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Sternstunden im Gran Paradiso

Hinweis: Questo articolo è disponibile in un'unica lingua. In passato, gli annuari non venivano tradotti.

Elisabeth Hürlimann, Genf

Parco nazionale « GRAN PARADISO » - GELESEN:

Ein vielversprechender Name für den italienischen Nationalpark von etwa 63 000 planimetri-schen Hektaren ( und wenn dem Gebirgsrelief Rechnung getragen wird, von etwa 200000 Hektaren ). Perimeter etwa 150 Kilometer. Er schliesst fünf Täler ein, und es gibt im PNGP ungefähr 57 Gletscher.

1 Parco nazionale del Gran Paradiso.

i76 « GRAN PARADISO » - ERZÄHLT ( einem Uneingeweihten ):

Bestimmt ereifert man sich gleich nach den ersten Worten und steigert sich in eine überschwängliche Aufbauschung von Superlativen! An so viele Superlative glaubt niemand; die sind verdächtig, und man wird ihretwegen leicht der Übertreibung bezichtigt.

« GRAN PARADISO » - ERLEBT:

Da erscheinen einem nun alle Superlative zu schwach! Der Bericht gipfelt in einer klingenden, singenden, jubelnden Hymne an den Gran Paradiso!

Denn da ist der Flecken Erde, wo man noch vollkommene Schönheit findet, Überfluss an berauschenden Erlebnissen, unbegrenzte Möglichkeiten, in innigen Kontakt mit der Natur zu gelangen, seien es nun die Flora, die Fauna oder die Mineralien oder einfach die Berge.

Farben, Formen, Klänge, Lichteffekte, Laute, Düfte, all das sind beglückende Elemente, die bei ihrer ganzen Verschiedenartigkeit harmonisch ineinanderpassen und zu einem herrlichen Gefüge werden.

In vielen Ferien ging ich im Gran Paradiso Gipfel erstürmen, Täler erwandern, vagabundieren über die interessanten Pässe und Berge, von Hütte zu Hütte, kreuz und quer! Ein jedes der Täler ist vom andern verschieden, und ein jedes bietet etwas anderes. Grosse, tiefgreifende Erlebnisse werden dem empfindsamen, für die Natur empfänglichen Wanderer in ver-schwenderischem Masse geschenkt.

Wenn ich an gewisse Höhepunkte der Glückseligkeit denke, weiss ich kaum, welche ich herausheben soll:

Ist es jener nächtliche Aufstieg durch Wald, als der Weg vom Mondlicht durch die Zweige leicht erhellt wurde und zu beiden Seiten des Wegens, in den Gräsern und an den Stämmen 7 Kurz vor dem Mont Blanc de Courmayeur Photos Yannik Seigneur, Chamunix der Bäume, Hunderte von Leuchtkäferchen ihre smaragdenen Lichtchen leuchten liessen?

Ist es jene Ankunft beim einsamen Bivacco Lionello Leonessa, als ich, hinter den letzten Felsen auftauchend, von einem herrlichen männlichen Steinbock, der vor dem Bivacco stand gleich einem Hüter, empfangen wurde? Sowie sich der stolze Mächtige von der Überraschung erholt und langsam entfernt hatte, kam ein winziges, zierliches Mäuschen, das zu meinen Füssen eine köstliche Vorstellung gab, indem es geschäftig ein schon arg abgeknabbertes Silene-Polster weiter abbaute, immer wieder innehielt und zu mir emporäugte mit den lustigen, dunklen runden Äuglein. Zum Schluss brach es ein weisses Steinbrechblümchen und trug es im spitzen Mäulchen weg, wie wenn es nun mit diesem Sternenblümchen zu seiner Braut eilen wollte. Bevor es verschwand, schaute es sich noch einmal nach mir um.

Das sind Geschenke des Gran Paradiso: ein Erlebnis folgt dem andern.

Oder soll ich jenen Abstieg vom Colle Lauson ins Valsavaranche herausheben, wobei man auf dem Maultierweg auf weichem Teppich von jahrelang übereinander geschichteten Lärchennadeln wandert, wo man Alpenrosen sieht, die ihre leuchtenden Blüten hoch in das lichte Grün des Lärchengeästes emporheben?

Oder ist es die kurzweilige Besteigung der schönen, kühnen Grivola in fröhlicher Geselligkeit?

Sind es die vielen tintenblauen Seen oberhalb des Colle Nivolet, von denen jeder an seinen Ufern eine andere Art entzückenden Alpengärt-chens aufweist und von wo man direkt in den Schoss des Gran-Paradiso-Massivs hineinblicken kann?

Ist es jener Teppich der seltenen Campanula Cenisia, auf den ich staunend niedersah, weil ich noch nie mehr als drei bis vier solcher Glöckchen gesehen hatte, oder sind es die breiten Kissen von Himmelsherold oder die Polster der Silène, über und über mit rosenroten Sternchen besät, oder ist es jene weite Edelweisswiese?

Oder ist es jener Aufstieg, frühmorgens, als die Tautropfen in den langen Grasbüscheln in allen Farben funkelten, wie wenn ein Riese vom Berge her einen Sack voller Edelsteine über den Hang geworfen hätte? Rubinrote funkelten und wurden smaragdgrün, Zitronengelbe wurden blau, Orangefarbene wurden weiss wie Diamanten.

Ist es die Begegnung mit Murmeltieren, Gemsen, Vögeln, Steinböcken?

Aus dem Füllhorn seltener Erlebnisse will ich nur eines hervorheben, das Steinbockerlebnis!

Will man in der Intimität dieser prachtvollen Tiere geduldet werden, dann muss man allein zu ihnen gehen, in der grossen Stille der Dämmerung, zur Stunde, da kein Laut zu hören ist und sogar die Vögel verstummt sind.

Bald wird man ein Rudel entdecken; ruhig und friedlich äsen die Tiere. Nähert man sich ihnen langsam, sehen sie einen sehr freundlich an, machen einige rasche Bewegungen mit dem zerzausten Schwänzchen und mit den feinen Ohren und äsen weiter, unbekümmert um die stille, fremde Gegenwart. Überschreitet man jedoch 2,5-3 Meter Distanz, bläst einen der Nächstste-hende aus den Nüstern kurz an ( was ihm einen recht verächtlichen Ausdruck verleiht !), geht dann aber nur einen Schritt weiter und äst wieder. Keine Flucht, nur ein Einhalten der gewünschten Distanz.

Noch näher kommen sie, wenn man sich auf einen Felsblock setzt und ruhig wartet, bis sie selber hinzukommen. Dann rupfen sie die Kräutchen direkt zu Füssen des Blockes. Es bliebe nur noch die Hand auszustrecken... gelüsten würde es einen gar sehr, besonders wenn man die lustigen Büschel alter Winterhaare auf ihren Nacken sitzen sieht, was ausschaut, als sollten es kleine Mähnen sein.

Wie prachtvoll diese Tiere sind! Erstaunlich, dass solch massiver, kräftiger Körper von so schlanken, eleganten Läufen getragen werden kann. Die mächtigen, tiefgekerbten Hörner schwingen sich in grossartigem Bogen von der i77 starken Stirne hoch und sensenförmig hintenüber. Darunter befinden sich die rührenden, überaus beweglichen Öhrchen.

Es gibt einem ein unbeschreibliches Glücksgefühl, sich mitten in einem Rudel von nahezu 200 Stück zu befinden, in der feierlichen Bergesstille, nur das leise Rupfen an Gräsern zu vernehmen und das eigenartige Geräusch der unzähligen kleinen gespaltenen Hufe. Je länger man da ist, um so weniger achten sie auf den Eindringling und spielen ihre lustigen Spiele, führen ihre tollen, übermütigen Sprünge aus. Für die Kampfspiele suchen sie sich mit Vorliebe einen exponierten Felsblock aus, denn es macht den Kämpfenden besonderen Spass, den Gegner vom Fels hinunterzuwerfen. Für den Zuschauer ist das wie ein grandioses Podium.

Sie fallen sich nicht frontal in die Hörner, sondern bäumen den stämmigen Leib auf und fallen einander etwas seitlich in die Hörner. Das wird mit solcher Gemächlichkeit, ja Abwägung gemacht, dass es einen an Zeitlupenaufnahmen erinnert.

Der Zusammenprall der wuchtigen Hörner ergibt einen hölzernen Laut, wie von riesigen Castagnetten. Geraume Zeit liegen sie sich in den Hörnern, ziehen und stossen sich daran dem Boden nach hin und her - das Auge blitzt —, und wenn es keinem gelungen ist, den Gegner zum Felsabhang zu drücken, lösen sie sich so langsam voneinander, dass es wie grösste Sorgfalt aussieht. Dann beginnen sie von vorne, zwanzig-, dreissigmal! Es kommen auch andere in den « Ring » und lösen einen der Kämpfer ab. Manchmal probieren sie auch, zu dritt zu spielen.

Der beruhigende Rhythmus dieser Bewegungen ist für den Schauenden eine Wohltat! Immer noch einmal möchte man es sehen!

Wenn man stundenlang im Rudel mitgehen darf, langsam, Schrittchen für Schrittchen, empfindet man eine tiefe Dankbarkeit gegenüber diesen Tieren, dafür, dass sie einem solche Erlebnisse schenken wollen, Dankbarkeit dafür, dass man bei ihnen weilen darf.

i78 Jahr um Jahr kann man gleiche oder ähnliche Begegnungen haben, doch kann es geschehen, dass das Wiedersehen einmal auf ganz ungewohnte Weise erfolgt; so erlebte ich es kürzlich.

Abends setzte ich mich auf einen Fels am Bergbach, denn es ist jeweils ein märchenhafter Anblick, wenn sie alle miteinander langsam, ihre schweren Hörner wiegend, über das im Abendschein glitzernde Wasser gehen, nachdem sie erst etwas zögernd mit dem zierlichen Fuss probiert haben. Diese abendliche Wasserüber-querung hat immer etwas Feierliches an sich. Die schönen Formen der gekerbten Hörner kommen besonders zur Geltung, denn weiches Abendlicht tanzt darin.

Ich sass und wartete.

Da - plötzlich stürzten sich in wildem Galopp mehr als hundert Steinböcke von zuoberst den Abhang herunter in tollsten Sprüngen, wie wenn sie nach langem Eingesperrtsein endlich freigelassen worden wären! Es kam mir der Gedanke, wenn sie nun das kleine, sitzende Menschlein im Halbdunkel übersähen und überranten ( dummer Gedanke, natürlichSind sie vielleicht oben erschreckt worden und flohen deshalb den Hang herab? Es sah jedoch keineswegs nach Panik aus, ganz im Gegenteil.

Zwei von ihnen sah ich mitten im Galopp die Körper aufbäumen und - auf den Hinterbeinen weiterspringend - sich seitlich in die Hörner fallen und kämpfend weitergaloppieren.

Ein junges Tier gab eine besonders graziöse Ballettnummer. Ja, es tanzte direkt! Es tanzte ganz allein, in Riesensprüngen, meist nur auf den Hinterläufen, den Hang herunter, indem es sich vor lauter Bewegungsjubel wand. Den Körper nach rechts und nach links herumwerfend, stiess es mit den Hörnern in die Luft, rechts, links, rechts, links! Jugendlicher Übermut und unbändige Lebenslust kamen durch diesen tanzenden Körper zum Ausdruck!

Einige besondere und unvergessliche Begegnungen durfte ich auch mit dem schönsten der männlichen Steinböcke des ganzen Lausonge-bietes haben. Es ist dies ein Alter, der älteste mit den grössten, in kühnem Bogen geschwungenen Hörnern, was ihm ein wirklich königliches Aussehen verleiht. Auch seine überlegene, beinah unerschütterliche Ruhe trägt dazu bei. Oft befindet er sich etwas abseits des Rudels, lässt sich sehr nahekommen und fixiert einen mit dem Ausdruck eines sinnierenden Philosophen.

Diesen König, dem ich so oft auf Atemnähe gegenübergestanden hatte, durfte ich zum Abschied noch einmal erblicken, und zwar so, als hätte ich die Erscheinung eines Berggottes erlebt!

Es war nach sommerlichem Schneefall, als es wieder aufheiterte und zu massiven Nebelver-schiebungen kam. An einem solchen Abend vor Sonnenuntergang erschien er mir, der Wunderbare. Hoch oben auf einem Hügel stand er vor einer dicken, gleissenden Nebelwand, welche die Landschaft dahinter und daneben völlig verdeckte. Allein — unnahbar — erhaben — grossartig stand er in der Mitte - zwischen Himmel und Erde - zwischen Wunder und Wirklichkeit! Da oben stand er reglos und blickte auf sein Reich hernieder und auf mich dankbares Menschlein.

Es war, als käme er aus der Unendlichkeit und ginge gleich wieder ein ins ewige Licht! Eine lichte Wolke enthob ihn meinen bewundernden Blicken.

Das sind Stunden der Gnade - Sternstunden -, die man im Gran Paradiso immer wieder erleben darf und nimmer vergisst!

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