere zeigen sich vorwiegend eine Menge niedriger, kriechender Weiden-arteii, die man in den Nordalpen vergeblich sucht, und die Hochalpenflora bietet eine Reihe von Arten, die vom Simplon westwärts immer häufiger werden, aber in den nördlichen Ketten fehlen; während umgekehrt gewisse allbekannte Arten unserer Voralpen und Mittelalpen im Wallis nicht mehr vorkommen ( z.B. das gefleckte Läusekraut ( Pedicularis versicolor ), die kleine Schneeprimel ( Primula integrifolia ) etc.

Der Grotthard nun nimmt vermöge seiner Lage sowohl an der Natur der Nordalpen Theil, als an der der Südalpen, jedoch mit einer sehr entschiedenen Neigung zu der letzteren. Wir wollen versuchen, diesen Charakter näher zum Verständniss zu bringen.

Der Nordabhang des Grotthards, wenn wir ihn nicht bis hinab zum Urnersee, sondern nur bis zum lieblichen Muldenthal von Andermatt ( 1450 Meter ) verfolgen, liegt schon tief genug gegen das Centrum der Kette, gegen die Culminationslinie vorgeschoben, um Hochalpennatur und Hochalpenvegetation zu bieten. Der Thalboden verdankt seiner steten Bewässerung durch die Reuss ein Grün, das im Spätsommer scharf absticht von den ausgebrannten Halden rechts und »links. Der Wiesenplan zeigt in allerüppigster Entfaltung eine Anzahl der allverbreiteten Alpenwiesenkräuter, aber daneben auch schon einen Einschuss neuer, acht südalpiner Formen: so die prächtige einköpfige Distel mit unten weissen Blättern ( Cirsium heterophyllum ) und den weissen Alpenknöterich ( Polygonum alpinum ), der nur hier und bei Guttannen die Centralkette überspringt.

Die Weidengebüsche, welche die Reuss umgeben, enthalten schon die Arten der trockenen Südabhänge ( Salix Lapponum, Hegetschweileri, arbuscula, myrsinites ), nur in ganz auffallend hoch entwickelten Exemplaren. In den Waldflecken, die hie und da noch an den Abhängen kleben, zeigen sich wenige Hochstämme mehr, das Meiste ist « Troos » oder die schwarzgrüne Alpenerle ( Alnus viridis ). Einst aber war dies Thal dunkel von Lärchen und Arven; also dem Wald der Südalpen. Höher hinauf, in der Region des Alpenrasens, ist der Charakter des Südwestens in der äussern Physiognomie ebenfalls vorhanden: viele kleine Weiden, Abwesenheit mancher speziell nordalpinen Formen. Allein es zeigt sich dennoch eine gewisse- Armuth an den vielen schönen und auffallenden Arten, die wir vom Simplon an, in Saas, Zermatt und weiterhin so reichlich vertreten finden. Der obere Rücken des Gotthards zeichnet sich eher negativ durch den Mangel vieler Bestandtheil der Südalpenflora, als positiv durch das Vorhandensein bezeichnender Arten aus. Und dieser Charakter: Allgemeine Vegetation der trockenen, südlichen Alpen ohne deren Specialitäten, ist sehr beachtenswerth. Der Gotthard erhält dadurch die Bedeutung eines Grenzwalls, eines Scheidepunktes der Flora. Der allgemeine Zeddel ist noch verhanden; zu den speciellen Einschlägen hat es nicht mehr gereicht. Im Westen, am Simplon beginnen diese Einschläge reichlich, im Osten, im Engadin ebenfalls, den Gotthard, zu dem sie anstreben, haben sie nicht mehr errungen. Auch 4

botanisch, nicht nur orographisch ist somit der Gotthard ein Scheidepunkt, ein Markstein, wie kein anderer in unsern Alpen. Er ist der Centrale der Centralen, hat aber nicht, wie manche Culturcentren, alles an sich gezogen, sondern hat aristokratisch und strenge die bunte Schaar von sich ferngehalten.

Nun aber ist, wenn wir nach Analogien suchen, der Gotthard einer jener Theile der Alpen, deren Pflanzenkleid einen stärkern Anklang an den hohen Norden hat, als irgend ein anderes Gebiet unserer Ketten. Um recht verstanden zu werden, und nicht von vornherein die Einwürfe unseres verehrten Freundes Heer uns auf den Hals zu laden, müssen wir uns indessen deutlicher aussprechen.

Es sind,zwei Erscheinungen zu unterscheiden:

1Hier zeichnet sich eine Gegend der Alpen durch besonders zahlreiche hervorstehende, hochnor-

dische Pflanzenarten aus.

2Dort bietet eine andere keine'solcher Seltenheiten, allein das Gesammtgewebe der Pflanzendecke besteht aus vorwiegend nordischen gemeinern Typen.

I. Als Beispiel ersterer Art zeichnen sich z.B. einige Seitenthälchen des Oberengadin aus. Da finden sich mehrere Alpenpflanzen des lappländischen Nordens, die sonst in der Alpenkette fehlen. So pflückt man bei Maria am Silsersee, im Beverserthal und ob Pontresina die lappländische Oxytropis, mehrere Gräser und Seggen und andere kleine Pflanzen, die man kaum anderswo als hier und im höchsten Norden findet ( Avena subspicata, Carex Vahlii, microglochin, bicolor,

Juncus arcticus, Tofjeldia borealis, Alsine biflora etc. ). Diese einzelnen sonderbaren Analogien der arktischen mit der Engadinerflora fallen um so mehr in 's Auge, je seltener diese Pflanzen überhaupt sind.

II. Ein Beispiel letzterer Art ist nun in seltenem Maass unser Gotthard. Von hochnordischen Seltenheiten, wie die Flora des Engadin sie zeigt, ist wenig zu spüren. Sie'fehlen nicht ganz; allein sie treten nicht nennenswerth hervor. Dagegen sind die gewöhnlichen Gräser, Kräuter und Sträuchlein, die verbreitetsten Gewächse des Gotthardrüekens meistentheils eben jene Arten, die auch im Polarkreis massenhaft auftreten. Im Grossen und Ganzen, in der Hauptmasse der Vegetation trägt der Gotthard nordisches Gepräge. Und gerade die Armuth an brillanten Eigenthümlichkeiten macht, dass dieser Charakter recht ungetrübt zur Anschauung kommt. Ungetrübter selbst, als im Engadin, wo einzelne nordische Raritäten zahlreicher, wo aber die Einmischung vieler südlicher Typen schon recht bedeutend ist und dem Gesammtbild ein vom Nordischen verschiedenes Colorit verleiht. Im Engadin pflückst du neben jenen angeführten arktischen Gräsern die Artemisia glacialis, die Pedicularis incarnata, die Primula longiflora, latifolia und glutinosa, Phyteuma humile, Ranunculus parnassifolius, Herniaria alpina, Scirpus alpinus, Daphne striata, Pedicularis Jacquini und asplenifolia, Senecio abrotanifolius, Géranium aconitifolium, Alsine lanceolata, Dianthus glacialis und eine Menge anderer schöner Arten, die sonst in der Schweiz nur etwa noch im Wallis vorkommen, und dabei acht südalpine sind, also dem Norden völlig

Schweizer Alpenclub.4

fehlen. Dies benimmt der Engadiner Hochflora den streng nordischen Charakter.

Allein an den Hängen des Gotthard herrscht die nordische Trivialflora fast unumschränkt. Die Halden sind mit Troos, der grünen Erle geschmückt, ganz wie am Behringsmeer. Die kleinen Weiden, die spitzen Gräser, die vielen kleinen Blümchen bis zur Azalea und den Steinbrechen der obersten Hänge sind nordisch. Die breitblättrigen, üppigen Pflanzen der Voralpen treten zurück; die Strenge des Klima's, die austrocknenden Winde, die sengende Sonne der Centralalpen bedingt jene spärliche, unscheinbare Hochalpenvegetation, wie gleiche klimatische Einflüsse sie in Grönland oder dem Plateau Lapplands entwickeln.

Ich berufe mich bei dieser Schilderung auf meinen competenten Gewährsmann, den biedern und wunderbar klar beobachtenden Schweden Wahlenberg. Als er 1815 aus seiner nordischen Heimath kommend die Schweiz betrat, fiel ihm vor allem die Frische und Feuchtigkeit des Sommers, die Fülle und Blättermasse der Vegetation auf. So durchzog er die Voralpen, gleichmässig den wässerigen Himmel und den grünen fetten Pflanzenschmuck Helvetiens bewundernd. « Hel-« vetiens, das sich eines Uebermasses an Nässe erfreut, « oder, wenn Du lieber willst, darunter leidet », wie er in seinem klassischen Latein sich ausdrückt. Als er aber — es war am Isenstock — zuerst in den Bereich des Gotthard trat, da fand er seinen klaren, trockenen nordischen Sommer wieder, und zugleich den nordischen Pflanzenwuchs. « Der ganze Berg », sagt er, « ist steinig, trocken und an lappländischen Kräutern reicher als irgend ein anderer in Nordhelvetien.

» Wahlenberg hätte noch richtiger sich so ausgedrückt: « und er bietet die nordischen Arten reiner und un-vermischter als ein anderer. »

Die nordischen trivialen Arten, die überall in der Alpenkette vorkommen, machen sich am Gotthard breiter als an andern Orten, und die specifisch alpinen halten sich mehr zurück, sowohl die der Voralpen als die der Südalpen. Dies ungefähr mag die richtige Formel sein, in die wir die floristische Besonderheit unseres strengen Gotthard bringen wollen, des finstern Gesellen, der den bunten Flitter des Südens, wie das weiche Grün der Vorberge verschmäht, um recht melancholisch in das arktische Gewand der Eis-und Urzeit sich zu hüllen.

Doch dürfen wir den alten Burschen auch nicht ärmer und grauer malen als er ist. Er hat einige wenige, aber dann auch um so seltenere Kleinodien, die Niemand hat als er; ja, die er gar nicht mehr herschenkt.

Er allein, in der ganzen Alpenkette, bietet bei Campolungo den Juncus squarrosus. Diese Simse ist im Allgemeinen so selten nicht; sie ist im Norden sogar häufig und kommt bis in den Schwarzwald hinab, aber die Alpen flieht sie. Nur am Gotthard ist sie in deren Gebiet zu finden.

Und einst fand man in den Alpen seiner Südabhänge eine schöne, grosse Schafgarbe, die Ptarmica alpina. Noch der alte Thomas hat sie gefunden, seither keiner mehr. Es war die einzige und letzte Stelle der Alpen;

jetzt ist die Art nur noch im hohen Norden von Sibirien und Amerika zu finden. Eine sehr nahe Verwandte kommt in den Pyrenäen vor; die Ptarmica unserer Ebene ist schon eine entferntere Base. Man wundere sich nicht zu sehr, wenn ich vermuthe, sie sei nicht mehr zu finden. Allerdings mag sie wieder aufgefunden werden, jedoch ist das Beispiel verschwindender Alpenpflanzen gar. nicht so selten, als man glauben möchte. Die Verbreitung dieser Flora ist oft recht seltsam. Als ob aus einem Gefäss in ferne Weiten hinaus ein flüssiger Stoff gespritzt, oder der Same sparsam in weite Räume verstreut wäre, so vereinzelt, so spärlich steht oft eine Gruppe, oder gar nur ein einzelner Stock einer Art mitten in einem Gebiet, einsam und allein, weithin keine ihrer Art. Diese Beobachtung macht jeder, der in den Alpen botanisirt: sie lehrt ihn, dass die heutige Alpenflora aus bunt durcheinander geworfenen Trümmern einer alten, ohne Zweifel mehr zusammenhängenden, geschlossenen Vegetation besteht.

Bekannte Beispiele mögen es veranschaulichen.

Auf der Dôle im Jura, am Hohgant und am Gemmenalphorn kleben einsam einige Colonien von Edelweiss, weit ab vom gewohnten Gebiet dieser Pflanze, und sehr leicht auszurotten, wenn man es darauf anlegen wollte.

Am Pilatus stehen im Geröll des Esels ebenso einsam einige Büsche des weissen Alpenmohns ( Papaver alpinum ) mit einigen Rasen des herrlichen Veilchens, das vom Mont Cenis Viola cenisia benannt wird. Weit und breit ist nichts Aehnliches zu sehen; für den Mohn müssen wir zum Urirothstock, für das Veilchen in die Glarner- oder Waadtländeralpen gehen, um die Nachbarn zu finden.

Eine relativ kleine Terrainveränderung kann beiden Standorten mit einem Mal den Garaus machen.

Dies ist nachweislich geschehen mit der Carex ustulata am Glockner; der Gletscher der Pasterze hat sie vertilgt. Jetzt muss man vom Glockner nach Wallis pilgern, um dieselbe Carex zu pflücken, wenn man nicht vorzieht, nach dem Palarkreis zu wandern, wo sie nicht so selten ist.

Die Saxifraga cernua war im Anfang des Jahrhunderts in der Schweiz nicht so ganz selten. Man fand sie bei Saanen und bei Lens. Nunmehr ist sie bei Saanen längst dahin und bei Lens wächst sie noch spärlich an einer Art von Grotte, wo die Schafe sich bei Unwetter hineindrängen und ihr möglichstes thun, sie zu vernichten. Blühende Exemplare hat Herr Muret, der jährlich dahin geht, in den letzten Jahren auch nicht mehr gefunden.

Und auf dem Schwabhorn am Faulhorn steht die einzige kleine, aber ganz kleine Gruppe der Carex vaginata, die man in der Alpenkette kennt. Die kleinste Umwälzung jenes Berggipfels vernichtet sie unfehlbar; ohnehin ist sie kläglich daran, blüht kümmerlich, fruchtet kaum und treibt Halme, die drei Mal kürzer sind, als nordische Exemplare.

So ist ja das liebliche Dreifaltigkeitsblümlein ( Trientalis ) aus den meisten, schweizerischen Standorten verschwunden: aus dem Schwarzwald, wo es einst wuchs, bewahre ich noch ein altes Exemplar.

Diese Beispiele dahinschwindender Alpenpflanzen sind so zahlreich, dass uns das allerdings sehr frappante der Gotthard-Ptarmica nicht allzusehr verblüffen kann. Sie zeigen uns, dass auch die Geschlechter der Pflanzen vergehen und hinschwinden auf Nimmerwiedersehen, und dass selbst im wilden Gebirg, wo der Mensch nicht hinkommt, die Wesen streiten und sich verdrängen. Eines aber soll bleiben, wenn auch die Blümlein welken auf dem harten, kalten Felsen; der frische Hauch der Freiheit um unsern Gotthard rund herum, so weit die Landesmarken reichen. Dieser Lebensodem weckt die rechten Alpenblumen, die wir gerne behalten und mehren möchten, so es Gott gefällt.

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