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Pflanzenleben über 3000 Meter

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Erwin Steinmann, Chur

« Eine stille Welt voll Erhabenheit und Grösse, eine letzte ruhige Insel, auf der allein nocfi dem Menschen die alte grosse Natur, wie sie seit Uranfängen her bestanden, unentweiht gegenübertritt » nannte der Davoser Arzt W. Schibier um die Jahrhundertwende die Schneeregion unserer Alpen. Manches hat sich seither verändert. Einzig die Sehnsucht nach Einfachheit, Grösse und Unberührtheit wird heute in vielen Alpinisten noch stärker sein. Wer sich von der Geschäftigkeit des Tieflandes lösen kann und die gepriesene Einsamkeit zu finden vermag, ist sich nicht immer bewusst, dass er auch in diesen Höhen von vielen unscheinbaren Geschöpfen umgeben ist. Stumme, anspruchslose Kreaturen führen hier, an der Grenze der Existenzfähigkeit, ein hartes Leben. Von ihnen soll im Folgenden die Rede sein.

Schon den ersten Naturforschern, die unsere Berge bestiegen haben, sind die Pionierpflanzen aufgefallen. Oswald Heer, der berühmte Botanikprofessor von Zürich, hatte eine besondere Neigung zum Studium der hochalpinen Flora und Fauna. Noch unmittelbar vor seinem Tode ( 1883 ) schrieb er eine zusammenfassende Arbeit über die nivale Flora der Schweiz. Auf Anregung von Wilhelm Schibier begann sich der Bündner Josias Braun-Blanquet von der Jahrhundertwende an mit der Gebirgsvegetation zu beschäftigen. Seine Leistungen sind unerreicht geblieben. Braun-Blanquet hat in den rätischen Alpen viele grundlegende Entdeckungen gemacht. Die gute Kenntnis der östlichen Schweizer Alpen ist einer der Gründe, warum sich unsere Ausführungen oft auf diesen Teil der Alpen beziehen werden.

I. Harte Lebensbedingungen Die meisten Gebiete über 3000 Meter liegen in den Alpen oberhalb der sogenannten klimatischen Schneegrenze. Auf einem flachen Boden-stück würde hier in einem normalen Jahr der Schnee nicht mehr wegschmelzen. Wir befinden uns über dieser theoretischen Grenzlinie in der Schneestufe oder Nivalstufe, also im obersten der Vegetationsstockwerke, die man seit Albrecht von Haller in unseren Bergen zu unterscheiden pflegt. Auch die Pflanzen in dieser Schneestufe brauchen Licht, Wasser, Wärme, bestimmte Nährstoffe und Zeit zum Lösen ihrer Lebensaufgaben. Wie steht es mit diesen Standortsfaktoren über 3000 Meter?

Das Licht, die Triebkraft aller Lebewesen, ist zur Genüge vorhanden. Die direkte Einstrahlung erreicht in dieser Höhe ein Maximum. Dort, wo die Sonnenstrahlen aber nicht hingelangen, verschlechtern sich die Bedingungen sprunghaft. Selbst die anspruchslosesten Geschöpfe meiden Nordhänge.

An Wasser, dem unentbehrlichen Lösungsmittel für alle Lebensvorgänge, ist in der Regel kein Mangel, obschon mehr als vier Fünftel der Niederschläge als Schnee fallen. In nieder- schlagsfreien Zeiten sorgt Schmelzwasser für die Durchfeuchtung des Bodens. Für eine Pflanze ist aber nicht nur der Wassergehalt des Bodens wichtig. Auch die Luftfeuchtigkeit spielt eine entscheidende Rolle. Die grossen Schwankungen des Wassergehaltes der Luft sind dem Alpinisten bekannt. Jeder hat die austrocknende Wirkung der hochalpinen Luft schon am eigenen Leib erfahren.

Wo wir in der Schneestufe Pflanzen finden, muss die eingestrahlte Wärme so gross sein, dass sie zum Aufbau der notwendigen Organe ausreicht. Mittelwerte von Messungen in einem oder zwei Metern über dem Boden sagen wenig aus. Hier zählt nur das Mikroklima. Für die Stoffproduktion ist die Blattemperatur ausschlaggebend. Bei Windstille kann sie die Lufttemperatur beträchtlich übersteigen. Auf dem Grat des Hohen Nebelkogels, wo sich seit 1966 eine bedeutende Forschungsstation der Universität Innsbruck befindet, hat man auf 3160 Meter Höhe in Gletscher-Hahnenfussblättern noch Temperaturen von 250 messen können. Bei der bekannten hohen Lichtstärke herrschen unter diesen Bedingungen optimale Verhältnisse zur Photosynthese.

In den Alpen stellt die Zeit, die den Pflanzen zum Wachstum zur Verfügung steht, den wichtigsten begrenzenden Standortsfaktor dar. Die Vegetationszeit nimmt mit zunehmender Höhe ab. Auf ebener Fläche wäre sie über 3000 Meter gleich Null. Durch die komplizierten Reliefver-hältnisse und die vielfältigen mikroklimatischen Bedingungen erhalten wir über der klimatischen Schneegrenze noch ein reiches Mosaik von verschieden mächtigen und verschieden rasch abschmelzenden Schneedecken. Manche nach Süden gerichtete Wandstufe oder Schutthalde kann schon ausgeapert sein, wenn der Schnee im Tal noch als dicker Isoliermantel die nach Entfaltung drängenden Pflanzen bedeckt. Über 3000 Meter ist aber die Dauer der Vegetationszeit stärkeren Schwankungen unterworfen als in tieferen Lagen. Zudem sind produk- tionshemmende Frosttage häufig. Wenn den Pflanzen etwa 60 bis 70 Tage für ihre wichtigen Arbeiten zur Verfügung stehen, dürfen wir in dieser Höhe schon von einem guten Jahr sprechen.

Wir müssen uns in der Schneestufe auch an den Wind erinnern. Hier ist er ein lebensfeindlicher Geselle. Er fördert nicht nur die übermässige Wasserverdunstung und verhindert im Winter die Bildung einer isolierenden Schnee-decke.Von ihm mitgetragene Schneekristalle und Gesteinstrümmer haben die Wirkung eines Sandstrahlgebläses. Nicht selten treffen wir daher auf Windecken und Graten Reste von Polstern und Horsten, die der abschleifenden Wirkung des Windes zum Opfer gefallen sind.

Aber nicht nur die Klimafaktoren erschweren das Leben im Hochgebirge. Gutentwickelte, humusreiche Böden fehlen. Die Wurzeln müssen sich mit Rohböden begnügen und stehen in unmittelbarem Kontakt mit dem Gestein. Dazu kommen Steinschlag und Rutschungen. Nur allzuoft gefährden sie, was in jahrelanger Arbeit erreicht wurde.

IL Anpassungsfähiges Leben Die Leistungsfähigkeit und der Erfindungs-reichtum der Lebewesen sind etwas vom Er-staunlichsten auf unserer Erde. Welch grosse Zahl von verschiedenartigen Räumen - der Wissenschaftler spricht von « Nischen » - vermögen Pflanzen und Tiere zu bewohnen! Die Schneestufe gehört zu den Nischen, in welchen das Leben die äussersten Grenzen seiner Leistungsfähigkeit erreicht. Hier herrschen Bedingungen, die ohne grosse Anpassung und extreme Spezialisierung keine Selbsterhaltung und Fortpflanzung zulassen.

Die lebensfeindlichen Standortsfaktoren haben wir kurz skizziert: Die Zeit zum Wachsen, Blühen und Fruchten beträgt knapp zwei bis drei Monate. Während dieser kurzen Vegetationszeit müssen oft recht tiefe Temperaturen ertragen werden. Grosse Lufttrockenheit kann gefährliche Wasserverluste verursachen. Hohe Windgeschwindigkeiten und bewegte Rohböden sind weitere Gefahren.

Kleine, niedrige, sich dem Boden anschmiegende Pflanzen können alle diese ungünstigen Standortsfaktoren am besten aushalten. Sie brauchen nicht nur wenig Stoffe zum Aufbau ihres Körpers; sie haben auch eine kleine Wasser verdunstende Oberfläche und bieten dem Wind keinen grossen Widerstand. Die anspruchslosesten Pflanzen sind daher gleichzeitig auch die kleinsten. Sie kleben - die Blaualgen ( 5 ) I, vom unbewaffneten Auge nur als « Tinten-striche » erkennbar - als dünne Schichten auf den Felsen. Dem Kletterer sind von diesen Kru-stenpflanzen besonders die Flechten ( q. ) wohlbekannt. Sie stellen eine Lebensgemeinschaft von Pilzen und einzelligen Algen dar. Bei feuchtem Wetter füllen sich ihre einfachen Körper mit Wasser, und die Felsen werden glitschig und gefährlich.

Eine gewisse Minimalgrösse bedeutet aber auch in dieser Höhe Sicherheit. Einjährige, schmächtige Einzelgänger wagen sich nur ausnahmsweise in die nivale Stufe. Da ein Zuwachs nach oben nicht möglich ist, versuchen viele Pflanzen, sich durch Ausläufer und Adventivwurzelbildung über die Unterlage auszudehnen. Vom lockeren Teppich ( rg, 22 ) bis zum Horst ( 14 ), wo Pflanze neben Pflanze eng nebeneinander stehen, gibt es viele Übergangs-stadien. Auch Einzelpflanzen können die Zahl der Triebe durch regelmässige Verzweigung ( 2, 3 ) jährlich vergrössern. Es gibt kaum eine andere Wuchsform, die für das harte Leben besser geeignet wäre als so entstandene halbkugelige Polster. Dutzende von Blattgenerationen, mit eingefangenem Flugstaub durchmischt, bilden in den Halbkugeln einen kleinen, saugfähigen, wasserspeichernden Privatboden. Eines ist allen diesen hochalpinen Wuchsformen gemeinsam:

1 Die Zahlen hinter den Pflanzennamen weisen auf die entsprechenden Abbildungen auf den Bildtafeln.

Sie besitzen kleine Blätter, die oft noch mit Haaren oder Wachsüberzügen gegen übermässigen Wasserverlust zusätzlich geschützt sind.

Alle Schutzeinrichtungen wären aber nutzlos, wenn die Zellen und die sich in ihnen abspielenden chemischen und physikalischen Reaktionen nicht den tiefen Temperaturen der hohen Standorte angepasst wären. Schon bei Temperaturen um oselbst unter einer dünnen Schneedecke — können Nivalpflanzen mit Koh-lendioxyd, Wasser und Licht körpereigene Stoffe aufbauen. Die durch diese Photosynthese entstandenen Zucker führen nicht nur zu intensiveren Blütenfarben und auffälligeren Blüten; hoher Zuckergehalt vergrössert auch die Frost-resistenz.

Zum Leben gehört aber nicht nur die Selbsterhaltung. Die Pflanzen über 3000 Meter haben auch die Aufgabe, sich fortzupflanzen und sich zu vermehren. Wie ihre Verwandten im Tiefland und in den Tälern bilden auch sie ihre Blütenknospen vorsorglich schon ein Jahr zum voraus. Kaum ist der Schnee geschmolzen, können sie daher ihre leuchtenden Blüten entfalten. Trotz allem Blütenüberfluss ist Fremdbestäubung nicht immer möglich. Selbstbestäubung hat dann die Samenbildung zu sichern. Gelingen die bewährten, aber komplizierten Ge-schlechtsvorgänge nicht, bleibt noch die ungeschlechtliche Fortpflanzung. Vermehrung durch Ausläufer und zusätzliche Wurzelbildun-gen sind in der Schneestufe wichtiger als im Tal. Unter günstigen Umständen können auch mehr als eine der erwähnten Methoden zum Erfolg führen. Aber es gibt auch Fehljahre.Viel wird es zwar nicht ausmachen, wenn einmal keine Fortpflanzung erfolgen kann. Die Natur ist zäh und geduldig. Die Vermehrung wird später sicher möglich werden.

III. Die Vielfalt Die Umwelt ist in der Schneestufe so lebensfeindlich, dass nur wenige Pflanzen unter den r. Die Rekordhalter Gletscher-Hahnenfuss ( 6 ) ( Ranunculus glacialis ) Alpen-Mannsschild ( 11 i ) ( Androsace alpina ) Flattnitzer Hungerblume ( 8 ) ( Draba fladnizensis ) Moosartiger Steinbrech ( to ) ( Saxifraga bryoides ) Alpen-Margerite ( 7 ) ( Chrysanthemum alpinum ) Kriechende Bergnelkenwurz ( g ) ( Sieversia reptans ) 2. Die Unscheinbaren Schlaffes Rispengras ( 12 ) ( Poalaxa ) Zwerg-Miere ( 15 ) ( Minuartia sedoides ) Ähriger Grannenhafer ( 13Trisetum spicatum ) Gletscher-Fingerkraut ( 17 ) ( Potentilla frìgida ) Krumm-Segge ( 14 ) ( Carex curvula ) Schmalkronblättriger Steinbrech ( 16 ) ( Saxifraga aphylla ) 3. Die Schönheiten Stengelloses Leimkraut ( 18 ) ( Silène acaulis ) Gegenblättriger Steinbrech ( 22 ) ( Saxifraga oppositifolia ) Polsterform des Bayrischen Enzians ( 20 ) ( Gentiana bavarica vor. subacaulis ) Langstieliges Hornkraut ( 19 ) ( Cerastium pedunculatum ) Himmelsherold ( 23 ) ( Eritrichium nanum ) Kerners Läusekraut ( 21 ) ( Pedicularis Kernen ) Schweizerischer Mannsschild ( 24 ) ( Androsace helvetica ) angegebenen Bedingungen leben und sich vermehren können. Felsen und Schutthalden über 3000 Meter sind keine üppigen Blumengärten. Wer sich hier niederlassen will, braucht Zähigkeit und Ausdauer. Hier ist kein Raum für überzüchtete, verwöhnte Gewächshausware! Freuen wir uns vielleicht darum so sehr, Wenn wir auf einem Felsband - inmitten von Schnee, Eis und Weite - auf Geschöpfe stossen, die nur aus helleuchtenden Blüten zu bestehen scheinen? Dank der scharfen Auswahl durch die Umwelt ist die Artenvielfalt in der Schneestufe nicht mehr verwirrend und unübersichtlich. Mit etwas Aufmerksamkeit und gutem Willen können wir die häufigen Blütenpflanzen leicht kennenlernen2. Der Zweck unserer Skizze wäre 2 Wir empfehlen das im SAC-Verlag herausgekommene schmucke Buch von Prof. Dr. E. Landolt und die andern am Schluss aufgeführten Werke, mit deren Hilfe wir uns in die Höchste Stand- Höhenrekorde orte in den in den rätischen Alpen Westalpen 3500 m 4270 m 3408 m 4200 m 3410 m 4150 m 3410 m 4000 m 3400 m 3900 m 3280 m 3800 m 3410 m 3900 m 3320 m 3825 m 3340 m 3800 m 3200 m 3698 m 3300 m 3300 m 3200 m 3500 m 3465 m 3400 m 3400 m 339om 3185 m mehr als erfüllt, wenn wir den einen oder andern zum Studium und zur Beobachtung der Pflanzen unserer höchsten Regionen anregen könnten. Der Leser darf aber keine Vollständigkeit erwarten. Die Natur ist schöpferisch und damit vielfältig. Diese Merkmale bleiben ihr auch in der nivalen Stufe. Schon allein in den Bündner Alpen steigen mehr als 200 Blütenpflanzen über 3000 Meter empor. Wir präsentieren hier eine kleine Auswahl von 19 Arten ( Tafeln II-IV ), die wir in drei Gruppen einteilen ( siehe Tabelle oben ).

Die Höhenangaben3 stammen aus einer vorzüglichen Arbeit von R. Reisigl und H. Pitschman. Sie haben dort die höchsten Standorte von 103 Blütenpflanzen zusammengestellt. Die Rekord-reiche Pflanzenwelt der alpinen und nivalen Stufe einarbeiten können.

3 Vegetation 1958.

höhen werden in der Regel von Pflanzen in den Westalpen erreicht. Massenerhebung und absolute Gipfelhöhen sind dort am grössten. Die Unterschiede zwischen den höchsten Standorten in den Bündner Alpen und denjenigen in den Ötztaler und Ortler Alpen sind nur unbedeutend.

Die Rekordkalter Tafel II zeigt uns sechs Arten, die eine Siegerehrung verdient haben. Wie es sich für Rekordhalter gebührt, sind drei davon recht populär. Welcher Bergfreund wirft nicht wenigstens einen flüchtigen Blick auf die dunkelgrünen Blätter, den behaarten Kelch und die grossen, weissen, im Alter rot sich verfärbenden Kronen des Gletscher-Hahnenfusses ( 6 ), wenn er ihm auf feuchten Schutthalden oder in Felsspalten begegnet? Man sieht ihm eigentlich seine Widerstandskraft nicht an. Der Schneeschutz im Winter und seine dauernd durchfeuchtete Unterlage erübrigen wohl spezielle Einrichtungen gegen übermässige Verdunstung.

Noch bekannter sollte die Kriechende Nelkenwurz ( gein Rosengewächs - sein. Aber wer denkt schon an die Schneestufe und ihre Pionierpflanzen, wenn einem eine Zehnernote durch die Finger gleitet? Der schöne Stich auf der Banknote kann ja nur die Form und nicht das leuchtende Gelb der grossen Blüten wiedergeben.

Auch die Alpen-Margerite ( 7 ) dürfen wir zu den Populären zählen. Ihr Blütenstand unterscheidet sich kaum von demjenigen ihrer sehr häufigen Verwandten im Tiefland.

Dagegen sind Mannsschilde, Steinbrecharten und Hungerblumen weniger bekannt: Das Aussehen des Alpen- oder Gletscher-Mannsschildes ( I I ) sei über alle Massen ergreifend, schrieb Hermann Christ, als er « das wahrhaft ätherische Rot » dieser echten Polsterpflanze im letzten Jahrhundert pries. Die Mannsschildarten sind mit den Primeln verwandt. Ihre fünf Kronblätter sind, im Gegensatz zu den Polster-Leimkräutern, zu einer Röhre verwachsen. Steinbrecharten sind über der Waldgrenze verbreitet. Den Moosarti-gen Steinbrech ( 1 o ) erkennt man am besten an den aus fein bewimperten schmalen Blättern bestehenden Rosettchen. Diese kugeligen Rosetten liegen, eng aneinander geschmiegt, auf vor-wärtskriechenden Ausläufern und können zu Hunderten grosse Polster bilden. Am wenigsten beachtet und am meisten übersehen werden die weiss blühenden Hungerblumen. Ihr niedriger Wuchs, ihre winzigen Blüten und die kleinen Blätter sind nicht nur unscheinbar, sondern sie beweisen uns auch die Anspruchslosigkeit dieser Kreuzblütler. Die Flattnitzer Hungerblume ( 8 ) erreicht im Wallis eine Höhe von 4150 Metern und vermag den Winter oft ohne Schneeschutz auf windexponierten Kuppen zu überdauern.

Die Unscheinbaren ( Tafel III ) Die Zahl der unauffälligen, unscheinbaren und wenig bekannten Pflanzenarten ist in der Schneestufe beträchtlich. Wer beachtet schon Gräser und Seggen! Das Schlaffe Rispengras ( 12 ) gehört zu diesen wichtigen Pionieren. Die Gar-tenliebhaber kennen seine lebenskräftige, einjährige Verwandte, das Spitzgras. So eintönig grün wie das Unkraut ist das schlaffe Rispengras allerdings nicht. Die violetten Ährchen seiner anliegenden Rispenäste sind recht hübsch. Noch dekorativer wirkt der Ährige Grannenhafer ( 13 ). Seine grossen, oft goldig überlaufenen Blütenstände sind auf hellen Dolomiten und Kalken eigentliche Blickfänger.

Die Krummsegge ( 14 ) spielt in den Gneis- und Granitmassiven der Alpen eine überragende Bedeutung. Die graugelblichen Farbtöne der Rasenhänge der alpinen Stufe werden immer durch die Krummsegge geprägt. Über 3000 Meter bildet sie nur noch selten eine zusammenhängende Vegetationsdecke. Kräftige Ein-zelhorste tasten sich an Südhängen noch bis 3300 Meter. In grösseren Höhen werden ihnen die Bedingungen zu hart.

Die drei folgenden Arten besitzen kleine, fünfsymmetrische Blüten. Ihre Signalwirkung TAFEL I i Typischer Blockgipfel in der Schneestufe am Ende des Sommers: Der 3410 m hohe Gipfel des Piz Linard. Neben Flechten und Blaualgen kämpfen hier noch folgende Arten um ihre Existenz: Hallers Schwingel, Schlaffes Rispengras, Einblütiges Hornkraut, Gletscher-Hahnenfuss, Flattnitzer-Hunger-blume, Moosartiger Steinbrech, Gegenblättriger Steinbrech, Gefurchter Steinbrech, Alpen-Manns-schild, Bayrischer Enzian und Alpen-Margerite.

2 und 3 Schweizerischer Mannsschild. Links: Halb-kugeliges Polster; rechts: « Schnitt » durch ein Polster, der die regelmässige Verzweigung und die schuppenförmig angeordneten alten Blätter zeigt.

4 Krustenflechten auf einem Hornblendegneis. Die rosettenförmigen dunklen Flechtenkörper gehören zu den Nabelflechten.

5 Blaualgen im Mikroskop. Ihre Zellen sind von einer schwach gefärbten Gallerthülle umschlossen.

Photos Erwin Steinmann, Chur ist aber gering. Man muss sich zu ihnen hinun-terneigen, wenn man ihre Eigenart erkennen will. Das Auffälligste an der Zwerg-Miere ( 1 s ) sind die ausgedehnten Polster. Von der Blüten-decke sind meistens nur die unscheinbaren Kelchblätter ausgebildet. Auch beim Schmal-blättrigen Steinbrech ( 16 ) ist der Kelch grösser als die blassgelben, schmalen Kronblätter. Als Kalkschuttpflanze kann sie die Rekordhöhen der kieselsteten Arten bei weitem nicht erreichen. Sie steigt in Graubünden am Piz Uertsch auf knapp 3200 Meter. Die Dritte im Bunde, das Frost- oder Gletscher-Fingerkraut ( 17 ), merken wir uns am leichtesten an den pelzig behaarten, dreiteiligen, also erdbeerartigen Blättern. Es gibt nur wenig Arten, denen man ihre Hochgebirgsnatur so gut ansieht wie dem Frost-Finger-kraut. Niedrig, klein und mit einem Haarschutz gegen Wasserverluste ist es mit kristallinen Rohböden zufrieden. Selbst windgefegte Kreten sind ihm nicht zu unwirtlich.

Die Schönheiten. ( Tafel IV ) Ist es nicht merkwürdig, dass uns in der Nivalstufe die Schönheit und Leuchtkraft der Blüten wie kaum irgendwo auffällt und tief beeindruckt? Hier wird fast die ganze Stoffreserve für die Fortpflanzung eingesetzt. Der vegetative Pflanzenteil ist unter dem bunten Blütenteppich oft kaum erkennbar. Die Farbintensität wird sicher nicht nur durch die hohe Lichtstärke verursacht. Viel Licht bedeutet ja auch rege Photosynthese und damit Zuckerüberfluss. Zucker ist aber zum Aufbau der Anthozyane, der Farbstoffe, die die Kronblätter rot und blau färben, notwendig. Reiche Anthozyanproduktion gibt daher stark gefärbte Blüten.

Leider können unsere Schwarzweissbilder die Pracht der Farben nicht wiedergeben, und wer könnte es wagen, die verschiedenartigen Rottöne des Stengellosen Leimkrautes ( 18 ), des Kerner-schen Läusekrautes ( 2 I ) und des Gegenblättrigen Steinbrechs ( 22 ) zu beschreiben? Es braucht auch einen strahlenden Tag, Einsamkeit und eine innere Bereitschaft für die Schönheiten der Natur, um das zarte Blau des Himmelsherolds ( 23 ) oder das satte Dunkelblau des Polster-bildenden Bayrischen Enzians ( 20 ) richtig zu geniessen. Auch Weiss - durch Lichtstreuung an winzigen Lufträumen zwischen den Zellen verursacht - kann sogar mit der Strahlungskraft von Schneefeldern wetteifern. So sind die Hornkräuter ( 19 ) wohl schon jedem Alpinisten aufgefallen. In ihrer formenreichen Gruppe gibt es Arten für kalkige und saure Gesteine. Weniger durch seine reinweissen Blüten als durch seine Standorte beeindruckt uns der Schweizerische Mannsschild ( 24 ). Einsam und verlassen strahlt er uns auf Kalk- und Dolomitgraten entgegen. Konkurrenz hat er hier oben sicher nicht zu fürchten.

Schönheit macht anspruchsvoll. Dürfen wir das auch von unsern schönsten Nivalpflanzen behaupten? Nein! Wir müssen uns nur an die vielen « Rekordhalter » erinnern, die sich ebenfalls durch prächtige Blüten auszeichnen. Nur eine Gesetzmässigkeit sei hier noch erwähnt: Wenn aus einer Pflanzenform zwei Arten entstanden sind, die sich für verschiedene Gesteinsunterlagen spezialisiert haben, vermag die kalkmeidende höher zu steigen. Solche einander vertretende oder vikariierende Arten sind oft nur schwer zu unterscheiden. Das Stengellose Leimkraut ( Silène acaulis18 ) auf Kalk und Dolomit ist dem Stiellosen Leimkraut ( Silène excapa ) sehr ähnlich. Gleiche Schwierigkeiten hat, wer die Unterschiede zwischen dem kalkliebenden Breitblättrigen Hornkraut und seinen kalkfliehenden Verwandten, dem Einblütigen und Langstieligen Hornkraut ( 19 ), erkennen will. Dass die Höhenrekorde von den Gneis- und Granitpflanzen gehalten werden, hängt mehr mit den Eigenschaften der Gesteinsunterlage als mit der Anspruchslosigkeit der Pflanzen zusammen. Die leichte Verwitterungsfähigkeit, die Unbeständigkeit und das schlechte Wasserspeichervermö-gen der Kalke ist auch für widerstandsfähige Pflanzen ungünstig. Kieselgewächse sind daher die Bevorzugten.

IV. Vergangenheit und Zukunft Unsere hochalpinen Pflanzen sind, wie alle andern Lebewesen, das Resultat einer Jahrmillionen dauernden Entwicklung. Es ist allerdings fraglich, ob es je gelingen wird, die Entwicklungswege und die Einwanderungsgeschichte aller Arten zu rekonstruieren. Wenn auch bekannt ist, dass die Vorfahren der Mannsschilde, Enziane und Läusekräuter in Asien lebten, und wenn man von den Leimkräutern Verwandte aus der Mittelmeerregion kennt, verlieren sich Entwicklungswege und Stammformen doch sehr rasch im Ungewissen der Tertiärzeit, der Zeitperiode vor den Eiszeiten. Am Ende des Tertiärs werden wahrscheinlich auch die wenigen Arten entstanden sein, die heute ausschliesslich in den Alpen vorkommen. Zu diesen sogenannten alpinen Arten gehören Mannsschild ( i i, 2, 3, 24 ), Himmelsherold ( 23 ), Bayrischer Enzian ( 20 ), Schmalkronblättriger Steinbrech ( 16 ) und Langstieliges Hornkraut ( 19 ).

Leider sind wir auch über die Alpenflora während der Eiszeiten nur schlecht unterrichtet. Eines aber ist sicher: Die Eiszeiten haben einen entscheidenden Einfluss auf die Verbreitung der Pflanzen und Tiere gehabt. Ohne Eiszeiten wäre die heutige Verbreitung von Glet-scher-Hahnenfuss ( 6 ), Flattnitzer Hungerblume ( 8 ), Stengellosem Leimkraut ( 18 ) und Gegenblättrigem Steinbrech ( 22 ) nicht verständlich. Diese sogenannten arktisch-alpinen Arten leben heute in zwei weit voneinander liegenden Arealen: in der nördlichen Polarzone und in der alpinen und nivalen Stufe der europäischen Gebirge. Während der Eiszeiten musste die grosse Lücke zwischen den heutigen Verbreitungsgebieten geschlossen sein. Sie bildete sich erst wieder im Laufe der Nacheiszeit, als die Eisränder der mächtigen Gletscher nach Norden und in unsere Alpentäler zurückwanderten. Damals kehrten auch die Auswanderer, die in einem Refugium ausserhalb der Eismassen auf bessere Klimaverhältnisse gewartet hatten, wieder in un- sere Berge zurück. Nur wenige Pflanzen konnten die Eiszeiten auf schnee- und eisfreien Felswänden und Gipfeln überdauern. Zu diesen Anspruchslosen mussten sicher die Arten gehören, von denen wir hier berichtet haben. Sie leben ja auch heute noch über Eisströmen und Firnfeldern, und ihre gegenwärtige Härte wird sie schon vor 30000 oder 40000 Jahren ausgezeichnet haben. Unsere Nivalpflanzen sind also keine jungen Einwanderer. Sie sind sehr alte und sesshafte Bewohner unserer Alpen.

Aber auch für diese ältesten Pflanzen unserer Berge geht die Entwicklung weiter. Obwohl unser Leben nur zu einer flüchtigen Momentaufnahme ausreicht, lassen sich nach mehr als hundert Jahren Beobachtungszeit Änderungen im Artbestand einiger Gipfel der Nivalstufe feststellen. Offenbar werden zur Zeit die Lebensbedingungen für die hochalpinen Pflanzen günstiger. Sie wandern aufwärts! Als berühmtes. Beispiel sei der Piz Linard im Unterengadin erwähnt ( i ). 1835 wurde er von Oswald Heer zum erstenmal bestiegen. Der Zürcher Professor fand damals auf dem Gipfel nur den Alpen-Manns-schild ( i i ). Braun-Blanquet und Campell haben hundert Jahre später am gleichen Ort elf Arten nachweisen können.

Wenn der Mensch den Gewächsen ihren Lebensraum über 3000 Meter nicht streitig macht - viele Polsterpflanzen stehen übrigens in den Listen der geschützten Pflanzen -, werden sie den Kampf um ihre Existenz an der äussersten Grenze des Möglichen weiterführen, zu unserer und hoffentlich auch der kommenden Generationen Erbauung und Freude.

Vorzüglich farbig illustrierte Nachschlagwerke, die sich auch für den Nichtfachmann eignen:

Favarger Claude: Alpenflora, 2 Bände, Verlag Kümmerly & Frey, Bern.

Frey Eduard: Flechten, Verlag Hallwag, Bern. Hegi Gustav und Merxmüller Hermann: Alpenflora, Verlag Hanser, München.

Landolt Elias: Unsere Alpenflora, Verlag Schweizer Alpen-Club.

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