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Picos de Europa

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Mit 4 Bildern ( 48-51 ) und 1 SkizzeVon Robert F. Streift ( Schwanden ) Am Anfang stand nicht Ziel und nicht Plan. Wir hatten gerade schweren Herzens auf eine sauber vorbereitete Dolomitenfahrt verzichten müssen -, und eine Woche später stellte sich heraus, dass es nicht nötig gewesen wäre. Ärgerlich, jetzt wieder auf die abgeblasene Fahrt zurückzukommen! Da kam die Aufforderung unserer spanischen Freunde, einer alten Einladung endlich Folge zu leisten, im rettenden Augenblick. Noch am selben Nachmittag wurde nach Zürich gefahren, und dank der Freundlichkeit des spanischen Generalkonsulates der Pass auch ausserhalb der Kanzleizeit visiert. Die Freunde erhielten postwendend Bericht, und wir bummelten los, mit gebändigtem Tempo, um nicht vor dem Brief in Barcelona einzutreffen.

Wir hatten ordentlich Gepäck geladen, zwei Zelte ( in der Voraussicht, dass wir nicht immer zu zweit bleiben würden ) und die Bergsachen. Über Montserrat hinaus dachten wir dabei freilich nicht.

Die Schweiz blieb im ungemütlichen Herbstregen zurück, nur der Lac d' Annecy war bei kühler Luft noch badewarm. Im untern Rhonetal wurde es sogar empfindlich kalt, trotzdem der Himmel ein fast schwärzliches Blau aufzog: Mistral pur sang! Gibt es einen er-regenderen, ungestümeren Wind als diesen Mistral, der einfach überall ist, auf den weiten Höhen wie in den unerwarteten Gründen der Provence und ihren gewinkelten Städten, wo ihn nicht einmal das steinerne Gebirge des Papstpalastes von Avignon zurückhält?

Wir fanden einen der schönsten Campingplätze Europas auf der Colline de Saint-Eutrope in Orange, unmittelbar über der Schale des Théâtre Romain: ein Ölhain, durch dessen Öffnungen der Süberdunst des Rhonelaufs noch in der Nacht hereinzieht. Das Zeltdach knatterte wie ein Banner im Sturm, und die glutrote Mondscheibe selbst schien vom Wind gebläht und getrieben. Badehalte am Meer und erhabene südfranzösische Kirchenburgen hielten uns einen weitern Tag auf. Und doch konnte nur Spanien von diesem Mistral erlösen.

In Barcelona warteten unsere Freunde mit einem grossartigen Empfang. Die spanische Gastfreundschaft ist echt und grenzenlos, wir sollten sie in den nächsten Wochen auf immer neue Art erleben und freuten uns dieses vollen Lebens.

Als das Zauberwort Picos de Europa zum erstenmal fiel, konnte ich mir nichts oder alles darunter vorstellen. Aus dem Geographieunterricht der Mittelschulzeit war ja die Ahnung kleben gebheben, dass es auf dem iberischen Subkontinent noch andere Bergketten gäbe als Pyrenäen und Sierra Nevada. Aber Lehrer oder Schüler hatten es damals an grösserer Aufmerksamkeit fehlen lassen. So liess ich mir jetzt erklären, wie es im uns interessierenden Fall etwas wie eine Verlängerung der Pyrenäen nach Westen hin gebe, die Cordillera Cantabrica, welche - bedeutend länger als die Pyrenäen - den nördlichen Wall der Halbinsel gegen den Ozean bilden würde. Die Picos sind nun die höchsten Erhebungen dieses kantabrischen Gebirges, über die näheren Zugänge erfuhr ich bloss, dass man nach Riano in der Provinz Leon fahren müsse, etwa 800 km weiter westlich. Aber dort würde man ja weitersehen.

Im Klubhaus des Centro Excursionista de Cataluna machte man uns mit andern spanischen Bergsteigern bekannt. Es ist kein Vereinslokal im schweizerischen Sinne, sondern eine grosszügige Ansammlung von Klubräumen der verschiedenen Gruppen, Skifahrer, Bergsteiger, Zeltler usw., mit einer reichen Bibliothek. Man fühlt sich fast in einem Museum in diesem spätgotischen Haus hinter der Kathedrale, in dessen Hof noch römische Tempel-säulen stehen. Die spanische Bergsteigerschaft ist zusammengefasst in der Federation Espanola de Montanismo. Das eigentliche Leben spielt sich aber in den vielen Klubs ab, die alle ihr eigenes Gesicht haben. Vorzüglich zwei Vereinigungen nehmen einen hohen Rang ein: das Centro Academico de Escalada des Centro Excursionista de Cataluna und die Real Sociedad de Alpinismo Penalara von Madrid mit ihrem Grupo de Alta Montana. In Barcelona, wie später auch in Madrid, nahm man uns mit grosser Herzlichkeit auf; man darf als ausländischer Gast auf jede Erleichterung durch die spanischen Kameraden gefasst sein. Wer aus der Sección de Montana schon in den Picos gewesen war, diente bereitwillig mit Auskünften. Schade, dass nur wenige dieses Vergnügen gehabt hatten und zudem jeder von einer andern Seite ins Gebiet eingedrungen war. Welche sollte da für uns die günstigste sein?

Leute von Penalara, welche als die Betreuerin der Picos gelten kann, haben eine Karte des Zentralmassives geschaffen. Auf der Heimreise über Madrid schenkte mir Don José Gonzalez Folliot, der Administrador der Federación Espanola de Montanismo eine solche, vorläufig leistete uns das in Barcelona geborgte Exemplar sehr gute Dienste. Im Maßstab 1: 22 000 aufgenommen, verzeichnet sie auch die Quellen, was in dem steinernen Labyrinth ungemein wertvoll wird. Vorläufig sahen wir das Problem darin, ohne zu grosse Umfah-rungen oder lange Märsche den Anschluss an die Karte zu finden.

Wer aus der Schweiz direkt in die Picos de Europa fahren will, überschreitet die Pyrenäen besser nicht, sondern reist quer durch Südfrankreich an den Golf von Vizcaya und passiert die spanische Grenze bei Inin. Anschliessend sind es nur noch 400 km der Nordküste entlang über San Sebastian-Bilbao-Santander bis Potes, einer reizvollen Sommerfrische im asturischen Bergland. Auch wir kamen an den Ausgangspunkt Potes zurück, aber auf viel längerem Weg. Es war ein Umweg, der durch die eigenwilligsten Gegenden des alten Spaniens führte und die von Ausländern befahrenen Routen nur an wenigen Punkten kreuzte.

Unser Freund José Piqué Mila, Präsident des Centro Academico de Escalada, konnte sich nicht freimachen, so fuhr aus Barcelona einzig seine Frau mit uns, eine gewandte und auch in den Alpen erfahrene Bergsteigerin. Ein weiterer Kamerad sollte am Abend in Burgos dazustossen, er befand sich in Kastilien auf Geschäftsreise und zwischenhinein auf der Jagd. Nachdem man im Klub verschiedene Hotels avisiert hatte, meldete er sich prompt aus Valladolid und sagte gern zu.

Wir nahmen den Weg über Lérida nach Zaragoza, der Stadt in der Steppe. 150 km vor der Stadt und nachher nochmals 150 km lang flieht das Land gleichsam den menschlichen Blick: die Horizonte verkriechen sich hinter geborstene Lehmwälle, und die Vegetation hat sich seit einem fernen Frühling fast ganz in sich selber zurückgezogen. Ob wir da überhaupt noch an Berge kommen, die unserer alpinistischen Vorstellung entsprechen? Bei Zaragoza verlassen wir die Madrider Strasse. Es geht das breite Ebrotal hinauf, auf dem südlichen, sanft ansteigenden Ufer, welches einen freundlicheren Eindruck macht als der Lössabbruch der gegenüberliegenden Hochebene. Endlose Felder mit Rioja-Weinstöcken in der Talsenke, die Strasse eine Allee von Sophora- und Akazienbäumen - bis Aragonien hinter uns liegt und wir ins grosse stolze Herz des geschichtlichen und geographischen Spanien kommen. Castilla la Vieja. Die Einöde der langen Strassen ist vergessen, hier ist grossartige Einsamkeit. Unermesslichkeit des Raumes, ein völliger Verzicht auf Detail und Genre: wo ein'Individuelles - Gegenstand oder Lebewesen - in die Landschaft tritt, wird es sogleich einmalig und allgemeingültig. Der knorrige Stamm, der, zwar selten, dann aber so buchstäblich wie nirgendwoanders in den Himmel hineinwächst, ist einfach zum Gat- tungsbegriff Baum geworden, bei dem die Unterscheidung in Arten nicht mehr wichtig ist. Der Schaf hirte, der, ganz in Felle gekleidet, im Horizonte steht, steht als der Mensch ohnegleichen in dieser Schöpfung, während die gewellten Rücken seiner Herde sich längst mit den Falten des Weidelandes vereinigt haben. Nur der hochbeinige, nervöse Hüterhund weckt Assoziationen, allerdings zu Tieren, wie sie sich auf den Bildern des Pradomuseums zusammen mit Königen zeigen. Alle zwei Fahrtstunden zieht eine kleine Stadt am Wagen vorbei, um eine graue Kathedrale und eine sehr saubere Plaza Mayor versammelt, dann ist wiederum nichts als die Ferne mit einigen hineingeträumten Dörfern.

Wir haben längst wieder die Strasse mit einer nochmals kleineren vertauscht. Sie führt über eine Anhöhe, durch einen wunderbaren Eichenwald mit weiten Ausblicken aus sternbesäten Lichtungen in den glühenden Abendhimmel hinein, einen Himmel, dessen goldene Hintergründe tiefer liegen als die Strasse, die sich jetzt zur Hauptstadt von Altkastilien hinabwendet: Burgos. Die dicken Mauern seines Kathedralwunders und der gotischen Paläste, die Balkone, hier wie aufgehängte gläserne Gewächskästen durch alle Stockwerke der Häuser gehend, reden deutlich von kühlen Herbstnächten. Unser Kamerad steht am Morgen vor dem Hotel, als ich den Wagen aus der Garage bringe.

Hinter Burgos ist wieder die Hochebene da, nur dass plötzlich nicht mehr die aufgebrochene Ackererde rotviolett leuchtete, sondern ein Meer mannshohen Heidekrautes. Und viel später tauchte auf einmal Land aus diesem Meer: ein blaues Gebirge in der silbern glänzenden Luft. Es dauerte noch eine Stunde, und die kahle Kulisse wird zum Hindernis, das die Strasse nehmen muss. Auf der Passhöhe überraschte uns der szenische Wechsel, wie er nur auf der spanischen Bühne möglich ist: auf der Nordseite der nackten Felsscheide nimmt die Strasse einen Sprung in einen Strudel verfilzter Waldschluchten, in deren Tiefe geheimnisvolle Ginster und Würzstauden leuchten. Das Maquisgehölz weicht Eiben und Kieferbeständen, mit scharfen Bergzügen kehrt dahinter ein alpineres Europa wieder. Die Strasse führt bergab ins Hochtal des Rio Esla, der die Provinz Leon nach Süden entwässert und sich kurz vor der portugiesischen Grenze mit dem Duero vereinigt. Hinter dem alten Brückenbogen erblicken wir Riano: eine Handvoll Häuser im Strahlenkreuz von vier Bergstrassen; die keineswegs alte Kirche ist immer noch nicht frei von maurischen Stilelementen, obschon gerade von diesen Tälern vor tausend Jahren die Befreiung des christlichen Spaniens von der Araberherrschaft ausgegangen war. Aber was sind hier tausend Jahre! Die Ackergeräte haben sich seit der römischen Zeit nicht verändert, man ist dem hölzernen Pflug treu geblieben wie weitherum in Spanien, und die Benzinsäule selbst in Riano steht nur für ausserordentliche Fälle wie den unsrigen.

Das Essen im kleinen Gasthof war ausgezeichnet, nur der Laden hat den Rucksäcken etwas viel zugemutet, wir haben plötzlich Verständnis für die spanischen Esel. Den Segel-tuchkanister, der sonst die Kühlwasserreserve für den Motor fasst, brauchen wir auch zu Fuss. Dass die Spanier das Wasser einfach auf die Strasse giessen, verstehe ich nicht ohne Aufklärung. « Für Wasser genügen die Feldflaschen komplett. » Aha, mir beginnt zu dämmern... Und der Wein ging dann auch eher aus als das Wasser -, selbst in dieser Beziehung betreibt man hier Bergsteigen in der ursprünglichen Form.

Oberhalb Riano liegt nochmals ein kleiner Ort, Portüla de la Reina, aber königlich ist nur der Name. Immerhin zwingt er uns zur Entscheidung, ob wir die östliche oder westliche Zufahrt zu den Picos nehmen wollen. Vorläufig trennt uns davon die Barrikade des Coriscao ( 2227 m ), der zur Hauptkette des kantabrischen Gebirges gehört, welche die Wasserscheide zwischen der schroffen ozeanischen Nordküste und dem nach Süden abgeplatteten spanischen Hochland bildet. Die Picos de Europa sind genau genommen ein gegen den Ozean vorgetriebenes Zweiggebirge der Cordillera Cantabrica, das freilich die höheren Erhebungen trägt als der durchlaufende Kamm.

Der Gebirgsstock der Picos hat eine Mächtigkeit von ungefähr 50 km und ist in der Luftlinie kaum 20 km vom Meer entfernt. So ist auch die Bezeichnung « Spitzen Europas » zu verstehen: als ungeheuer plötzlich aufsteigender Mauerkranz, in den Formen ganz an die Dolomitenzacken Südtirols erinnernd, tritt hier dem Seefahrer zum erstenmal Picos de Europa entgegen.

Tief eingefressene Wasserläufe unterteilen das Gebirge in drei Gruppen: das weniger bedeutende Ostmassiv zwischen Rio Deva und Rio Duje, das bergsteigerisch weitaus wichtigste Zentralmassiv in der Umklammerung von Rio Duje und Rio Cares, welche sich an seinem Nordfuss vereinigen, und das ausgedehnte Westmassiv zwischen Rio Cares und Rio Sella. Die Schlucht des Caresflusses, eine der kühnsten überhaupt, weitet sich im obern Teil in einen Fächer von urwaldigen Tälern. West- und Zentralmassiv sind Parque Nacional, in der tieferen Waldregion hausen Wölfe, Bären, Luchse und Wildschweine. In die Lichtungen dieser Eichenwälder sind einige winzige Dörfer eingestreut, die man auf Passpfaden von der Leon-Seite her erreicht. Beim obersten Dörfchen, Santa Marina de Valdeon, erging es mir wie Moses mit dem gelobten Land; mehr als ein sehnsüchtiger Blick von oben war uns nicht beschieden. Wir hatten in Portiila die westliche Strasse gewählt, die, seit vielen Jahren im Bau begriffen, über den Pass Plan de Trave ins Carestal führen soll. Von Santa Marina aus gibt es einen verhältnismässig kurzen Weg auf eine kleine Schutzhütte am Collado Jermoso nahe der Gruppe des Llambrion ( 2640 m ). Voriges Jahr war ein Bekannter aus dem Klub von Barcelona mit dem Motorrad bis ins Dorf gefahren, er meinte, dass wir heuer auch im Auto durchkämen. Es war ein gespannter Augenblick oben auf dem Pass, als dieses Idealdörfchen aus der Tiefe winkte. Mit Herzklopfen lenkte ich den Wagen um die Biegungen der ausgehauenen Schneise, die irgendeinmal Strasse sein wird und von der wir heute nichts anderes verlangten, als dass sie wenigstens Schneise bleiben möchte. Aber die Beschwörung versagte schmählich: über ein Tobel, genau halbwegs zwischen Pass und Dorf, fehlte die Brücke, und die schönste Fortsetzung der Piste auf der Überseite nützte nichts. Wir glotzten den Berg hinauf, der ebenso traumhaft wie das Dorf unter uns aus dem Nebel trat. Pfui Teufel - es war keine Kleinigkeit, den Wagen hier zu wenden...

Also nach Portiila de la Reina kam man heute zum zweitenmal, um nunmehr der östlichen Strasse zu folgen. Der Tag, den wir schlau einzusparen gehofft hatten, ging drauf. Der Pass hinüber ins Devatal ist sehr lang, und tief der Abstieg der Strasse in die dunkelnden Täler hinunter. Kastanien und Weinberge und Abendwind vom Ozean her. Es war das einfachste, in Potes zu bleiben, diesem ausnehmend hübschen Ort mit arkadenreichem Marktplatz, herb-gotischem Infantinnenschloss und einem komfortablen Hotel. « Hostal Picos de Europa », also, wenigstens auf diese Art eine Nacht in den Picos!

Man fragte etwas herum und fuhr am Morgen mit nützlichen Informationen versorgt die 20 km das Devatal hinein nach Espinama. Unterkunft hätten wir hier kaum gefunden, trotzdem ist es ein prächtiges Dorf, stolz und fast feierlich wie alles Echt-Spanische. Jedes Haus hat sein Wappenschild, aus grauem Stein gemeisselt oder als ovale Tafel von rotem Feuerton in den sauberen Verputz eingesetzt. Ein Lied auf die Ferne der spanischen Dörfer! Noch spüre ich den Herdrauch jenes nebligen Abends, da ich mit dem braven Juan durch die Dorfgasse abstieg, mitten in der heimwärtsdrängenden Herde, in der die schwarzen Schafe die hellen überwogen. Ich hatte Trakl im einen Ohr, im andern Homer. Und Juan sprach ein reines Kastilianisch, der « Sherpa » aus Espinama, der mit Schnürsohlenpantoffeln ging und uns den schwersten Rucksack trug.

PICOS DE EUROPA Westmassiv Oslmassiv Es gibt auch einen erstklassigen Kletterer unter den Einheimischen, den « Penalara»-Führer Alfonso Martinez aus dem asturischen Dörfchen Camermefia am Nordrand des Gebirges; er ist Aufseher des Nationalparkes, beherrscht die moderne Felstechnik und hat fünf verschiedene Wege auf den Naranjo de Bulnes erschlossen.

Beim nächsten Besuch in den Picos werde ich am alten Biwakplatz ein festes Zeltlager erstellen und von dort aus die einzelnen Berggruppen aufsuchen. Es gibt zwar zwei Hütten im Zentralmassiv, die primitive Unterkunft am Westrand, welche wir eben über jenes Santa Marina erreichen wollten, und die zweite, ungleich prächtigere, auf dem Plateau von Aliva, zwei Stunden oberhalb Espinama. Hier verblüfft wieder plötzlich die Gegensätzlichkeit Spaniens: ein Küchenchef mit weisser Mütze verwöhnt die Gäste dieses Hauses, das dem Patrionato Nacional de Turismo gehört, in gutem altspanischem Kolonialstil möbliert und sogar mit warmen Duschen versehen ist. Für ganz Bequeme bestünde fast die Möglichkeit, sich in einem Jeep die Steilrampe hinauffahren zu lassen, die zu einer kleinen Bleimine unterhalb der Hütte führt, wenn man hier einen Jeep auftreiben könnte. Unser Wagen rettete durch sein Unvermögen den Leistungsausweis seiner Besatzung. Nach einem fruchtlosen Versuch durfte er umkehren und in Espinama auf unsere Rückkehr warten. Eine kleine Autoremise gibt es auch bei diesem spanischen Dorf. Der Luxus steht da genau so überraschend in der Gegend wie auf dem Hüttenweg ein hoher steinerner Torbogen, welcher den Anfang des Wildschutzgebietes symbolisiert. Um beides aber, das feudale Refugio und das Portal in der wilden Landschaft, dehnt sich die grosse, gänzlich unberührte Natur. Im Innern des Gebirges fühlt man sich ganz noch in der goldenen Frühzeit des Alpinismus. Obschon die wichtigsten Spitzen bestiegen sind, warten viele andere Aufgaben erst auf Erfüllung.

An den östlichsten Hauptgipfel, die Pena Vieja ( 2606 ), führt noch ein deutlicher Weg, gerade so weit, bis man einen Einblick in die Verschlossenheit dieser Berge erhält und gleichzeitig mit Erstaunen inne wird, dass das riesige blaue Schild dahinter nicht Himmel, sondern Ozean ist. Auffallend wirkt die Gruppierung der nackten schimmernden Felszacken um eine Fülle eingekesselter GeröllkraterHoyos ). Es dürfte gegen zehn Gipfel von über 2600 m Höhe, ferner um zwei Dutzend herum zwischen 2500 m und 2600 m geben. Manche Ketten sind eher schwach eingesägt und wirken wie ein geschlossener Mauerring. Daneben gibt es Solitärgestalten von grossartiger Distanziertheit, etwa der klettertechnisch interessanteste Gipfel der Picos de Europa: der Pico de Uriello ( 2519 m ), auch Naranjo de Bulnes genannt. Dieser Monolith aus eisenhartem Magnesiumkalk ist in den Schluchtausschnitt der nördlichen Talgabelung getreten und trutzt mit über 500 m hohen, völlig senkrechten Wänden.

Wir erreichten seinen Westfuss von Aliva her nach einem Marsch über vier Pässe. In den Kesseln verdeckt Firnschnee die Trümmerwüste bis weit in den Herbst hinein, denn diese Berge sind ausserordentlich niederschlagsreich, wie wir selber erfahren haben. Es war allerdings schon Oktober, und da beginnt meist der erste Winterschnee zu fallen, der später in Espinama, 800 m über Meer, zwei Meter hoch liegen wird. Gut, dass durch den « Sherpa » Juan unsere Rucksäcke etwas modifiziert wurden. Vorläufig haben wir noch den Steig unter den Fussen, der um immer neue Ecken in eine fremde Welt hineinleitet. Wir nehmen einige absolut standesgemässe Felsnadeln hart am Weg zur Kenntnis ( es gäbe also auch in Hütten-reichweite passende Beschäftigung ), notieren ein emailblaues Seelein für den Rückweg und schwitzen unerfrischt weiter. Die Wegspur macht noch einige verzweifelte Anstrengungen durch einen Schuttkegel hinauf auf die Grathöhe. Collado de la Canalone, der Name sagt nichts Neues. Aber der Standort! Herrgott, ist das ein Blick über blendende Berge und Schatten von Tälern, in die man nie finden wird. Und das Meer ist wieder da, wo man sonst den Himmel sucht, ungeheuer blau und hochgewölbt. Zur nächsten Linken sticht eine schmale scharfe Nadel in die Luft, Aguja Bustamante getauft und als wackerer 5. Grad offiziell klassiert. Jetzt ist die Wildnis unser Weg, über ein, zwei, drei Gratkämme, durch sehr weite, sehr tiefe Geröllkrater. Plötzlich rennt Juan davon, nach einer halben Stunde sehen wir ihn den Sack auf einer kleinen Anhöhe deponieren, hinter der noch ein Auf- und Abstieg wartet. Er kehrt um, erklärt, für die Nacht ins Refugio zurück zu wollen. Wenigstens verspricht er morgen wieder zur Stelle zu sein. Es bleibt nichts, als seinen Rucksack zwischen uns aufzuteilen. Ob der Einheimische ahnt, was für eine Nacht bevorsteht, und deshalb vor dem Biwak ausreisst? Oder ist es ein Aberglauben, der ihn lieber noch stundenlang im Finstern herumsuchen lässt, als in der Nachbarschaft eines so ungeheuren Berges zu schlafen? Denn auch am folgenden Abend, den wir am Fuss des Naranjo verbringen, wird es ihn noch in der Dunkelheit nach Bulnes, einem Weiler auf der Nordseite des Gebirges, und seinen Heuschobern ziehen.

Wir kamen dann doch vor Einbruch der Nacht in den Talboden unter der Nordwestwand des Uriello. Ein erdrückender Berg. So war in unserer Kinderbibel der Sinai abgebildet, oder wenigstens halb so hoch. Der Berg der Gesetzgebung wurde irgendwo einmal von Wolken eingehüllt, aber diese steinerne Unerbittlichkeit nahm den Blick einfach nach oben mit. Ein Wunder, dass er nicht Blitze und Donner schleuderte... hm, dieses Wunder dauerte kaum in den ersten Schlaf hinein.

Gegen den Wind des klarscharfen Gebirgsabends schichteten wir noch ein Mäuerchen um den Rasenfleck, der schon verschiedenen Vorgängern als Lager gedient hatte.Von einer Höhle hatte man uns auch erzählt, die Besichtigung beim letzten Tagschein hatte aber den Verzicht auf diesen bessern Kaminhut leicht gemacht. Die Nacht unter dem Sternenhimmel verwandelte sich in die feuchteste meines Lebens. Wann der ozeanische Regen uns überfiel, habe ich nicht wahrgenommen. Er drang auf dem Weg über die verschiedenen « Imper-meables » und die bedeutend porösem Daunenhüllen ein, tränkte das Unterbewusstsein und weckte mich erst unter Wasser. Mit vollkommenem Gleichmut haben wir uns der Sturzflut überlassen. Schlimm war erst das Aufstehen, als jede Bewegung eine neue Anpassung an noch nicht « assimilierte » Nässe verlangte.

Im Lauf des Vormittags hörte der Regen auf, nicht aber der Nebel. Auf unsern Berg sind wir schliesslich auch gekommen, wir erlebten nach Tastversuchen um die Nord- und Ostwand herum in der Südwand sogar etwas Sonne.

Die Bedeutung des Naranjo wurde schon früh erkannt: 1904 bestiegen ihn zwei Spanier erstmals über die Nordostwand, zwei Jahre später folgte der Geologe Gustav Schulze vom Akademischen Alpenverein München auf demselben Weg und stieg erstmals direkt durch die Südwand ab. 1933 machte Alfonso Martinez seinen eigenen Nordaufstieg. Die Schwierigkeiten der Normalroute sind 4. Grades spanischer Klassifikation, was etwas unter der Weizenbachskala liegen dürfte. Nach der neuen italienischen Bewertung müsste man einen Abzug von ungefähr % Grad anbringen, so dass der Südaufstieg am Naranjo als oberer 3. Grad etwas über den Normal weg auf die Kleine Zinne einzureihen wäre. Die Qualität des eisenharten Felsens ist erstklassig, und die übrigen Steilwände bieten extreme Möglichkeiten. Von Ausländern fand ich im Gipfelbuch den italienischen Akademiker Carlo Negri eingetragen.

Leider versagte uns das neblige Wetter die ersehnten Ein- und Ausblicke. Wir seilten ab, suchten auf der Einstiegsschulter die etwas individuell zurückgelassenen Habseligkeiten zusammen und kamen mit der Dämmerung ins Lager zurück. Juan war dagewesen und hatte für eine Stunde die triefenden Daunenschlafsäcke gelüftet.

Gegen Regen würden wir diese Nacht etwas besser geschützt sein. Schade, dass man diesen überhängenden Stein gestern abend nicht hatte sehen können; er bildete ein richtiges Vordach mit bloss zwei tropfenden Stellen. Es klarte vollends auf, die Luft wurde schneidend kalt und die steifen Schlafsäcke erst gegen Morgen durch die abgehende Körperwärme etwas trockener. Dumpf toste die atlantische Brandung in tiefen Klüften, und immer wieder gab mir der verdorbene Magen eine Gelegenheit, die ich gar nicht suchte: wohl zwanzigmal musste ich aus dem Schlafsack kriechen und einen erbärmlichen Gang tun.

Der Morgen kam. Und mit ihm ein sehr, sehr bedächtiger Rückmarsch über die oberen Hoyos und die verschiedenen Pässe. Der verübelte Schlaf der letzten Nacht brach in häufigen Stundenhalten durch, ich verzichtete gern auf den kurzen Abstecher zur Pefia Vieja. Die Damen blieben über den Sonntag bei den Fleischtöpfen des Refugios von Âliva, zusammen mit dem spanischen Kamerad stieg ich nach Espinama ab. Er musste anderntags fast 80 km weit auf die nächste Bahnstation gebracht werden, seine Zeit war um. So fuhren wir diesen Samstagabend noch nach Potes hinaus, mussten einmal anhalten, weil sich ein geblendeter Uhu auf den Kühler verirrt hatte. Am Montag wollte ich wieder in Âliva sein und dann zur kleinen Hütte am Collado Jermoso dislozieren. Auch diesmal hat es nicht sein sollen. Bis Aliva kam ich zwar bei greulichem Regen. Aber nur um die Kameradinnen zu holen. Um das Refugio lag schon Schnee, der Jasmin an der Hausmauer unten in Espinama würde seinen Duft auch nicht mehr lange verströmen dürfen. Wir haben dann zusammengepackt und uns auf einen langen Heimweg gemacht. Mit dem festen Entschluss wiederzukehren.

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