Skitage im Vereina
Mit 4 Bildern.
Von Hans Bracher.
Das Vereina, bloss nach der Karte beurteilt, sieht als Skigebiet nicht besonders einladend aus. Ich hatte beim gelegentlichen Kartenstudium den Eindruck von steilen engen Tälern, felsigen Hängen und im Winter schwer zugänglichen Gipfeln erhalten, und es wäre mir nie eingefallen, einen Abstecher in diesen abgelegenen Landstrich Graubündens zu machen, hätte uns damals nicht ein Zufall dorthin geführt. Und diesem guten Zufall verdanken wir ein paar herrliche Skitage, wie wir sie auf mannigfachen Fahrten selten erlebt haben.
Eines Mittags im April langten wir zu zweit in Klosters mit gewichtigen Rucksäcken an. Unser Ziel war die Silvretta, wir wollten hinüber ins österreichische, weite Ziele hatten wir uns gesteckt und längst gehegte Pläne sollten endlich zur Ausführung gelangen. An der Alp Novai und den tief verschneiten Hütten von Spärra vorbei erreichten wir hinten im Kessel die Alp Sardasca, wo wir Rast machten. Wir schauten hinauf nach dem Silvrettaeck, der ganze Aufstieg zur Silvrettahütte lag vor uns, wir wussten, dass uns jetzt ein mühsames Stück Arbeit bevorstand. Wer den Winteraufstieg zur Silvrettahütte kennt, der weiss, dass das Silvrettaeck an Steilheit nichts zu wünschen übrig lässt. Links vom Eck zieht ein wildes Tobel hinauf. Wir wählten, einer alten Skispur folgend, zum Aufstieg das mit Lawinenschnee gefüllte Tobel, eine Route, die selbstverständlich nur bei sichersten Schneeverhältnissen eingeschlagen werden darf. Wir kamen trotz einigen sehr steilen Stellen gut voran und standen am frühen Abend bei dem kleinen Hüttlein der Alp Silvretta. Es lagen noch ungeheure Schneemassen und die Hütte war auf drei Seiten vollständig zugedeckt. In gleichmässigem Schritt schoben wir dann die Ski das Galltürtäli hinauf und näherten uns schon dem letzten steilen zum Gratrücken hinaufführenden Hang. Der Himmel war wechselnd bewölkt, das Wetter schien uns zu keinen ernstlichen Bedenken Anlass zu geben, vor uns lag eine gute Spur von zwei Skifahrern, die eine halbe Stunde Vorsprung hatten, und wir glaubten bestimmt, in einer guten Stunde in der Hütte zu sein. Plötzlich und fast ganz überraschend steckten wir in dichtem Nebel; in dem fahlen Dämmerlichte des Abends war er über die weissen Hänge unbemerkt herangestrichen. Wir stiegen weiter, aber es war uns nicht mehr ganz geheuer und fast erschraken wir, als auf einmal zwei Gestalten über uns auftauchten. Beim Näherkommen erkannten wir die beiden Skifahrer, die wir längst in der Hütte wähnten. Sie hatten im Nebel die Richtung verloren. Gemeinsam suchten wir uns mit der Karte und Kompass zurechtzufinden. Da begann es zu schneien, erst nur leicht, dann aber immer stärker, und ein kalter scharfer Wind erhob sich. Es war uns klar, dass jetzt rasch gehandelt werden musste. Wir waren bald entschlossen, es gab nur noch einen Ausweg, den möglichst raschen Abstieg, denn die Hütte in diesem Wetter zu finden, war fast aussichtslos.
SKITAGE IM VEREINA.
Dieser Abstieg wird wohl allen zeitlebens in düsterer Erinnerung bleiben. Anfangs weist uns noch die Aufstiegsspur den Weg, bald aber bricht die Nacht herein, der Schneefall hält mit unverminderter Heftigkeit an, und die Spur verliert sich rasch. Jede Orientierung wird unmöglich, wir wissen nicht mehr genau, wo wir uns befinden. Langsam und vorsichtig tasten wir abwärts, die Richtung nach dem Gefühl bestimmend. Wenn wir das kleine Hüttlein auf der Silvrettaalp erreichen könnten! Da wären wir geborgen, aber das müsste schon ein besonderer Glücksfall sein. Allmählich lassen die Kräfte und die Energie nach, die schweren Säcke und die vielen Stürze ermüden, mit Schaudern denken wir an die drohende Gefahr einer eisigen Nacht in einem Schneeloch. Da plötzlich stösst der Vordermann auf schwache Spuren, und bald erkennen wir, dass wir uns in dem zum Aufstieg benützten Tobel befinden. Als wir nachts 11 Uhr die Hütte von Sardasca betreten, erscheint sie uns wie ein Palast, und dankbar nehmen wir mit dem primitiven Heulager vorlieb, schlüpfen in die Schlafsäcke, decken uns tief mit Heu zu und haben dann das wohlige Gefühl tiefer Geborgenheit.
Am nächsten Morgen fuhren wir bei bedecktem Himmel talaus, die Silvretta lockte uns nicht mehr. Auf Novai ratschlagten wir lange, bis wir uns schliesslich zu einem Abstecher nach Vereina entschlossen. Ohne besondere Lust und Freude stiegen wir über viele alte Lawinenzüge das düstere, grau verhangene Vereinatal hinauf, bis wir unversehens wieder mitten im schönsten Schneesturm steckten. Als wir um eine Ecke bogen, sahen wir die deutlichen Umrisse eines Hauses und glaubten unser Ziel schon erreicht zu haben; zu unserer grossen Enttäuschung war es beim Näherkommen bloss ein kleines Hüttchen. Der Sturm wehte uns den Schnee waagrecht ins Gesicht, vom Weiterweg sahen wir fast nichts, und das wenige war wenig einladend. Sollte uns das elende Wetter heute nochmals zurückschlagen? Das wäre denn doch eine etwas zu schmähliche Abfuhr gewesen. Wir rafften uns auf und erreichten im Laufe des Nachmittags das Vereinahaus, 1950 m. Die Hausbesitzerin besah kritisch die beiden über und über mit Schnee bedeckten Gestalten und fragte, woher wir kämen. Wir waren ziemlich wortkarg und gaben unbestimmte Auskunft. Mutter Antonietti mag im ersten Moment von den sonderbaren Gästen keinen besonders guten Eindruck erhalten haben, doch wir zeigten uns, als wir einmal gestärkt und ausgeruht waren, von der bessern Seite; jedenfalls freundeten wir uns bald an, und Frau Antonietti hat während der Zeit, da wir bei ihr weilten, aufs beste für uns gesorgt.
Die nächsten zwei Tage unternahmen wir nicht viel. Es schneite oft und war neblig, die kurzen Aufhellungen benutzten wir zu einem Vorstoss ins Jörital, wo uns durch den Nebel hindurch ein kurzer, märchenhafter Blick auf das tief verschneite Flüela-Weisshorn beschieden war, oder stiegen — einmal konnten wir sogar Frau Antonietti dazu überreden — zu den Riedböden hinauf. Im übrigen pflegten wir in den guten Betten im gemütlichen Zimmerchen ausgiebig der Ruhe, abends sassen wir alle bei einem guten Tropfen Veltliner im heimeligen Bündnerstübli beieinander. Ausser uns war nur noch ein Gast da und ein bescheidener, sympathischer Skilehrer aus dem benachbarten Vorarlberg, der einige Ferientage hier verbrachte. Mutter SKITAGE IM VEREINA.
Antonietti erzählte allerlei Erlebtes aus ihrem Bergleben, wir fühlten uns wohl und zu Hause. Auch der alte Peter, sozusagen das Mädchen für alles, ein leidenschaftlicher Jäger, Spezialist für Fuchs- und Murmeltierjagd, trank allabendlich zufrieden und still seinen Schoppen. Er taute erst auf, wenn das Gespräch auf die Jagd kam und gab dann mit sichtbarer Befriedigung seine Jagderlebnisse zum besten. Seine Meisterin warf uns oft einen vielsagenden Blick zu, und dann wussten wir über das Jägerlatein des Alten Bescheid. Wahr aber ist, dass er vor nicht langer Zeit eine ganze Nacht in einer Hütte in bitterböser Kälte einem Fuchs auflauerte. Der Fuchs kam nicht zur Strecke, der Alte aber musste sich am Morgen mit blau gefrorenen Gliedern und Fieber zu Bett legen.
Bis jetzt hatten wir vom Vereinagebiet noch sozusagen nichts gesehen. Als wir aber am Donnerstagmorgen früh vor das Haus traten, da wölbte sich ein wolkenloser Himmel über uns und zum ersten Male zeigte sich das Vereina in seiner ganzen winterlichen Pracht. Wir standen und staunten, und jetzt dämmerte uns auf, es sei vielleicht doch keine schlechte Wendung, dass uns Zufall ins Vereina verschlagen habe.
Durch das Jörital hinauf ziehen wir in leichtem Pulverschnee die Spur, es ist ein müheloses Steigen. Kein Mensch weit und breit, die Hänge sind unberührt, und wir fühlen uns als die Herren des Reiches. Ein Steilhang leitet in Spitzkehren hinauf zum obern Boden, das Gelände hat stets neue Überraschungen bereit, abwechslungsreich führt unser Weg durch das enge Tälchen, durch Mulden und über Schneebuckel, zuletzt über einen Steilhang zu den tief verschneiten Jöriseen. Ein grossartiges Bild landschaftlicher Schönheit bietet sich hier dar: vor uns liegt in reinem Weiss der Jörigletscher, im Hintergrund steht die überzuckerte Pyramide des Flüela-Weisshorns, rückblickend schauen wir tief hinab ins Vereina und weit ins Land hinaus. Auf dem Jörigletscher wird der Pulverschnee tiefer und das Spuren mühsamer. Am Fusse des Nordostgrates lassen wir die Ski zurück und erreichen den Gipfel des Weisshorns, 3088 m, nicht ganz einfach über den vollständig verschneiten Grat.
Die Gipfelschau ist umfassend. Grialetsch, Kesch und andere bekannte Namen erinnern an frühere Fahrten, aber es hält uns nicht lange auf dem Berg, die Abfahrt lockt allzusehr. In stiebender Fahrt sausen wir im Schuss den Gletscher hinab, ziehen hie und da einen langen Bogen und bleiben dann aufatmend bei den Jöriseen stehen. Ein Steilhang führt hinab ins obere Jörital, und durch Mulden und über Bodenwellen geht die wilde Jagd im Schuss und Schwung in wundervoller, abwechslungsreicher Fahrt. Im Handumdrehen stehen wir beim untern Steilhang, hier stutzen wir doch einen Moment, aber dann lassen wir wieder schiessen, ein paar scharfe Bögen, dann setzen wir noch weit oben im Hang zur Schussfahrt an, der lange Auslauf bringt uns zu den letzten sanfteren Hängen im untern Jörital. Der Schnee bleibt bis zum Schluss einfach ideal.
Kurz nach Mittag betraten wir das Vereinahaus, ganz berauscht von der tollen Abfahrt. Am Nachmittag herrschte grosse Hitze; sie focht uns nicht an, unser Tagewerk war schon zu Ende; es war herrlich, den ganzen Nachmittag zu faulenzen, wir überdachten die Erlebnisse der heutigen Fahrt und schmiedeten Pläne für morgen.
Da war vor allem dasPischahorn, 2983 m. Mit ihm hatten wir noch eine kleine Rechnung zu begleichen, denn wir waren vor kurzem auf der Davoser Seite durch einen Wetterumschlag im Mattjestäli zurückgeschlagen worden. Aber heute entschädigte es uns reichlich für die damals erlittene Schlappe. Wieder herrschte schönstes Wetter, als wir frühmorgens auszogen. Bei den Hütten von Fremdvereina bogen wir scharf rechts ab gegen das Eisentäli, und allmählich steiler ansteigend gelangten wir zur ersten Steilstufe. Der Schnee war hart gefroren, und wir trugen die Ski zum untern Plateau hinauf. Über welliges, ideales Skigelände bummelten wir gemächlich, oft Umschau haltend, zum zweiten Steilhang. Hier sah nun die Sache schon ernster aus. Eine alte Lawine, weit oben am Hang unter den Felsen des Gorihorns losgerissen, mahnte zur Vorsicht. Aber heute war der Schnee gut ,'und in vielen Spitzkehren arbeiteten wir uns zum obern Boden hinauf. Ein schönes ebenes Plätzchen war wie geschaffen zum Verweilen, und an warmer Sonne gönnten wir uns eine längere Rast. Weit unten sahen wir unsere einsame Aufstiegsspur, und einmütig wurde die Meinung bekundet, dass der Aufstieg durch das Eisentäli eine recht steile Sache sei. Über das Eisentäligletscherchen, wie es auf der Karte bezeichnet wird, gelangten wir zu den zum Südgrat des Pischahorns hinaufleitenden Hängen. Die Schneeverhältnisse waren überall die denkbar besten, und sozusagen mühelos gewannen wir den Grat und verfolgten ihn bis kurz unter den höchsten Gipfel, wo mächtige Gwächten unserm Vordringen Halt geboten. Es war noch früh am Vormittag. Lange blieben wir an dem wunderschönen Punkte, blickten bald ins Vereina, bald ins Flüelatal hinab, genossen in vollen Zügen die wunderbare Stille und Einsamkeit und waren mit uns und der Welt zufrieden.
Und dann die Abfahrt! Nach dem gestrigen Tage glaubten wir kaum, dass noch eine Steigerung möglich wäre. Aber was uns das Pischahorn bot, das übertraf wirklich unsere nicht eben bescheidenen Erwartungen. Gerade im rechten Moment fahren wir los; der Schnee befindet sich in bester Verfassung, auf harter Unterlage liegt eine feine pulvrige Schicht. Auf dem erst schmalen Grat, der bald zum breiten Rücken wird, ziehen wir unsere Schwünge und jagen dann auf welligem Gelände um die Wette zum Gletscherchen hinab. Der Schnee wirbelt auf, es rauscht und zischt, Christianias in allen Ausführungen gelingen mühelos. Dann gleiten die Bretter in tiefern Pulverschnee, der Telemark kommt zu seinem Recht, und allzu schnell schon ist die obere Steilstufe erreicht. In führigem Sulzschnee ziehen wir langsam Bogen um Bogen, nützen dann das Gelände auf dem untern Boden nach Möglichkeit aus, um die prächtige Fahrt so recht auszukosten. Wir haben 's nicht eilig, wir lassen uns Zeit und Musse, es wäre jammerschade, hier verständnislos hinabzurasen. Als Abschluss schwingen wir in schwerem Schnee den untersten Steilhang hinab und treffen bald darauf, von Mutter Antonietti freundlich « mpfangen, im Vereinahaus ein.
Das Weisshorn ist der bekannteste Berg des Gebietes, das Pischahorn durch das Eisentäli zeichnet sich durch die flotteste Abfahrt aus, aber das Die Alpen — 1938 — Les Alpes.2 8SKITAGE IM VEREINA.
schönste Erlebnis bot uns der Rosstälispitz, 2933 m. Selten besucht, scheint er vom Vereina aus ganz unmöglich mit Ski erreichbar zu sein. Am nächsten Morgen standen wir schon frühzeitig im obern Jörital, schwenkten hier nach links ab in ein einsames, weltverlassenes Tälchen und sahen nun erst den im Winter einzig möglichen Zugang zum Rosstälispitz. Ganz einzigartig ist dieser Zugang; er führt zuerst über eine ansteigende Terrasse, dann gelangt man in ein bald sehr steil werdendes Hochtälchen, und nach Überschreitung eines Sattels erblickt man schliesslich den Gipfel. Vor dem letzten Hang steckten wir die Ski in den Schnee und erreichten das Gipfelsignal zu Fuss. Heranstreichende Nebel hüllten uns zeitweise ein, und der Weiterweg sah oft durch die Nebelschwaden hindurch recht abenteuerlich aus.
Lange verweilen wir auf dem eigenartigen Gipfel, wir sehen neue Berge und haben Musse, neue Fahrten zu studieren und Pläne zu entwerfen. Vor uns steht mit steilen Hängen der Piz Fless; das müsste eine kühne Fahrt sein. Weiter hinten über dem Vereinapass lockt der Piz Saglains. Ein langer Weg führt auf seinen Gipfel, aber die Mühe wird sich lohnen. Dazwischen erhebt sich die stolze Pyramide des Piz Linard.
Die Abfahrt vom Rosstälispitz ist reizvoll. Schönstes Skigelände liegt vor uns, und die gut gewachsten Bretter gleiten auf den stark geneigten Hängen so schnell, dass wir sie oft kaum zu meistern vermögen.
Ein letzter Ferientag stand noch zur Verfügung. Das Wetter ist immer noch prachtvoll, der Tag musste ausgenutzt werden; was konnte ich mir Besseres wünschen, als nochmals den mir besonders lieb gewordenen Rosstälispitz aufzusuchen. Es war Sonntag, und früh schon stand ich ganz allein auf dem Gipfel. In den Bergen gibt es Stunden — jeder Bergsteiger wird sie schon erlebt haben —, die einem zum tiefen innern Erlebnis werden, Stunden, in denen man sich auf sich selbst besinnt, wo man gleichsam Zwiesprache hält mit den Bergen, wo man erkannt, was sie im Leben eines Menschen bedeuten können. Eine solche reiche Gipfelstunde war mir an jenem Sonntag beschieden.
Kein Laut stört die einsame weite Stille.Vom Süden her ziehen schwarze Föhnwolken heran, Nebel streichen um Grate und Gipfel, nur im Norden strahlt der Himmel noch in klarstem Blau. Es wird Zeit zur Abfahrt. Drüben
t Jörigletscher tauchen kleine Pünktchen auf, es sind Davoser Skifahrer, vom Flüela her über das Weisshorn kommen. Im Vereinahaus herrscht Hochbetrieb. Frau Antonietti bemüht sich um ihre Gäste und ist über den erwünschten Besuch sehr erfreut. Wir aber, ungewohnt des lärmigen Betriebes, packen unsere Sachen zusammen, nehmen Abschied und fahren zu Tal. Am Wegweiser auf Novai bleiben wir stehen und schauen dankbar zu ihm auf. Wer weiss, ob wir vor acht Tagen nicht vorbeigefahren wären, wenn er nicht da gestanden und uns ins Vereina gewiesen hätte! Am Bach kurz vor Klosters schnallen wir die Ski ab und lassen uns mitten in den Krokussen zu einer letzten Rast nieder. Der Himmel bedeckt sich langsam mit Wolken, der Föhn ist eingebrochen. Er wird den Schnee wegfegen und dem Frühling auch in den Bergen zum Durchbruch verhelfen.