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Stefano, wir kommen morgen!

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VON ADAM SKOCZYLAS

Mit 2 Bildern ( 143-144 ) Im Spätsommer 1957 befand sich der Autor dieses Berichtes mit einer Gruppe von polnischen Landsleuten im Camping von Grindelwald, als zwei Kletterpartien in die gefürchtete Eigernordwand eingestiegen waren. Er und seine Freunde wurden zur Teilnahme an der Rettungsaktion herbeigezogen, welche versuchte, den vier in Not geratenen Bergsteigern zu helfen. Drei Jahre später nahmen Skoczylas und sein Kamerad Hajdukiewicz an der von Max Eiselin geleiteten schweizerischen Expedition 1960 in den Himalaya teil, welcher die Besteigung des Dhaulagiri gelang.

In den Tagen vom 9. bis 13. September 1957 ist eine der grössten Rettungsaktionen in den Annalen des Alpinismus durchgeführt worden. Mehrere von uns, die daran teilgenommen, haben seither andere Abenteuer an anderen Bergen, in anderen Teilen der Welt erlebt; aber das vom Eiger wird uns für immer das eindrücklichste bleiben.

Es war Nacht; eine abscheuliche Wolkendecke lag über Grindelwald. Der Nebel schied feine, nach frischem Heu duftende Tröpfchen aus, die man auf das Zelttuch fallen hörte. Dieses ein-förmig-melancholische Geräusch verlieh den heiteren Erinnerungen der vergangenen Woche einen eigenen Reiz und liess sie für mich zum besonderen Erlebnis werden. Ich empfand mehr und mehr den Zauber dieser wenigen Tage, mehr, als ich damals empfunden hatte, als ich unter einer stechenden Sonne über die Gletscher des Berner Oberlandes stapfte: Jungfrau, Rottalhorn, Grünhorn, Aletschhorn.

Ein paar Tage später, auf dem Rückweg von einem vergeblichen Versuch am Gross Fiescherhorn -er musste wegen des schlechten Wetters aufgeben - kehrte Skoczylas im kleinen Gasthaus am Fusse des Unteren Grindelwaldgletschers ein. Neben ihm paffte ein Führer aus der Westschweiz eifrig an seiner Pfeife.

« Entschuldigen Sie, Monsieur, sind die von der Eigernordwand zurückgekehrt? » « Nein. » Stille.

Nur die Pfeife wirft hin und wieder ihren Schein in die Dämmerung. Sie haben also nicht aufgegeben. Sie werden auch diese Nacht in der Wand verbringen, hoch oben, wo der Regen zu eisigen Flocken gefriert. Für die einen ist es die fünfte Nacht, für die andern die sechste...

« Pardon, Monsieur, wissen Sie, wer sie sind? » « Ja, zwei Italiener und zwei Deutsche. » Zwei Italiener und zwei Deutsche. Dort oben sitzen sie, von Haken gehalten, unter ständiger Lawinengefahr. Wenn diese losbrechen, stürzen sie wie Wildbäche durch jedes Couloir. Stündlich, halbstündlich. So war es 1935, als Sedlmayer und Mehringer als erste versuchten, die jungfräuliche Wand zu bewältigen. Nach vier Tagen schwieriger Kletterei kauerten auch sie, von Haken gehalten, hoch oben in der Wand, wo sie von harmlosen Schneeflocken langsam zugedeckt wurden. Ihre Körper wurden dann von einer Lawine bis zum Fuss des Berges binabgefegt, in die duftenden Wiesen von Alpiglen. Das gleiche geschah im folgenden Jahr mit Hinterstoisser, Kurz, Angerer und Reiner. Sie hatten noch die Willenskraft, den Abstieg zu versuchen, aber es war hoffnungslos. Sie hatten beim « Götterquergang » kein Seil zurückgelassen. Hinterstoisser wurde von einem Schneerutsch mitgerissen; die andern starben an Erschöpfung. Ein Jahr später waren Vörg und Rebitsch bis zum letzten Biwak Sedlmayers gelangt, als das Wetter umschlug. Wieder begannen die feinen, aber Verderben bringenden Schneekristalle alles zu verhüllen. Sie brauchten fast drei Tage für den Rückzug. Als sie endlich wieder in Alpiglen waren, konnten sie sich wenigstens sagen, dass sie als erste lebend zurückgekommen seien.

« Sagen Sie, wie war doch der Name jenes anderen Italieners vom Jahre 1938? Menti und... » « Ja, ja, Menti und Sandri. Sie kamen in der Eigernordwand in einer Lawine um. » Ja, auch sie gingen zugrunde. Aber ein paar Wochen später wurde die Wand von Heckmayr, Vörg, Kasparek und Harrer durchstiegen. Es waren diesmal nicht schwermütig leise Flocken, die vom unheilverkündenden Himmel fielen, sondern feindlich wirbelnde, tödliche Massen. Aber selbst unter diesen Bedingungen war es für die Kletterer leichter, bis zum Gipfel vorzudringen, als den gefahrvollen Rückweg zu versuchen. Der Führer stopfte mit knorrigem Finger seine Pfeife. Der Regen hatte aufgehört. Unsere Wege trennten sich. Es war spät, als wir im Camping ankamen, wo uns Max Eiselin und Detlef Hecker, ein Schweizer und ein Deutscher, erwarteten, die im Frühjahr in den Himalaya fahren wollten. Kaum hatten wir Zeit, uns die Hand zu drücken, als der Rest ihrer Schar, von einem Bankett der Sektion Interlaken her kommend, erschien. Sofort kam das Gespräch auf die Eigernord-wand.i »'i « Es ist eine Tragödie um die, die in der Wand sind », sagte einer. « Sie kommen kaum vorwärts. Wir sahen sie gestern. Sie biwakieren auf der Höhe des « Götterquergangs », genauer gesagt, darüber. » « .Über dem Quergang? » erwiderte ich verblüfft. Detlef erklärte:

« Sie kennen die Route nicht. Sie sind zweimal an der Stelle vorbeigegangen und sind in eine Sackgasse geraten. Sie kehrten das erstemal um, haben aber die Stelle wieder verpasst. Sie sind verloren, vom Pech verfolgt. » « Was sagt man dazu in Grindelwald? » « Nichts; ein schlechtes Zeichen. » « Hat man beim Bankett davon gesprochen? » « Ja, wir haben Reist selbst gefragt über die Möglichkeit einer Rettungsaktion. » « Reist, der vom Everest? » « Ja. Weisst Du, was er gesagt hat? Eine Rettungsaktion an der Eigernordwand? Komme nicht in Frage. » Der Himmel hatte aufgehellt. Der Mond wanderte schläfrig über dem Männlichen dem Himmel entlang. Wir legten uns schlafen. Ich war so müde, dass ich einschlief, während ich den Reissverschluss meines Schlafsackes zuzog.

« Was ist? » Rubinowski und ich sprangen auf und stiessen mit dem Kopf gegen das Zeltdach, das vom Regen des Vortags und vom Morgentau noch nass war. Im Camping hatte jeder, der einen Feldstecher besass, denselben auf die frisch verschneite Eigerwand gerichtet. Mein Bruder kam auf uns zu:

« Es steht schlecht. Einer von ihnen ist gestürzt und hängt etwa 20 Meter unter den andern im Seil. » « Wo? » « Über dem „ Götterquergang ", dort auf jenem grossen Eissims. » Jemand reichte mir einen Feldstecher, und ich suchte. Da, drei kleine schwarze Punkte. Den vierten konnte man nicht sehen; er war vom dunklen Felsgrund unter dem Eisband nicht zu unterscheiden. Man konnte nur den feinen Faden des Seils feststellen. Langsam vereinigten sich die drei Punkte zu einem grösseren. Anscheinend versuchten sie, den vierten Gefährten zu sich heraufzuziehen.

Zum Teufel! Ich traute meinen Augen nicht. Einer der drei Punkte hatte sich von den andern gelöst und rückte langsam, immer wieder stillstehend, vor. Dann machte sich ein zweiter auf den Weg, fast nach jedem Schritt anhaltend. Der dritte folgte. Hinter ihnen hing das Seil, jetzt deutlich mit einem Mann am Ende. Sie verlassen ihn!

« Gott im Himmel », murmelte Eiselin mit heiserer Stimme. « Die Kerle müssen doch erschöpft sein. Sie werden den Gipfel nie erreichen. » Unsere ganze Gruppe war auf den Beinen. Eine Rettungsaktion? Ja, und unverzüglich. Aber Hajdukiewicz goss eine kalte Dusche über unseren Eifer:

« Womit? Mit diesen Seilen? Sie sind recht zum Sichern. Aber wie wollt ihr sie vom Gipfel aus erreichen? Dort oben brauchte es mindestens 300 Meter Stahlkabel, eine Winde, ein Telephon-Radio und anderes mehr. » Hajdukiewicz hatte recht. Wir konnten nichts für sie tun, so wenige wir waren und ohne die neuen Rettungsgeräte. Man müsste den Chef der Rettungsstation Grindelwald aufsuchen. Vielleicht or- ganisierten sie, so wie die Sache jetzt stand, doch eine Rettungsaktion, und wir wollten ihnen unsere Hilfe anbieten.

Hajdukiewicz, Berbeka und mein Bruder sollten mit ihnen unterhandeln. Prof. Knipers, ein Holländer im Camping, fuhr sie mit seinem Wagen hin. Zwei Stunden später waren sie zurück. Ich sah dem Gesicht meines Bruders an, dass es schief gegangen war.

« Und? » « Oh, der Obmann der Rettungsstation war sehr herzlich. » « Aber die Rettung. Werden sie etwas unternehmen? » « Nein, die Wand sei zu gefährlich für einen Rettungsversuch, und aus diesem Grunde sei es den Führern untersagt, an einer solchen Aktion teilzunehmen. Leider könne er nichts tun in dieser Sache. Er bedaure... » « Wir haben versucht, ihn umzustimmen », fuhr Hajdukiewicz fort, « sie sitzen senkrecht unter dem Gipfel in der Wand fest. Man könnte sie von oben mit dem Seil erreichen, was relativ ungefährlich wäre. » « Und das Ergebnis? » « Keines. » « Ich weiss », sagte er, « aber Sie müssen verstehen. Die Vorschriften... !» « Wir verstanden zwar nicht; aber das spielte keine Rolle. Für alle Fälle stellten wir ihm unsere ganze Gruppe zur Verfügung. Er dankte uns und sagte noch, als wir weggingen, dass Führer und Bergsteiger von der Sektion Blümlisalp mit der Bergbahn von Wengen nach Jungfraujoch unterwegs seien, um über das Eigerjoch den Eigergipfel zu erreichen. Es scheint sich um eine starke Mannschaft zu handeln. » Die Stunden erschienen uns endlos. Wir hatten unsere Matratzen aus den Zelten genommen und lagen hingestreckt, den Blick unverwandt auf den Gipfelgrat des Eigers gerichtet. Die Augen schmerzten uns vom unverwandten Starren durch den Feldstecher, der von Hand zu Hand ging. Es wurde Mittag, ein Uhr, zwei Uhr; aber der Gipfel blieb leer. Aus irgendeinem Grund waren die Leute aus Wengen nicht hingelangt.

Ein kleines Flugzeug flog über unsere Köpfe. Den Wind im Rücken, stach es direkt auf die Eigerwand zu, als ob der Pilot Selbstmord begehen wollte. Aber gerade, bevor er den Berg berührte, drehte er ab und flog der Wand entlang. Es war Hermann Geiger, der bekannte Gletscherpilot. Er flog mehrmals hin und her, und zwei Stunden später erfuhren wir, dass der von seinen Kameraden verlassene Bergsteiger noch am Leben sei. Geiger hatte seine verzweifelten Zeichen wahrgenommen. Die drei andern waren 200 m über ihm und etwa 100 m weiter rechts steckengeblieben, offensichtlich zu erschöpft zum Weiterklettern.

Von Interlaken her rollten Nebelschwaden das Tal herauf und streckten ihre Fühler nach der Eigerwand aus. Ein kalter Rieselregen begann zu fallen. Der Besitzer des Campingplatzes kam in unser grosses Küchenzelt, wo wir eben Kaffee tranken. Er berichtete, dass ein Teil der Mannschaft von der Sektion Blümlisalp bereits zum Jungfraujoch zurückgekehrt sei, ohne den Eigergipfel erreicht zu haben. Lawinengefahr. Mir schien, er sehe uns an, als ob er etwas von uns erwarte. Dann hob er die Plache am Eingang und verliess das Zelt. Die Nachricht kam uns nicht unerwartet, aber was diese bedeutete, liess uns nicht in Ruhe. Die Kolonne hatte den Eiger nicht erreicht: das würde das Schicksal der vier Bergsteiger in der Wand besiegeln.

Es wurde Nacht. Wir tranken Tasse um Tasse Kaffee. Knipers waren mit uns; wir sassen auf Kisten. Hinter den dichten Wimpern der jungen Mädchen blitzte es. Das explosive Temperament meines Bruders liess sich nicht mehr zurückhalten.

« Verdammt! » fluchte er und verschwand in sein Zelt.Auch ich lag im Zelt und zählte verzweifelt die Minuten...

« Adam! Steh auf! » Jemand schüttelte mich und traktierte meinen Rücken mit den Fäusten: Als ich die Augen öffnete, gewahrte ich, über mich gebeugt, Max Eiselin und - durch den offenen Zeltvorhang - die nackten Füsse Detlefs. Ich dachte, das sehe komisch aus, und Schloss wieder die Augen. Aber Max wurde unwillig und fuhr fort, mich zu rütteln:

« Auf! Gramminger aus München ist da mit seiner Bergwacht und der ganzen Ausrüstung. Ihr müsst alle mit ihm zum Eigergipfel. Er erwartet Euch auf der Station Eigergletscher. » Was wollte er eigentlich? Warum der EigerIch stand noch unter dem verzweifelten Eindruck des Vorabends, dass die Bergsteiger in der Wand endgültig verloren seien. Max wurde wütend. « So hör doch », brüllte er, « es handelt sich um die Rettung! » - Jetzt verstand ich. Rettung, endlich!

Auf einen Schlag wich die Spannung von mir. Von nun an war alles einfach. Das unerträgliche Warten auf « irgend etwas » war zu Ende. Jetzt war die Reihe an mir, die Rippenstösse an Rubinowski weiterzugeben.

Lange Morgenschatten lagen über dem nassen Gras. Hajdukiewicz's Frau bereitete das Morgenessen, während wir Seile, Steigeisen, Biwakmaterial, Konserven, Orangen und Schokolade in unsere Säcke stopften.

Eiselin legte die Lage dar: « Die Münchner Kameraden führen eine vollständige Rettungsausrüstung mit; aber es fehlt ihnen an Leuten. » Er machte eine Pause und fügte etwas verlegen hinzu: « Die Grindelwaldner wollen nichts unternehmen. Gramminger hat die Konsequenz gezogen und ist hergereist. Er zählt auf euch. » Max ist Schweizer. Wir wussten, wie ihm zu Mute sein musste, und beschwichtigten ihn, es sei alles in Ordnung. Er fuhr fort:

« Gramminger kennt die Deutschen in der Eigerwand. Es sind Günther Nothdurft und Franz Mayer. Ausgezeichnete Felskletterer, aber keine geübten Eisgänger. » Wir nickten zustimmend. Nicht vertraut mit dem Eis, nicht sicher über die Route, das war es.

Auch Knipers waren schon auf. Frau Knipers gab uns Tee. Der Professor räumte seinen Mercedes von allen Habseligkeiten seiner Frau und Töchter und belud ihn mit unseren Rucksäcken, um sie zur Station Grindelwald zu bringen. Er fuhr langsam, und wir folgten mit unsern Pickeln. Max Eiselin kam mit. Detlef, mit seinen Blasen an den nackten Füssen, hinkte eine Zeitlang neben uns her. Nothdurft und Mayer waren seine Landsleute. Zögernd blieb er zurück. Wir waren unser neun, acht Polen und ein Schweizer.

Die Zahnradbahn war voll besetzt. Aller Augen waren auf die Eigerwand gerichtet, die mächtigste und drohendste Wand in den Alpen.

Auf der Station Eigergletscher erwarteten uns zwölf Männer aus München. Wir drückten uns die Hände. Gramminger, von kleiner Gestalt, verschwand schier unter seinen Gefährten, die fast durchwegs sehr gross waren. Wer hätte in ihm den berühmtesten Bergrettungsmann Europas vermutet! Wir waren nun unser einundzwanzig und verfügten über das modernste Rettungsmaterial. Max unterrichtete uns über die letzten Nachrichten:

« Fritz von Allmen hat die Wand seit 5 Uhr 30 von der kleinen Scheidegg aus beobachtet. Der Mann im Seil lebt noch. Die andern befinden sich an der gleichen Stelle wie gestern. » Die Deutschen und Italiener waren nun seit mehr als einer Woche in der Wand. In ihrem erschöpften Zustand blieb ihnen nur noch, auf Hilfe zu warten. Aber sie wussten natürlich nicht, dass eine Rettungsexpedition unterwegs war. Es war ihnen bekannt, dass den Führern von Grindelwald eine solche Aktion untersagt war. Und sie waren so hoch in der mächtigen Wand, dass eine Verständigung von unten her nicht möglich war. Max fuhr fort:

« Von Allmen kann das Zelttuch der drei deutlich sehen. Sie sitzen dort und scheinen nicht weitergehen zu wollen. » Das war ermutigend für uns. Zu unsern Rucksäcken hatten wir nun die Stahlseilrollen und die demontierten Teilstücke einer Seilwinde zu tragen. Gebeugt unter unserer Last begannen wir langsam an der Südwestflanke des Eigers aufzusteigen - die leichteste Route des Berges. Sie ist 1200 m hoch und bietet kein Sims und keine Terrasse, die gross genug wäre, um unsere Säcke abzulegen und einen Augenblick auszuschnaufen. So stapften wir mühsam wie Automaten bergan und stützten uns gegenseitig, wenn ein Fuss versagen wollte. Wir bildeten eine lange Kolonne, und es war unvermeidlich, dass die vordersten Steine lösten, die rechts und links an den hinteren vorbeiflogen, bevor sie aufplatzten und zersprangen. Es vergingen Stunden.

Bevor wir den oberen, ganz vereisten Hang angingen, machten wir auf dem phantastisch gezackten Grat halt, von wo man die ganze Nordwand überblickt: ein erschreckender Felsabsturz aus schwärzlichem Kalk, mit schmutzigen Eisplatten gesprenkelt. Der Blick gleitet über die glatten Felsen und ihren Eispanzer ohne einen unterbrechenden Punkt, wo er ausruhen könnte, hinab bis auf die Matten von Alpiglen.

Wir suchten die Italiener und die Deutschen. Dort waren sie; auf unserer Höhe, und weniger als 400 m von uns entfernt sahen wir das flatternde rote Zelttuch ihres Biwaks: den unglücklichen Mann am Seil und die drei im Biwak! Wir riefen und winkten. Matte Stimmen antworteten und nahmen uns jede Lust, länger zu rasten.

Mit Steigeisen klommen wir mühsam am steilen Eishang empor, der zum Gipfel führt. Das Eis war mit einigen Zentimetern aufgeweichten Schnees bedeckt, welcher sich zwischen den Zacken der Steigeisen festsetzte. Wir hätten uns mit den Seilen sichern sollen, aber es hätte zuviel Zeit beansprucht. Viele von uns waren überhaupt nicht angeseilt. Endlos dehnte sich vor einem der Hang mit den langsam vordringenden Gestalten. Man musste nach ein paar Schritten immer wieder, ans Eis angelehnt, anhalten. Unter der doppelten Last schmerzten die verstauchten Knöchel fürchterlich.Die Deutschen atmeten immer schwerer, obwohl die Steilheit langsam abnahm. Sie hatten eine schlaflose Nacht hinter sich und waren nicht akklimatisiert.

« Porca Madonna! » Ich schaute nach hinten und sah den Münchner Weixler schwanken. Er schien nicht mehr weitergehen zu können. Sein Gesicht war verzerrt vor Wut über seine eigene Schwäche. Er machte einen taumelnden Schritt nach links, dann nach rechts und drohte zu stürzen. Aber er steckte den Pickel ins Eis und sank zusammen. Gramminger, der mit ihm angeseilt war, seufzte erleichtert auf. Bald erhob sich Weixler wieder und stieg weiter.

Ich schaute herum, woher der italienische Fluch gekommen sei. Das konnte der Mann sein: eine bärenhafte Gestalt mit blauer Daunenjacke. Darüber ein älteres, zerfurchtes Gesicht. Er hob den Finger zur Kappe:

« Saluto! » Ein junger Bergsteiger hinter ihm, mit einem Heim auf dem Kopf, machte die gleiche Geste: « Saluto !» .'Zwei Italiener. Riccardo Cassin, einer der grössten Bergsteiger, den es in den Alpen je gegeben hat, und Rigio Mauri. Sie waren von Courmayeur aufgebrochen, als sie von den Ereignissen hörten, und hatten uns eingeholt. Kannten sie die Italiener in der Wand?

« Ja, es sind Stefano Longhi und Claudio Corti. Beides ausgezeichnete Kletterer, aber wie die Deutschen unsicher im Eis. Der, welcher am Seil hängt, ist Longhi. » Wir wateten nun bis zu den Knien im Schnee. Das Gewicht auf unsern Rücken wurde unerträglich. Nach jeden paar Metern mussten wir uns setzen. Als wir endlich den Gipfelgrat erreichten, begann die Sonne im Westen zu sinken. Wir warfen unsere Säcke ab. Sie fielen wie Blei in den Schnee. Da sahen wir zu unserer Überraschung ein paar fremde Männer sich auf dem Grat bewegen.

« Lionel! Lionel! Voilà un tas d' hommes qui montent, une vingtaine peut-être... » Ein breitschultriger Mann schwang seinen Pickel und liess einen Redeschwall auf Französisch, vermischt mit Italienisch und Englisch, los... Lionel? War Lionel Terray da? Die vielsprachige Sturzflut wollte nicht aufhören. Dann endete der Mann mit einem « All right » und kehrte sich uns zu:

« Ich heisse Tom de Booy. Aus Holland, sapristi! » Wir mussten laut herauslachen. Dann nahmen wir ihn ans Seil und folgten vorsichtig dem scharfen Grat, der auf der Südseite mächtige, überhängende Wächten aufwies. De Booy ist ein bekannter Anden-Geologe, einer der unterhaltendsten Leute, die mir je begegnet sind.

Terray war also hier, der berühmte französische Kletterer, der Bezwinger der Makalu und des Fitz Roy. Auch die zweite Equipe der Sektion Blümlisalp hatte nicht aufgegeben.

Für heute war es zu spät für die eigentliche Rettungsaktion, aber es blieb Zeit, diese vorzubereiten. Einige von uns gruben Höhlen ins Eis fürs Biwak, andere halfen der Gruppe, die vor uns auf dem Gipfel war, eine breite Bresche aus der Wächte herauszubrechen. Dann wurde Seiler, der die Eigerwand schon « gemacht » hat, in die Wand hinabgelassen, um festzustellen, ob die Bresche am richtigen Platz sei als Ausgangspunkt für die Rettungsoperation. Es zeigte sich, dass wir etwa 100 m weiter östlich eine neue öffnen mussten. Diesmal waren wir genau über dem in der Wand blockierten Trio.

Mit der Dämmerung brach die Kälte herein. Wir zogen uns in die von behaglich schimmerndem Kerzenlicht erhellte Grotte zurück. In Daunenjacken gehüllt und mit Daunenfinken an den Füssen lagen wir zusammengepfercht nebeneinander. Die Wärme unseres Atems und des Butakochers liess das Eis über uns auftauen. Grosse Tropfen fielen auf unsere Kleider. Direkt unter unsren Höhlen fiel die Südwand ab. Ganz nah, wie es schien, hing ein mächtig grosser Mond am Himmel.

« Polen! Habt ihr einen überzähligen Daunenfinken? Lionel friert an die Füsse. » « Da. » Hajdukiewicz zog seinen aus und gab ihn Lionel. Dann wieder Stille bei silbernem Mondschein.

« Heh, Polen! Friedli hat von der Kleinen Scheidegg berichtet, die in der Wand seien noch am Leben. Geiger habe gesehen, wie sie sich unter der Zeltplache bewegten. » Wir mussten sie holen! Unsere Mannschaft war gross genug, und wir besassen das nötige Rettungsmaterial. Wenn nur das Wetter hielt. Ich fühlte mich mit all den Leuten verbunden, die ein warmes menschliches Gefühl für diese vom Unglück betroffenen Mitmenschen auf dem Gipfel dieses Berges zusammengeführt hatte: meinen hinkenden Bruder, den kleinen Rubinowski, Rogowski mit seinem Stirnhöhlenkatarrh und die andern. All die Leute, die mir gestern noch völlig fremd gewesen waren, standen mir nun nahe: der kleine, alte Gramminger mit seinen spöttischen Augen und seine Equipe, Friedli, dem wir die Führung der Rettungsaktion anvertrauten, Maé, Tom-sapristi, Terray, Riccardo und Rigio, der seinen Landsmann anbetet. Terray, den wir zuerst » für großsprecherisch hielten, war in Wahrheit ein prächtiger Kerl, hingebend und aufopfernd. Er ist glatzköpfig und behielt stets seine Mütze auf dem Kopf.

Es gelang mir, den Kopf auf dem gefrorenen Schuh eines Kameraden etwas bequemer zu legen und einzuschlafen, im Gefühl unter wahren Freunden zu sein.

Bald nach Mitternacht weckte uns die Kälte. Ein Biwak auf 3800 m ist immer beschwerlich. Wir bewegten die Glieder, rieben unsre eisigen Füsse. Der Himmel war von leichtem Nebel verschleiert, der Mond hatte einen grossen Hof. Das Wetter konnte schon um Mittag umschlagen und, beunruhigt, beginnen wir unser Aktionsprogramm zu besprechen. Sollten wir mit der Bergung Longhis oder mit den beiden Deutschen und Corti beginnen? Longhi, der schwer zu erreichen war, heraufzuholen, würde mindestens 10-12 Stunden in Anspruch nehmen, und wenn das Wetter wirklich umschlug, wäre es dann nicht mehr möglich, die drei andern zu retten. Sie blieben in der Wand, und wir wussten, was das bedeutete. Anderseits, wenn wir mit den dreien begannen, so wäre Longhi verloren. Aber es wäre nur einer...

Es war eine deprimierende Diskussion. Wenn es schlecht ausging, mussten wir, was wir auch taten, die einen oder den andern preisgeben, im ersten Fall drei Menschen, im zweiten war es der arme Stefano, dessen Tragödie wir zutiefst empfanden.

Wir würden mit den Deutschen und Corti beginnen.

Jäh wurden wir still. In den folgenden, langen Stunden beobachteten wir den grauen Himmel und sträubten uns, was offensichtlich war, zu glauben: das Wetter verschlechterte sich; ein Sturm war im Anzug.

Dämmerung. Wir krochen aus unsern Höhlen, hergenommen von der Kälte und vom Zusam-mengepferchtsein. Jeder erhielt eine Gamelle heissen Tee, und dann fixierten wir mit Pickeln die Seilwinde am Fels. Hellepart schnallte seinen Gürtel fest.

« Fertig? » « Fertig! » Gramminger befestigte ihn am Ende des Stahlseils. Einen Augenblick später war sein weisser Heim unter der Wächte verschwunden. Nur das Sende-Empfangsgerät schaukelte noch über dem Rand; dann verschwand auch dieses. Meter um Meter rollte das Stahlseil ab. Eine halbe Stunde verging, eine, zwei Stunden. Friedli, mit dem Hörer an den Ohren, stand wachsam auf dem Grat.

« Was? Du siehst niemanden? Du bist sicher zu weit rechts; versuche, nach links zu pendeln. » « Kleine Scheidegg! Kleine Scheidegg! Sagt Hellepart, wo er hinunter muss. Sehen Sie ihn? » Auf der Kleinen Scheidegg suchte Fritz von Allmen mit seinem scharfen Feldstecher die Wand ab. Auch er war mit einem Radio-Telephon ausgerüstet und konnte Hellepart Anweisungen geben.

Die Trommel der Winde drehte sich regelmässig. Alle 100 m war das Kabel mit einem Zeichen versehen. Zwei solche waren vorbei, das dritte würde bald kommen. Die Stunden schlichen dahin.Jetzt presste Friedli den Höhrer an den Kopf. Wir hielten den Atem an.

« Sie sind im Biwakzelt. Was? Nur ein Mann! Corti? Die Deutschen sind nicht dort? » Die Worte erschütterten uns. Die Deutschen waren nicht dort!

Gestern glaubten wir, alle retten zu können, in der Nacht: wenigstens drei, und nun... Wir fürchteten das Schlimmste. Friedli schrie ins Telephon:

« Frage Corti! Frag ihn, was mit den Deutschen passiert ist! » Aber Corti verstand nur seine Muttersprache und Hellepart nur deutsch. Wir konnten nichts erfahren bis Corti oben war. Wieder langes Warten. Irgendwo dort unten hing Hellepart an der Wand und hisste sich Corti auf den Rücken.

Endlich rief er ins Telephon:

« Hoch! » Und wir begannen die Kurbel der Winde zu drehen.

« Sapristi! Es geht schwer. » Die Maschine knarrte und blieb alle Augenblicke stecken. Offensichtlich waren der Druck und die Reibung des Kabels an Wächte und Felsen zu gross.

« Wenn es so weiter geht, werden wir nicht vor der Nacht fertig. » Gramminger entschloss sich, auf die Winde zu verzichten. Und nun zogen wir alle mit der ganzen Kraft unserer Schultern und Beine. Die Anstrengung liess uns vergessen, dass zu beiden Seiten des Grates, auf dem wir uns bewegten, furchtbare Abgründe drohten. Die Stunden vergingen; unsere Bewegungen wurden immer langsamer. Die Anstrengungen von gestern hatten unsere Kraft reduziert. War Hellepart wirklich nur 300 m abgestiegen? Es schien uns, als wäre er bis zum Fuss der Wand gelangt, sonst müsste er längst oben sein. Toms Gesicht war dunkelrot vor Anstrengung; seine zusammengepressten Lippen bildeten eine dünne, violette Linie.

« Schneller, schneller! Corti wird ohnmächtig! » Friedli liess den Empfänger los und half uns ziehen. Zehn Uhr, elf Uhr. Der Himmel war dunkel und grau. Über unsre Stirnen rann der Schweiss Immer wieder hob einer die Hand, um das brennende Nass aus den Augen zu wischen. Man hörte unsern raschen keuchenden Atem, empfand das Klopfen des Herzens.

« Achtung! Langsam! Sie sind fast oben. » - Endlich!

Helleparts Heim erschien über der Wächte. Dann fiel der Mann in den Schnee. Wir nahmen Corti von seinem Rücken. Dessen Gesicht war mit Blut beschmiert, ein verschmutztes, erschöpftes Antlitz. Auch mit unserer Unterstützung war er kaum imstande, das Biwak zu erreichen. Dann Schloss er die Augen; er wollte schlafen. Man zog die Schuhe von seinen halb erfrorenen Füssen, verband diese und gab ihm zu essen. Dann schlüpfte Cassin zu ihm ins Biwak. Wir wollten erfahren, was aus den beiden Deutschen geworden sei. Cassin übersetzte uns in kurzen Sätzen:

« Sie verliessen Longhi. Sie hatten nicht die Kraft, ihn hinaufzuziehen, Claudio ging mit den Deutschen weiter. Sie kletterten bis gestern. Er führte, stürzte am Abend, verletzte Kopf und Hände. Die drei biwakierten. Morgens 5 Uhr gingen die Deutschen. Liessen ihm die ganze Biwakausrüstung. Sagten, sie wollten zum Gipfel, Hilfe zu holen für ihn und Stefano Longhi. Sie waren auch erschöpft, hatten seit Tagen nichts zu essen. » Wir fassten etwas Hoffnung. Vielleicht lebten die Deutschen noch. Sie hatten den Gipfel nicht erreicht; aber sie könnten 100 oder 200 m darunter geblieben sein. Vielleicht waren sie eingeschlafen, wie Corti; das würde erklären, warum sie Hellepart nicht bemerkt hatte. Einer von uns musste nochmals hinunter.

« Aber Longhi? » Es war Mittag. Der Himmel war bleiern. Die ersten Schneeflocken fielen. Es war kalt, und ein durchdringender Wind blies. Wir dachten mit Besorgnis an den Abstieg über den Eishang der SW-Flanke, der nun mit Neuschnee bedeckt sein würde. Wir riskierten dort alle das Leben. Wir mussten hinabgelangen, bevor uns die Lawinen den Rückweg blockierten, spätestens in drei oder vier Stunden. Die Frist reichte nicht, um Stefano zu retten, diesen Ärmsten, der allen Glauben an die Menschen verloren haben musste! Man durfte nicht daran denken!

Lionel wurde nun umgurtet und schnallte das Sende-Abhörgerät auf den Rücken. Mit Helleparts Heim verschwand er hinter dem Wächtenrand. Die Trommel der Winde drehte sich, schnell, zu schnell - aber der Himmel über uns wartete nicht. 100 m, 200 m; dann hörten wir durchs Telephon Lionels Rufe:

« Deutsche! Günther! Franz! » Wir konnten seine Schuhe am Fels kratzen hören, während er sich von einer Rippe zur andern bewegte. Ein wüster grauer Nebel glitt über die Wand. Der Wind trieb ihn in alle Ritzen und nahm Terray jede Sicht.

« Deutsche! » - Plötzlich erreichte ihn von unten her eine schwache, ferne Stimme. Es war Longhi! Der Wind wurde stärker. Die Stimme verlor sich im Heulen der Böen. Später sagte uns Lionel, dass das Lärmen des Windes - indem es Stefanos Rufe übertönte - ihm selbst wohl das Leben gerettet habe. Er würde sonst etwas Unsinniges versucht haben.

Es begann richtig zu schneien. Die Batterie des Geräts begann abzunehmen; aber Friedli hörte Lionel noch sagen:«Zieht! Ich möchte hinauf. Die Deutschen sind nicht da. » Wir fassten das Kabel. Das Gewicht daran war gering, und es würde leider nicht grösser werden. Die Deutschen müssen heute morgen zwischen 5 Uhr und 5 Uhr 30 abgestürzt sein, während wir zum Eiger aufstiegen. Sie waren zu schwach, um den Gipfel zu erreichen. Darum sah von Allmen um 5 Uhr dreissig niemanden ausserhalb des Biwaks.

Trotz Handschuhen schnitt uns das Kabel in die Hände. Wir zogen mit aller Kraft, und um 3 Uhr nachmittags war Lionel wieder bei uns. Der Schnee fiel langsam in riesigen Flocken. Es war schwer zu glauben, dass hinter diesem friedlich wirkenden Schauplatz so viele Gefahren lauerten.

Und Longhi? Einige von uns konnten sich nicht damit abfinden, ihn in der Wand zu lassen. Friedli, mit seiner von einem Pickel verletzten Wade, wäre bereit gewesen, das Letzte zu wagen.

Aber es war zu spät. Der Donner rollte über dem Berner Oberland, und die Luft war elektrizitätsgeladen. Um die Pickel, Hämmer und Haken begann es zu funken und zu knistern. Die Stufen, die wir ins Eis geschlagen hatten, füllten sich mit Schnee. Auch Friedli sah ein, dass wir keine andere Wahl hatten als die Umkehr.

Dann ging alles rasch. Alle für den Abstieg nicht nötige Ausrüstung liessen wir auf dem Grat zurück: Seilwinde und Hunderte von Metern Stahlkabel. Wir holten Claudio aus der Höhle und luden ihn auf den Rücken von Lionel, welcher, von Seilen gesichert, dem Eisgrat des Gipfels entlang balancierte. Wir zählten jeden seiner Schritte, bis er ihn hinter sich hatte.Vor uns fiel die über 1000 m hohe Eiswand der SW-Flanke ab. Wir packten Corti in einen Schlafsack, wickelten ihn in eine Kautschukplache und banden ihn auf einen Metallschlitten. An diesen wurden zwei 60-m-Seile befestigt und jedes von drei Mann gehalten, und so glitt die Schlittenladung, aus der man italienisches Gemurmel vernahm, langsam den Eishang hinunter. Die beiden Seile führten über meinen und meines Bruders Rücken, und ich kann nicht sagen, was schwerer zu ertragen war, der Druck des Seils, das einem das Atmen fast verunmöglichte, oder der Gedanke, dass die ganze kleine Equipe vor uns jeden Augenblick Gefahr lief, im dichten Schneetreiben zu verunglücken.

« Zwanzig Meter! » « Zehn Meter! » « Seil aus! » Die Mannschaft schlug kleine Stufen und trieb lange Haken ins Eis, an welchen sie den Schlitten sicherte. Dann setzte sie sich wieder in Bewegung, und ihre Umrisse wurden immer undeutlicher, bis sie unseren Blicken entschwanden...

« Seil aus! » Wieder folgten wir nach. Das Ganze ging langsam, aber rhythmisch vor sich. Es wurde immer dunkler. Kam es von den Wolken oder vom Nebel? Es war 6 Uhr abends!

Vor dem Abstieg über den steilsten Eishang rasteten wir. Riccardo entdeckte den kleinen Felsbalkon auf dem Westgrat, von wo man die ganze Nordflanke überblickt. Die dunkle Wand war aber im wilden Schneetreiben kaum sichtbar. Dort irgendwo hing Longhi. Riccardo schrie durch die vorgehaltenen Hände, bis er blau wurde:

« Longhi! Stefano! Wir kommen morgen! » Was konnte er anderes tun? Er belog weniger Stefano als sich selbst. Aus der Wand kam Stefanos ferne, verzweifelte Stimme:

« Freunde! Hunger, kalt... » Stefano bat nicht um Hilfe. Er wusste, dass sie nicht mehr möglich war. Seine Worte liessen den Schnee auf unsern Gesichtern schmelzen und über die Wangen rinnen. Mit dem Ausdruck eines gequälten Tieres strich Riccardo über die Stirne. Aus der Wand kam nur noch das monotone Rauschen der abgleitenden Schneemassen.

Wir nahmen den Schlitten wieder auf. Aber es war ein vergeblicher Wettlauf mit der Zeit. Wolken und Schnee beschleunigten den Eintritt der Dunkelheit. Wir konnten die Station Eigergletscher diesen Abend nicht mehr erreichen und schauten uns nach einem Biwakplatz um. Wir standen um ein paar aus dem Schnee ragende Felsen und warteten auf die Nachkommenden.

« Bleiben wir hier? » Statt einer Antwort plötzlich ein Krachen fallender Steine! Unsre Köpfe drehten sich aufwärts. Grosse Blöcke flogen auf uns zu. Einer taf das Seil zwischen Nowicki und Berbeka. Der Schock warf sie um, und sie schlitterten mitsamt den Steinblöcken, die Seile des Schlittens mit sich reissend, beängstigend schnell den Hang hinunter.

« Polacco! » « Verdammt! » Jeder schrie und versuchte aus den durcheinandergeratenen Seilen zu treten. Ich dachte, das sei das Ende, wir würden alle mitgerissen und wie Staub in die Tiefe gewischt werden.

Aber Berbeka und Nowicki vermochten mit ihren Pickeln die Fahrt zu bremsen und endlich aufzuhalten. Sie lagen einen Augenblick unbeweglich auf dem Eis, erschöpft und abwartend. Dann erhoben sie sich und stiegen auf wankenden Beinen zu uns herauf.

« Sapristi! » Über Berbekas fahles Antlitz rann Blut. Tom stand über uns, seine Stirn und Wangen so fahl wie diejenigen Berbekas. Er war es, der die verhängnisvollen Steine gelöst hatte.

Es wurde dunkel. Immer dichter fiel der Schnee. Wir fanden eine kleine Plattform, auf der wir uns zusammendrängten und mit den Biwakdecken zudeckten. Für Corti, mit seinem Schlitten, war kein Platz; er wurde, in wasserdichte Pelerinen eingepackt, 30 m weiter oben auf einem kleinen Eissporn in Sicherheit gebracht. Mit dem Rest unseres Butagases kochten wir Kaffee und Tee. Ich nahm eine Thermosflasche voll Kaffee unter den Arm und stieg zu ihm hinauf. Die Neuschneedecke auf Felsen und Eis wurde dicker; aber eigenartigerweise bildeten sich keine Lawinen. Mit steifen Fingern grub ich aus dem Schnee kleine Griffe frei. Ich musste suchen, bis ich endlich Claudios Gesicht entdeckte. Er ächzte:

« Amico, dammi la sigaretta... » Ich gab ihm zuerst Kaffee, und dann überwachte ich die kleine rote Glut der Zigarette, die sich seinen Lippen näherte und nahm den Stummel weg; denn Claudio war auf dem Schlitten festgebunden und konnte seine Hände nicht gebrauchen.

Es donnerte. Bläuliche Funken lösten sich aus allen Falten meines Anoraks. Der Abstieg erschien mir endlos, obwohl es nur dreissig Meter waren. Ich setzte mich zwischen meinen Bruder und Rubinowski. Die Stunden vergingen. Wir schlotterten wie Fiebernde.

« Riccardo! Amico! » rief Claudio klagend. Er fürchtete sich vor dem Alleinsein.

Cassin wollte nicht von Rigio weg, weil sich dieser nicht wohl fühlte. Lionel erhob sich. Er schlug sich mit den Armen gegen die Brust wie ein frierender Droschkenkutscher und verschwand im nächtlichen Schneetreiben. Kälte und Feuchtigkeit nahmen uns den Rest unserer Kräfte. Ich Schloss die Augen. Nach einiger Zeit kam Lionel zurück. Er stand schwankend vor mir.

« Zucker? » fragte ich.

« Si, si. » Wir stotterten. Wir wussten nicht mehr, in welcher Sprache wir redeten. Wir durchsuchten unsere Säcke nach Zucker und Schokolade. Das Schlucken machte uns Mühe.

Die Nacht wollte nicht enden, und die Stille lastete auf uns. Wir hatten nicht mehr die Kraft zum Fluchen. Endlich begann ein milchiges Dämmern die Dunkelheit zu durchbrechen.

Wir erhoben uns. Von allen Seiten ein Stöhnen über eingefrorene Hände und Füsse! Die starren Gelenke knackten bei jeder Bewegung. Wir bearbeiteten uns gegenseitig mit Rippenstössen. Unsre fahlen, blauen Gesichter verzogen sich vor Schmerz; aber es war das einzige Mittel, sich zu erwärmen. Die Fäuste ersetzten den Tee.

« Ho-ee! » Wir trauten unsern Ohren nicht. Von unten her kam jemand. Bald konnten wir sechs Männer unterscheiden, welche Stufen ins Eis schlugen. Sie rückten näher und näher. Es waren die Grindelwaldner Führer!

Sie standen still vor uns hin und warteten. Endlich streckte einer Gramminger zögernd die Hand entgegen. Gramminger wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Er schaute uns fragend an, und während langer Sekunden blieb die ausgestreckte Hand in der Luft. Ich presste meine Finger zur Faust... Endlich tat Gramminger das, was das Richtigste war: er nahm die Hand und drückte sie kräftig. Wir atmeten befreit auf.

Dann beschäftigten wir uns mit dem Weitertransport Claudios und liessen das Sende-Empfangs-gerät zurück, das wir gestern mitzuführen für nötig gefunden hatten.

Als wir abstiegen, kamen uns noch mehr Leute entgegen. Auf jedem Absatz standen sie und boten uns heissen Tee an. Zuletzt waren so viele, dass wir ihnen Cortis Schlitten übergeben konnten. Die Nervenspannung der letzten Tage wich von uns. Schritt für Schritt schleppten wir uns weiter, lust-und kraftlos. Eine unbestimmte Nachricht, dass Longhi in der Nacht gestorben sei, beschäftigte uns.

Auf einer grossen Plattform hielten wir an. Wir wussten, dass uns auf Station Eigergletscher eine Menschenmenge erwartete und uns nicht mehr freilassen würde. Und wir wünschten noch ein paar Minuten unter uns zu sein. Einer zog ein Fläschchen Kognak aus der Tasche und liess es von Mund zu Mund gehen.

« Ein Bravo den Deutschenden Franzosenden Polen!... » Zwei Uhr nachmittags trafen wir auf der Station Eigergletscher ein. Ein Schwärm von Reportern stürzte sich auf uns. Über ihren Köpfen ragte die übergrosse Gestalt von Allmens heraus. Er kam mit ausgestreckter Hand auf uns zu, sein Gesicht war müde und abgespannt. Er bestätigte, was wir schon halb wussten.

« Longhi ist in der Nacht verschieden... » Einsam war er gestorben. Wir hatten ihm nicht helfen können. Unsre Kehlen schnürten sich zu1.

Im Hotel stiegen wir still ins Kellergeschoss hinab, wo sich der Trockenraum befand. Da kam ein dicker Mann auf Hellepart zu, packte ihn am Ärmel und schrie:

« Sind Sie es, der Corti gerettet hat? » Einen Augenblick glaubte ich, Hellepart wolle ihm einen Schlag versetzen. Der Pickel zitterte in seiner Hand. Dann zischte er ihm ins Gesicht:

« Corti ist von dreissig Männern gerettet worden, verstehen Sie? Von dreissig Männern aus sechs Nationen! » Spät am Nachmittag fuhren wir nach Grindelwald hinab. Es regnete. Wir schlüpften in unsere Zelte. Frau Knipers und deren Töchter gaben uns Tee. Sie dankten uns, wie so viele an diesem Tag. Ich jedoch konnte Claudios zu einem Lächeln verzerrtes Gesicht nicht vergessen. Ich war traurig, unsäglich traurig, dass drei andere, zwei Deutsche und ein Italiener, nicht wie er lächeln konnten.

Vor dem Zelt rauschten die opalisierend weissen Fluten der weissen Lütschine. Der Sommerregen hatte den Geruch nach frischem Heu.Nach der französischen Fassung übersetzt: F. Oe ) 1 Einige Jahre später wurde Longhis Körper von einer Gruppe von Berner Oberländer Führern geborgen.

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