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Streifzüge im Clubgebiet

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D. Stokar ( Sektion Randen ).

Von Je nach Geschmack und Temperament des Einzelnen giebt es verschiedene Arten, die Bergsteigern zu betreiben. Während der eine in möglichst kurzer Zeit ein möglichst großes Gebiet durchwandert, setzen sich andere, und zu diesen gehöre auch ich, an irgend einem günstig gelegenen Ort einige Wochen lang fest und suchen von dort aus ein räumlich eng begrenztes Gebiet möglichst systematisch und vollständig ab. Muß man auch bei diesem System auf die oberflächliche Kenntnis weiter Gebiete verzichten, so wird das wenigstens in meinen Augen reichlich aufgewogen durch die intime Vertrautheit mit einem wenn auch nur kleinen Abschnitt unseres Vaterlandes. Jede Berggruppe, ja jeder einzelne Berg ist ja ein ausgeprägtes Individuum mit einer Menge von charakteristischen Besonderheiten. So wie ein charaktervoller Mensch bei näherer Bekanntschaft immer mehr gewinnt, immer neue Überraschungen bietet, so gewährt es wenigstens für meinen Geschmack einen unvergleichlichen Genuß, dem einzelnen Bergzug und Berggipfel stets von neuem, von allen Seiten beizukommen, ihn in seiner charakteristischen Eigenart zu ergründen und ihm alle die versteckten Reize abzugewinnen, von denen derjenige keine Ahnung hat, der ihn bei einmaliger Besteigung oder Durchquerung kennen gelernt zu haben meint.

Nachdem ich in fünf Sommern das obere Toggenburg ziemlich gründlich abgesucht hatte, stand ich nun wieder vor der Wahl eines neuen Exkursionsgebietes. Sowohl durch Bekannte als durch das Itinerar und die Exkursionskarte wurde ich auf den Rhätikon, das Clubgebiet der drei letzten Jahre, aufmerksam gemacht, und das Studium der dasselbe beschlagenden Arbeiten in den Jahrbüchern bestärkte mich in der Ansicht, daß ich hier finden würde, was ich suche: eine reich gegliederte Berggruppe, welche in mäßigem Abstand von einem bestimmten Standpunkt aus eine reiche Auswahl von Touren, schönen Aussichtspunkten und interessanten Kletterpartieen bietet, und in der Schnee und Eis nur eine sekundäre Rolle spielen. So entschied ich mich denn für St. Antönien, wo ich Montag den 25. Juli eintraf. In der kleinen, aber außerordentlich behaglichen Pension Dönz-Lötscher fand ich bei wackeren Leuten freundliche Aufnahme, kleine, aber gemütliche Gesellschaft, einfache, aber solide, für anspruchslose Leute vollauf genügende und dabei sehr billige Verpflegung, einen trefflichen Veltliner auch nicht zu vergessen.

Nach einer längeren Schlechtwetterperiode, welche Unmassen von Neuschnee in die Berge geworfen hatte, war seit einigen Tagen prächtiges, helles Sommerwetter eingetreten, so daß ich sofort an die Arbeit gehen konnte. Gleich am ersten Morgen nach meiner Ankunft wurde in Begleitung von Herrn stud. theol. P. Walter aus Basel der Anfang mit der Sulzfluh gemacht. Über diesen Berg, der mehr und mehr einer der besuchtesten Aussichtspunkte wird und namentlich an schönen Sonntagmorgen ganze Scharen von Besuchern auf seiner Spitze sieht, ist im Jahrbuch nicht eben viel zu sagen. Die Besteigung ist ja nichts weniger als schwierig, erfordert gar nirgends Schwindelfreiheit und nur an einer einzigen Stelle beim Aufstieg zum Gemstobel eine kurze und recht harmlose Kletterei, ist aber etwas einförmig und ziemlich anstrengend. Wir erreichten den Gipfel in 33/± Stunden von St. Antönien aus und trafen oben ganze Berge von Neuschnee und eine sozusagen tadellos schöne, aufs prächtigste beleuchtete Rundsicht. Das Sulzfluh-Panorama bietet dem Liebhaber einer enorm ausgedehnten Fernsicht was er sich nur wünschen kann und auch in der nächsten Umgebung pittoresken Reiz genug, um seinen Ruf vollauf zu rechtfertigen. Den Rückweg nahmen wir über die prächtig gelegene, gemütliche Tilisuna-Cliibhütte und den Grubenpaß.

Tags drauf ging es auf den Schollberg. Auch dieser nur 2574 m hohe Berg bietet wenig clubistisches Interesse im höheren Stil. In drei Stunden ist man von St. Antönien aus oben, indem man, meist ziemlich steil ansteigend, den Paßweg zum St. Antönierjoch bis nicht gar weit unterhalb der Paßhöhe verfolgt, dann links abschwenkt und Über einen direkt nach Norden ansteigenden, nur an wenigen Stellen durch ganz unschwierige Felspartieen unterbrochenen Rasengrat direkt auf den Gipfel losgeht. Dieser sehr ausgesprochene Grat ist auf der Exkursionskarte, auch auf dem Neudruck mit Reliefton, nicht oder doch nur sehr mangelhaft angegeben, so daß wir einige Mühe hatten, uns zu orientieren, indem wir nach Angabe der Karte den Gipfel auf der Westseite umgehen zu müssen glaubten. Die Aussicht ziehe ich derjenigen von der Sulzfluh entschieden vor. Man steht der prächtigen Silvrettagruppe hier schon etwas näher, und dann präsentiert sich von hier aus das imposante Dreigestirn Scesaplana, Drusenfluh und Sulzfluh ganz besonders schön. Wohl den Glanzpunkt bildet aber die in edeln, fein geschwungenen Linien sich aufbauende breite Pyramide des Mädriserhorns, besonders im reichen Schmuck von Neuschnee eine der Berggestalten, welche sich dem Gedächtnis unauslöschlich einprägen.

Wer auf stilvolle Gruppierung und feinen Linienreiz in der näheren Umgebung mehr sieht als auf Ausdehnung der Rundsicht, der wird auf dem Schollberg bei geringerer Mühe noch besser seine Rechnung finden als auf der Sulzfluh. Übrigens ist auch der Blick in die weite Ferne kaum wesentlich anders als dort. Eine fidèle Schneerutscherei das steile Silberthäli hinunter fördert rasch in die Tiefe, und bald mündet man bei Weberiishöhle in den Plasseckenpaßweg ein, auf dem man in kurzer Zeit Partnun erreicht. Zum Mittagessen waren wir wieder bequem in St. Antönien zurück, obschon wir auf dem Gipfel reichlich zwei Stunden zugebracht hatten.

Mit großem Interesse hatte ich im Jahrbuch von 1890 Herrn Imhofs Bericht über seine Besteigung der Drusenfluh vom Öfenpaß aus gelesen. Der Wunsch, diesen offenbar ungewöhnlieh schönen und interessanten Berg kennen zu lernen, und die Hoffnung, den von Herrn Imhof als vielleicht ausführbar bezeichneten neuen Zugang vom Schweizerthor aus ausfindig machen zu können, hatte nicht wenig dazu beigetragen, daß ich gerade in diese Gegend gekommen war..

Zunächst galt es natürlich, einen Führer zu finden. Der alte Thomas Flutsch in Partnun, der Einzige im ganzen Thal, der das Führergewerbe berufsmäßig treibt, konnte nicht in Frage kommen. Er soll für leichtere Partieen wie Sulzfluh, Schollberg, die verschiedenen Paßübergänge, noch immer recht brauchbar sein; für Kletterpartieen höheren Ranges könnte er nicht dienen. Ich war an Andreas Flutsch in St. Antönien-Platz verwiesen worden als einen der besten Kenner der Gegend und einen der Streifzüge im Clubgebiet.

kundigsten und erfolgreichsten Gemsjäger. Der Mann sagte mir durch seine umfassende Kenntnis der Gegend und seine sehr angenehmen persönlichen Eigenschaften durchaus zu, erklärte aber zu meinem Bedauern, er sei nicht schwindelfrei genug, um sich an eine so schwierige Aufgabe zu wagen. Dagegen war er gerne bereit, einmal mit mir eine Rekognoscierungstour rund um den Berg auszuführen, um demselben mit dem Fernrohr die etwa zugänglichen Stellen abzusehen. Von der Sulzfluh und vom Schollberg kehrt einem die Drusenfluh die schmale Ostseite zn, so daß man von diesen Punkten aus keinerlei Urteil über den Aufbau und etwaige Zugangsmöglichkeiten gewinnen kann.

dû. G. Schnetzler.

An einem der nächsten Tage kam der Plan zur Ausführung. Diesmal waren wir drei Touristen, außer mir mein ständiger Begleiter, Herr Walter, und ein Stuttgarter Gymnasiast. Früh um 4 Uhr brachen wir auf und stiegen zunächst auf ungewöhnlich gut angelegtem Zickzackweg nördlich zum Maierhofer Alpli empor und zogen uns von dort aus bald mit, bald ohne Weg in nordöstlicher Richtung behaglich ansteigend unter dem Kühnihorn und Schafberg vorbei zur Garschinafurka ( 2227 m ) zwischen Schafberg und Sulzfluh. Von dort ging es durch die rauhe Trümmerhalde Ganda rasch zur wild eingeschnittenen, aber leicht zugänglichen Paßhöhe des Drusenthor ( 2350 m ) empor. Kurz vor der Paßeinsattelung mußten wir vor einem vorübergehenden Strichregen Schutz suchen; derselbe fand sich auch bestens unter einem weit überhängenden Felsen, der durch ein vorn bis fast in Mannshöhe aufgeführtes Mäuerchen in eine Art von Hütte umgewandelt ist. Bald brach die Sonne wieder durch die Wolken und der Weg konnte wieder unter die Füße genommen werden. Von der Paßhöhe stiegen wir nahezu 600 m tief zu der prächtig gelegenen oberen Sporenalp ab, von der aus sich die östliche Hälfte des Dnisenfluhmassivs, die kühn und schlank aufstrebenden drei Türme, wundervoll vom blauen Himmel abhoben. In einer der sauber gehaltenen Hütten fanden wir bei freundlichen Sennen gute Aufnahme und reichliche Bewirtung mit Milch und Brot.

Von der Sporenalp galt es nun, die Drusenfluh auf der nördlichen, österreichischen Seite ihrer ganzen Länge nach abzugehen, und zwar zunächst die reichlich 500 m zur Paßhöhe des Ofenpasses anzusteigen. Wir verfolgten zunächst nicht den Paßweg, sondern stiegen eine Strecke weit an der nördlichen Thalseite empor, um einen günstigen Standpunkt zur photographischen Fixierung des Drusenfluhmassivs zu gewinnen. Ungefähr in der Mitte des Berges, gegenüber dem tiefen Einschnitt Eisjöchl, der die Kette in zwei deutlich geschiedene Teile, die eigentliche Drusenfluh und die in ihrem höchsten Punkt nur 1 m niedrigeren drei Türme, sondert, fand sich eine geeignete Stelle zu der gar nicht übel gelungenen Aufnahme. Diese hintere Seite der Drusenfluh ist in ihrer wild phantastisch zerrissenen und doch linienschönen Gestalt womöglich noch imposanter als die schweizerische Südseite. Während dort der Berg in seiner ganzen Länge eine gewaltige, sozusagen senkrechte Felsenmauer bildet, sendet er auf der Österreicher Seite fünf parallele Ausläufer zu Thal, welche das Bild anfs mannigfaltigste beleben. In der breitesten und tiefsten Mulde, welche zu dem merkwürdig scharf eingeschnittenen Eisjöchl emporfuhrt, senkt sich ein ganz ausgebildeter kleiner Gletscher zu Thal, mit seiner steilen Senkung und den blaugräulich schimmernden Spalten ein wahres Musterexemplar, das unbegreiflicherweise auf der Exkursionskarte gar nicht verzeichnet ist. Als wir vorbeizogen, gab der Berg uns zu Ehren eine kleine Extravorstellung. Aus einer weiter oben sich öffnenden Mulde rollte eben majestätisch langsam mit kräftigem Gepolter eine Lawine zu Thal, die grandiose Wirkung des stolzen Berges noch namhaft verstärkend.

Der wundervolle Blick auf die Drusenfluh macht die mit keinerlei Mühe verbundene Begehung des Öfenpasses zu einer in hohem Grade lohnenden, weshalb dieser Paß den von der Sulzfluh dem Lünersee Zustrebenden lebhaft empfohlen werden kann. Daß man sich auf Österreicher Boden befindet, wird einem auf angenehme Weise durch eine Wegemarkierung mit roten Farbflecken zum Bewußtsein gebracht, welche auch im Nebel ein Fehlgehen ausschließen würde. Beim Abstieg zum Paßweg machten wir in den Felsen noch eine ziemlich ausgiebige Ernte von Edelweiß und verfolgten dann den Weg vollends bis zur Paßhöhe ( 2293 m ). Von hier aus hatte also im Oktober 1890 Herr Imhof seinen neuen Zugang zum Drusenfluhgipfel gefunden. Wir sahen uns begreiflicherweise die Gestaltung des Berges mit Interesse an und entdeckten auch allerlei Absätze und Rasenbänder, über welche augenscheinlieh die unterste Fels- stufe ohne übergroße Schwierigkeit erklettert werden kann. Wie sich die Sache dann weiter oben gestalten würde, war nicht zu überblicken.

Die von Herrn Imhof als möglich vorgesehene Ersteigung vom Schweizerthor aus würde, so hatte ich seine Ausführungen verstanden, auch auf der österreichischen Seite einzusetzen haben. Vom Ofenpaß erreicht man in wenig mehr als einer Viertelstunde das Schweizerthor. Auf dem ganzen Weg dahin spähten wir eifrig nach einer Stelle, bei der man den Aufstieg beginnen könnte. Direkt von der Paßeinsattelung des Schweizerthors ist jede Möglichkeit ausgeschlossen; dort steigt der Grat in mächtiger, glatter Felswand direkt in die Höhe. Dagegen zeigte sich etwas auf der hinteren österreichischen Seite allerlei Rasen- und Fels-gestuf, über das es wohl möglich sein konnte, die Grathöhe zu gewinnen. Ob es dann auf derselben auch weiter dem Gipfel zu gehen würde, war von unten aus nicht zu beurteilen. Das wäre dann Sache des Versuchs. Immerhin sah das Unternehmen nicht so abschreckend aus, daß ein Versuch nicht zu wagen gewesen wäre. Ich nahm mir daher vor, hier demnächst anzusetzen, sobald nur ein Führer aufgetrieben sein würde.

Nun sprach aber unser Flutsch noch von einer anderen Stelle auf der Schweizer Seite, von der aus unter Umständen ein Versuch zu wagen wäre, vom sogenannten Roten Gang. Von der Schweizer Seite einen Aufgang zu finden, wäre natürlich ein noch weit verlockenderes Ziel gewesen, als den schon gefundenen beiden Wegen auf der Österreicher Seite noch einen dritten beizugesellen. Wir hielten uns daher in dem eigentümlichen, von den Herren Imhof und Ludwig schon genügend beschriebenen Kessel des Schweizerthors nicht lange auf, sondern eilten über die ziemlich harmlosen Felsen und das breite Rasenbord zum Südfuß des Berges hinunter. Da lag denn auch der erwähnte Rote Gang bald unverkennbar vor unseren Augen. Gar nicht weit östlich vom Südfuß des Schweizerthors zog sich in mäßiger Steigung ein von der weißen Kalkwand grell abstechendes dunkelrotes, breites Band schief aufwärts in östlicher Richtung. So weit es sichtbar war, war es augenscheinlich ohne Schwierigkeit zu begehen; wie es weiter oben aussehen, ob es an der glatten Wand auslaufen oder aber sich hinter einer Felsecke bis zur Grathöhe fortsetzen würde, war von unten aus nicht zu beurteilen. Ich wußte wirklich nicht recht, was ich zu der Sache sagen sollte. Jeder, der sich überhaupt schon mit der Idee befaßt haben mochte, die Drusenfluh von der Schweizer Seite aus zu besteigen, mußte unbedingt auf diesen Roten Gang aufmerksam geworden sein. Er sieht auch gar zu handgreiflich verlockend aus. Daß es trotzdem noch niemand unternommen zu haben schien, legte den Schluß nahe, das Band werde einfach an der glatten, unzugänglichen Wand auslaufen und jedes Fortkommen unmöglich sein. Zu diesem Schluß scheint auch Herr Ludwig gelangt zu sein, der im letzten Jahrbuch von einem mächtigen roten Streifen am westlichen Ende der Drusenfluh spricht, der gar keine Aussicht auf Erfolg biete. Damit kann kaum etwas anderes als der Rote Gang gemeint sein. Unser Führer Flutsch, der zwar dieses von St. Antönien gar zu abgelegene Gebiet nicht selbst auf der Jagd begeht, aber mit seinen Kollegen von Schiers und Schuders sich schon über die Sache besprochen hatte, versicherte uns, es sei noch niemand da hinauf gekommen, und die Gemsjäger halten es nicht für möglich. Die Gemsen aber begehen den Roten Gang häufig und erreichen die Grathöhe. Wo eine Gemse passiert, da ist allerdings noch lange nicht gesagt, daß auch der Mensch durchkomme. Alles in allem genommen, schienen mir die Chancen eines Gelingens nicht stark zu sein, weshalb ich mir vornahm, zuerst hinter dem Schweizerthor einen Versuch zu machen und den Roten Gang nur in zweiter Linie in Reserve zu halten, wenn es dort nicht gehen sollte.

Wie wir die Drusenfluh auf der Österreicher Seite ganz umgangen hatten, so mußten wir nun auf der Rückkehr auch ihre ganze, nahezu vier Kilometer lange Südfront abgehen. Langsam zog so die himmelhohe, unzugänglich steile, meist in glatten, fast polierten Wänden abfallende Riesenmauer an uns vorbei, ein Gebilde von abschreckender, gewaltiger, aber auf die Länge doch etwas monotoner Wildheit und Größe. Der Weg war stellenweise recht mühsam, da er durch drei sogenannte Ganden, abschüssige Trümmerfelder. Spuren alter Bergstürze, führte, zuerst die breite Heidbühlganda, dann die schmalere Mittelganda und endlich die breiteste von allen, die Ganda par excellence. Ungefähr der Mitte der Riesenfluh gegenüber rasteten wir auf einem rasenbewaehsenen Vorsprung, dem Druseneck, um von hier aus ein Bild von der Wand aufzunehmen. Auf diesem Druseneck hatte, so setzte uns unser in der Gemsjagd offenbar besser als in der Geschichte beschlagene Führer auseinander, der römische Kaiser Drusius zur Zeit der Kreuzzüge sein Heer gelagert. Von der etwas weiter unten gelegenen Alp Drusen erzählte uns Flutsch noch die grausliche Geschichte von der Drusener Popa, einer Puppe, welche vor alter Zeit ein paar junge Sennen anfertigten und in ihrem Übermut mit allen Ceremonien tauften, die dann lebendig wurde und zur Strafe für das Sakrileg dem Hauptschuldigen bei lebendigem Leibe die Haut abzog. Diese von Fient in seiner hübschen Broschüre über das Kreuz ausführlich mitgeteilte Sage macht mir übrigens den Eindruck, sie sei eher der lehrhaften Phantasie eines Geistlichen als dem sagenbildenden poetischen Volksgemüt entsprungen. Von der Garschinafurka aus war wieder derselbe Weg einzuschlagen, auf dem wir früh ausgezogen waren. In der letzten halben Stunde wurden wir noch von einem Gewitter tüchtig eingeweicht und kamen bachnaß zu Hause an.

So waren denn einstweilen die Vorarbeiten zur Bezwingung der Drusenfluh gemacht, und es galt nun nur noch, einen tüchtigen Führer zu. finden, dann konnte der Versuch unternommen werden. Flutsch sprach Streifzüge im Clubgebiet.

mir von seinem Vetter Konrad Flutsch im Zun zu Rüti, genannt Zuchueret, der, wie mir von allen Seiten bestätigt wurde, der sicherste und verwegenste Kletterer des Thales sei; wo der nicht durchkomme, da sei es überhaupt unmöglich. Es hat mir in der That eine sehr günstige Meinung vom Charakter der Leute beigebracht, daß sie alle, auch solche, die selbst im Klettern etwas zu leisten meinen und eifrige Jäger sind, einstimmig und ohne Zaudern versicherten, der sei der Beste und klettere besser als sie selbst. Ich wüßte andere Gegenden zu nennen, wo man diese neidlose Anerkennung umsonst suchen würde, wo vielmehr jeder allein der Rechte sein will und einer den andern heruntermacht. Dieser Zuchueret wurde nun gesucht. Da er aber weit oben in den Partnuner Mähdern beim Heuen war, so konnte er nicht gleich zur Stelle geschafft werden, und so mußten wir die Drusenfluh einstweilen bei Seite lassen. Es gab ja inzwischen andere Arbeit genug.

. Der nächste schöne Tag galt dem Mädriserhorn, nach Madrishorn oder Madrisa genannt, das mit 2830m noch m höher als die Drusenfluh und überhaupt die zweithöchste Erhebung des Rhätikon ist, wenn man von einigen Nebengipfeln der Scesaplana absieht. Seine edelschöne Gestalt hatte uns vom Schollberg aus so sehr in die Augen gestochen, daß wir ihm einen Besuch schuldig waren. Die Schwierigkeit war nach FHitschs Aussage nicht derart, daß wir einen Führer nötig gehabt hätten. Wir wollten den Aufstieg nicht auf dem gewöhnlichen und nächsten Weg durch das Gafierthal und über die Gafierplatten nehmen, sondern vor der Hauptspitze noch die demselben vorgelagerte gewaltige Kalkbastei der Rätschenfluh überklettern. Diese weißglänzende Riesenwand, welche das kurze Seitenthal von Ascharina abschließt und sich ganz besonders imposant von dem überhaupt als Orientierungspunkt für die ganze Rhätikonkette besonders günstig gelegenen Kreuz ( 2200 m ) aus präsentiert, soll, so unnahbar steil sie aussieht, doch im ganzen vier Stellen haben, an denen man ihr durch schmale Couloirs beikommen kann. Das leichteste dieser Couloirs, den sogenannten Rätschengang, wollten wir zum Aufstieg benutzen. Morgens in aller Frühe machten wir uns, wiederum Herr Walter und ich, auf den Weg. Zunächst geht es bequem durch Wiesen zu den oberen Häusern von Ascharina, dann etwas steil in südöstlicher Richtung zur ersten Terrasse des Ascharinathals mit der Ascharinaalp ( 1808 m ) empor. Während bis dahin der Weg ziemlich mangelhaft gewesen war, setzte hier oben zu unserem Erstaunen ein breiter, rationell angelegter Weg ein, wie wir in den Alpen noch nichts Ähnliches gesehen hatten, eine sanft ansteigende, unten sorgfältig aufgemauerte förmliche Fahrstraße, welche uns auf die bequemste Weise etwa eine Viertelstunde weit thaleinwärts dem imposanten Thalabschluß entgegenführte. Wie wir nachträglich vernahmen, ist das Sträßchen mit Hülfe einer Staatssubvention von mehreren Tausend Franken angelegt worden, einzig zur Erleichterung der Alpnutzung. Da kann der Kanton Graubünden freilich noch ungezählte Millionen ausgeben, bis alle Alpen mit solchen Luxuswegen versehen sind.

Wo das Sträßchen ausgeht, beginnt bald ein Gewirr von erst grasbewachsenen, dann weiter oben kahlen, moränenartigen Wällen. Da wir den Rätschengang zu weit links vermuteten, zogen wir uns nach der linken Thalseite und mußten dann mit ziemlichem Zeitverlust wieder rechts halten, als wir unseren Irrtum bemerkten. Man wird wohl am besten thun, möglichst an der rechten Thalseite zu bleiben. Die oberste Thalstufe bildet eine breite, aber nicht tiefe, mit Trümmern besäete Mulde, aus welcher zuerst gewaltige Schutthalden und über denselben die Riesenmauern der Rätschenfluh aufsteigen. Der Rätscheng.ang schien klar vor Augen zu liegen; ziemlich weit rechts, nicht mehr weit von der die lange Mauer flankierenden Saaser Calanda öffnete sich ein schneegefülltes Couloir, das einen leichten. Aufstieg zu gewähren schien. Dorthin steuerten wir also, uns langsam die von Schritt zu Schritt feiner, lockerer und darum mühsamer werdende Schutthalde emporarbeitend. Mit einiger Geduld und Ausdauer war auch das zu überwinden, aber froh waren wir doch, als wir endlich festen Felsen in die Hände bekamen. Das Couloir wurde immer enger und steiler und war schließlich ganz mit hartem Schnee angefüllt, so daß das Hinaufkommen immer problematischer wurde. Glücklicherweise zweigte sich ein schneefreier Spalt nach links ab, der bessere Aussichten zu bieten schien. Um zu demselben zu gelangen, war aber die hartgefrorene, dachgähe Schneezunge zu überqueren, welche den etwa Ausglitschenden kaum lebendig zu Thal gefördert haben würde. Die 12 bis 15 Schritte, die es brauchte, bis wir wieder auf sicherem Boden waren, gehörten wirklich nicht gerade zum Angenehmsten. Ein Pickel hätte hier gute Dienste geleistet. Jenseits des Schnees ging es dann durch eine enge Spalte unter beidseitigem Ansperren mit Knieen und Ellenbogen ohne Schwierigkeit aufwärts und bald standen wir oben auf dem Grat. Wie uns nachträglich Flutsch erklärte, hatten wir das falsche Loch erwischt. Nur wenig links von unserem Couloir ziehe sich der ganz harmlose richtige Rätschengang in der Richtung nach links in die Höhe.

Item, oben waren wir auch so und arg schlimm war die Sache am Ende auch nicht gewesen. Es hätte nun einiges Interesse geboten, den Grat der Rätschenfluh immer hart dem gewaltigen Felsabsturz entlang bis zum höchsten Punkt, dem Rätschenhorn ( 2707 m ), zu verfolgen. Wir verzichteten aber darauf, da unser Ziel, das nunmehr sichtbar gewordene Mädriserhorn, noch recht weit weg lag und das Wetter nicht ganz zuverlässig schien. Über der Gegend von Arosa und Davos lagerten drohende schwarze Wetterwolken, welche leicht auch uns überziehen konnten. Also schlugen wir den direktesten Weg ein und zogen uns der sanfter abfallenden hinteren Seite der Rätschenfluh entlang erst über Rasen, dann über Schneeflecken und Schutt in die Einsattelung des Mädriserjochs ( 2602 m ) zwischen Rätschenhorn und Mädriserhorn. Hier standen wir nun direkt über den die nordöstliche Rückseite der Rätschenfluh bildenden ausgedehnten, weißblinkenden Gafierplatten, über deren geologische Bedeutung das Itinerar und Herr Ludwig im letztjährigen Jahrbuch jede wünschbare Auskunft geben. Sie waren fast ganz mit Schnee bedeckt, so daß von dem kleinen Gletscher, der nach Fliitschs Versicherung in der Mulde unten liegt, nichts zu sehen war. Die Exkursionskarte weiß übrigens von einem solchen Gletscher auch nichts, wie sie überhaupt mit Schnee und Eis überaus sparsam umgeht.

Eine kurze Strecke weit verfolgten wir nun den gegen das Mädriserhorn ansteigenden Grat nach Osten, dann verließen wir ihn, wo er anfängt in Felsköpfen aufzusteigen, und traversierten nach Angabe des wirklich zuverlässigen, an praktischen, präcisen Details so reichen Itinerars auf der Nordseite. Abwechselnd über steile, aber ganz ungefährliche Schneefelder, dann in prächtiger, völlig harmloser Kletterei über den festen, zuverlässigen, großbrüchigen krystallinischen Fels zogen wir uns, langsam, aber stetig ansteigend, unterhalb der niedrigeren westlichen Spitze durch in den Sattel zwischen dieser und dem Hauptgipfel und dann in wenigen Minuten über den Grat vollends auf die Spitze. Die Partie vom Mädriser-joeh zum Gipfel ist eine der schönsten leichteren Kletterpartieen, deren ich mich erinnere. Es klettert sich wundervoll leicht und sicher über das feste Gestein, das einem stets genügenden Halt bietet und absolut zuverlässig ist.

Der ganze Weg von St. Antönien auf die Spitze mag etwa 5 bis'5]k Stunden gedauert haben; er ist etwas lang, aber in hohem Grad lohnend. Als wir bei dem ungewöhnlich großen Steinmann ankamen, hatte das Wetter sich wieder gebessert. Mit einem kurzen Strichgewitter über Davos und Klosters war das drohende Unheil vorüber, und beinahe die ganze Alpenkette lag wieder im schönsten Sonnenschein. In diesem glücklichen Sommer wollte das Wetter eben einfach schön sein.

Im Steinmannli fanden sich mehrere Flaschen mit einer Menge von Karten vor, aus denen zu ersehen war, daß der Berg namentlich von Klosters aus häufig bestiegen wird. Eine Schilderung der sehr ausgedehnten und malerischen Aussicht wird man mir erlassen. Erwähnt sei nur der prächtige Blick auf das beinahe in seiner ganzen Länge zu Füßen des Beschauers liegende Prätigau. Mit besonderem Interesse betrachtete ich die kurze, kaum zwei Kilometer lange Abzweigung, welche sich vom Madrisamassiv in nordöstlicher Richtung ins Gargellenthal vorschiebt und zu äußerst im Madriserspitz ( 2774 m ) gipfelt. Dieser zerrissene Grat mit seinen fünf kühn gestalteten Gipfeln dürfte wohl nach der Drusenfluh der touristisch interessanteste Teil des Rhätikon sein. Es sind die pittoresken Felshörner, welche den Hintergrund des Gafierthals bilden und ihm vornehmlich den Charakter echt hochalpiner Großartigkeit verleihen. Nach der Angabe des Itinerars sind sämtliche Gipfel erstiegen. Den Madriserspitz hat unter anderen unser Clubgenosse Herr A. Ludwig bezwungen und die anderen sollen erst in einem der letzten Jahre von Österreichern erstmalig bestiegen worden sein. Sie galten sonst lange als ganz unzugänglich, weshalb sie bei den Gemsjägern den Namen „ Frygebirg " führen. Wenn ich je wieder in die Gegend komme, so wird es eine meiner ersten Aufgaben sein, nachzusehen, wie es mit diesen Gipfeln steht. Prachtvolle Klettereien und malerische Felsformen müssen sie allem Anschein nach bieten. Vom Mädriserhorn aus gesehen wendet einem die Kette das Dreiviertelprofil zu, so daß sich die einzelnen Spitzen nicht abheben und man nur einen kompakten Grat ohne rechte Gliederung vor sich sieht.

Wohl zwei Stunden lang gaben wir uns im behaglichen Sonnenschein dem Genuß der Aussicht und des mitgebrachten Proviants hin; dann traten wir den Rückweg an. Zunächst ging 's wieder in den Sattel zwischen beiden Gipfeln hinab, dann begann eine fröhliche, lange Rutscherei über die steilen Schneefelder hinunter. Mit wenigen Unterbrechungen kamen wir so mühelos bis ans untere Ende der Gafierplatten und von dort war nach Überwindung einer kleinen Wand die oberste felsumschlossene, wasserfallgeschmückte Thalstufe des Gafierthals leicht erreicht, welches wir nun von Stufe zu Stufe auf immer besser werdendem Weg auswärts wanderten. Dieses Gafierthal ist in seiner stillen Größe und ernsten, von einem frisch dahinrauschenden, starken Bergbach belebten Lieblichkeit ein wahres Kleinod, dem der St. Antönier Kurgast immer aufs neue seine Schritte zulenkt. Es ist der reizendste Morgen- oder Abendspaziergang, den man sich denken kann. In 45 Minuten, höchstens einer Stunde, erreicht man auf bequemem Weg den Schlangenstein, von dem aus sich der Blick auf den Thalhintergrund aufs schönste erschließt und der selbst eine gar nicht zu verachtende Sehenswürdigkeit ist und eine hochromantische Staffage für den Vordergrund abgiebt. Mitten im Thal erhebt sich ein ganz merkwürdig regelmäßiger, oben spitz zulaufender, mächtiger Felsblock von gewiß reichlich 20 m Höhe, auf der Vorderseite eine einzige, senkrechte, wie glatt polierte Fläche bildend, einem Grabstein im Riesen-maßstab täuschend ähnlich sehend. Eine schönere Stelle zur Anbringung einer Gedenktafel in ganz großem Format wäre kaum zu rinden. Schade, daß das einsame, nur im Sommer bewohnte Thälchen keinen bedeutenden Mann hervorgebracht hat, dessen Andenken der Nachwelt in so monumentalem Stil zu überliefern wäre.

Von der Höhe dieses Steins herunter, so geht die Sage, hat der heilige Antonius die Schlangen, von denen es früher gewimmelt habe, für alle Zeiten aus dem Thal verbannt. In der That sollen in der ganzen Thalschaft von St. Antönien sich gar keine Schlangen, weder giftige noch harmlose, rinden, während in anderen, gar nicht weit entfernten Thälern die Kreuzotterngefahr einen ernsthaften Faktor bildet, mit welchem Älpler und Touristen zu rechnen haben. Die Schlangen-romantik scheint in den Bündner Thälern überhaupt noch nicht ausgestorben zu sein. Als ich einmal die Sprache auf dieses Kapitel brachte, da kamen ganz merkwürdige Geschichten vom Schlangenbannen, von weißen Schlangen und solchen mit einem Paar Vorderbeinen und einem Krönlein auf dem Kopf zum Vorschein. Die Schlangenlosigkeit ist übrigens in meinen Augen ein Vorzug von St. Antönien. In einer Gegend, wo man beständig Obacht geben muß, nicht auf ein giftiges Gewürm zu treten, könnte ich nie heimisch werden.

Über die an einem der nächsten Tage ausgeführte Besteigung der Scheienfluh ( 2639 m ) seien hier nur wenige Bemerkungen gemacht, die vielleicht künftigen Besteigern einen praktischen Wink geben können. Wir verfolgten den von Herrn Imhof im letzten Jahrbuch angegebenen Weg von Plassecken aus zuerst auf die Mittelfluh und dann bald über den Grat, bald etwas rechts traversierend über das Schafläger zum vorderen niedrigeren Gipfel der Scheienfluh. Von dort aus geht es nicht mehr über den Grat weiter, da derselbe in einer unzugänglichen Felswand abbricht. Es fand sich zwar nach einigem Suchen in direkt östlicher Richtung ein schmales Kamin, das uns direkt an den Fuß der Wand gebracht hätte, und von dort aus hätten wir ohne großen Zeitverlust in den Sattel zwischen den beiden Spitzen und zum Signal hinaufsteigen können. Wir hatten aber einen 13jährigen Knaben bei uns, mit dem wir die nicht ganz leichte Kletterei nicht unternehmen durften, und so mußten wir wieder weit zurück und tief hinunter steigen und in weitem Bogen durch endlose, wildzerfressene Karrenfelder zum Sattel zwischen beiden Gipfeln empordringen. Das war eine lange und in ihrer Einförmigkeit arg ermüdende Arbeit. Als wir endlich bei dem kleinen Steinmännchen 4 S li. Stokar.

auf dem Gipfel ankamen, hatte sich das am Morgen prächtig schöne Wetter arg verschlechtert. Über dem Heer der Bündner Spitzen lagerten düstere Wetterwolken; um die benachbarten Gipfel strichen graue Nebelfetzen und nur im Montafun schien die helle Sonne. Gleichwohl habe ich auf der Scheienfluh einen der stärksten Eindrücke erhalten. Schon der unvermittelte Niederblick auf den am Fuß der riesigen Wand nahezu 800 m tiefer liegenden prachtvoll blaugrünen Partnunsee ist die Mühe der Besteigung wert, die man übrigens ohne Zweifel wesentlich geringer gestalten wird, wenn man erst von der Plassecken-Paßhöhe aus links abschwenkt und direkt in den Sattel zwischen den beiden obersten Spitzen einmündet. Die vielen Gegensteigungen fallen so weg und es geht alles viel schneller und einfacher von statten.

Den Abstieg nahmen wir stets der Bergkante entlang zur Tilisunahütte. Auch hier geht es wieder über endlose, an sich ganz unschwierige, aber auf die Länge höchst ermüdende Karrenfelder, so daß man förmlich aufatmet, wenn man endlich wieder einmal weicheren Boden unter den Füßen hat. Auf dem Heimweg wurden wir beim Partnunsee noch von einem tüchtigen Hagelwetter bis auf die Haut durchnäßt.

Am Abend stellte mir Flutsch einen neuen Führer vor, den er mir für die Drusenfluh empfahl, den im Winter im benachbarten Schuders Schule haltenden und im Sommer in St. Antönien seine Güter bewirtschaftenden Lehrer Michel. Der ungewöhnlich hoch gewachsene kräftige Mann machte mit dem scharfgeschnittenen Charakterkopf eines Indianerhäuptlings und dem ruhigen gemessenen Wesen von vorneherein einen Zutrauen erweckenden Eindruck. Als eifriger Gemsjäger hatte er zwar nicht selbst die Drusenfluh abgesucht, wohl aber von Kollegen mancherlei über den Berg vernommen, und zeigte großes Interesse an der Aufgabe.Von Flutsch, mit dem er schon oft zusammen gejagt hatte, wurde er mir als guter schwindelfreier Kletterer bezeichnet. Mit Konrad Flutsch und Michel, so meinte mein Gewährsmann, könne ich ruhig überall passieren, wo überhaupt Menschen durchkommen. Am folgenden Tag war Sonntag, da würde Konrad Flutsch von seinen Mähdern ins Thal herunter kommen, und da könnte man dann abends mit ihm reden und ihn engagieren. Für den Tag schlug mir Flutsch vor, mit Michel einen Versuch zur Besteigung der Sulzfluh direkt über die Südwand zu machen. Es seien schon einmal zwei Gem3jäger da hinaufgekommen. Sollte die oberste Partie, ein schmales abschüssiges Felsband, das zwischen den beiden Gipfeln auf den Grat ausmünde, nicht zu machen sein, so könnten wir nach rechts traversieren und zu oberst ins Gemstobel einmünden. Michel war auch schon in der Gegend herumgeklettert und kannte speciell den letzteren Ausweg. Das Band hatte er nicht passiert, war aber bereit, mit mir wenigstens einmal bis zu der schwierigen Stelle hinaufzuklettern und die Sache anzusehen. So wurde es denn ausgemacht. Früh morgens zogen wir aus, außer Michel und mir noch Herr Walter und der schon erwähnte Stuttgarter Gymnasiast mit Andreas Flutsch. In der Garschinafurke trennten sich unsere Wege. Während ich mit Michel direkt auf die Wände der Sulzfluh lossteuerte, wandten sich die beiden andern mit Flutsch dem Gemstobel zu. Es war vereinbart, daß sie von hinten sich bei der Stelle einfinden sollten, wo wir ins Gemstobel einmünden mußten, wenn der Aufstieg direkt zum Gipfel nicht möglich sein sollte. Sie würden uns dann am Seil über eine glatte Platte hinaufziehen, die ohne diese Nachhülfe nicht wohl passierbar sei.

Als wir dem Berg näher rückten, sahen wir, daß in den oberen Partieen der Fels weiß überstäubt war; es lag offenbar auf allen Bändern und Absätzen noch der Hagel vom Abend zuvor. Da erklärte Michel von vorneherein, unter diesen Umständen werde es nicht möglich sein, das oberste Band zu betreten; dazu sei absolut trockener Boden notwendig.

Jahrbach des Schweizer Alpenclub. 28. Jahrg.4 Trotzdem wollte ich mir die Sache einmal näher ansehen und drang auf den Versuch.

Nachdem die sehr lästige, dem Berg vorgelagerte Schutthalde überwunden war, betraten wir über einen Schneefleck den Fels und begannen die Kletterei, die uns langsam, aber ohne ungewöhnliche Schwierigkeit abwechselnd über Felsstufen und Schuttbänder bis etwa in Zweidrittelshöhe der Wand förderte. Freilich war beständig die äußerste Vorsicht und Aufmerksamkeit nötig, da das Gestein von denkbar ungünstigster Beschaffenheit war, und einem unter Hand und Fuß vorweg in kleine Stücke zerbröckelte. Es imponierte mir wahrhaft, wie Michel, der nicht einmal einen Stock bei sich hatte, mit großen Schritten über die abschüssigen, lockeren Schuttbänder wegschritt, als ginge er auf gebahntem Weg, während ich mit Sorgfalt jede Bewegung überlegen und mich mit allen vieren am Berg ankleben mußte. Diese absolute Sicherheit des Tritts erreicht doch wohl nur der Bergbewohner, der sich von Jugend auf in den Bergen bewegt und bei der Jagd sich gewöhnt hat, in raschem Lauf über die Schutthalden und Bänder wegzueilen, um den Tieren den Weg abzuschneiden.

Schließlich kamen wir bei der sogenannten „ höchen Schüpfen " an, einer flachen Höhle, welche man von unten mit dem Fernrohr deutlich erkennt. Hier sollte die schwierige Stelle beginnen. Über einer hohen, glatten, man kann wohl sagen absolut senkrechten Felswand von schwarzer Farbe hin zog sich in der Richtung nach links etwas ansteigend das gefürchtete Band, eigentlich richtiger gesagt kein Band, sondern eine ziemlich breite, aber unheimlich abschüssige Halde ohne festen Fels, mit lauter lockerem, unter jedem Tritt nachgebendem Geröll, jetzt überdies mit Hagelkörnern bedeckt. Michel erklärte rundweg, es gehe unter diesen Umständen nicht, wir müßten umkehren. So gerne ich das Unternehmen durchgesetzt hätte, so mußte ich mir doch gestehen, daß es sich in der That um ein schwieriges und in diesem Falle positiv gefährliches Wagnis handelte. Es sah nicht so aus, daß ich einem zuversichtlich vorangehenden Führer nicht gefolgt wäre. Die Verantwortung hätte ich aber nicht übernehmen mögen, den widerstrebenden Führer gegen seinen Willen zu dem Abenteuer zu nötigen.

So kehrten wir denn um, nachdem wir noch ein kleines Steinmännchen an der, wie Michel versicherte, noch nie von einem Touristen erreichten Stelle errichtet hatten. Das Band oder „ SträlJli ", wie Michel es für die Begriffe eines Thalmenschen komisch genug nannte, habe ich mir aber für später notiert. Da mache ich unter günstigeren Umständen doch noch einmal einen Versuch. Auf diese Weise der gewaltigen Felsbastei der Sulzfluh direkt von Süden aus beizukommen, wäre in der That eine verlockende Aufgabe, auf welche ich Kletterlustige hiermit aufmerksam machen möchte.

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Zunächst hatten wir nun wieder eine Strecke weit hinunterzuklettern; dann trafen wir auf ein ziemlich breites, ohne weitere Schwierigkeit gangbares Band, das wir in östlicher Richtung verfolgten, bis es auf den Grat einmündete. Dort war eben kurz vor uns Kolonne Nr. 2 durch das Gemstobel eingetroffen, recht froh, uns unversehrt zu sehen, da das erwähnte „ Sträßli " in der Gegend als sehr gefährlich gilt. Ihrer Hülfe mit dem Seil bedurften wir nicht, da sich ein enges Kamin zeigte, durch das wir uns auf die Grathöhe hinaufarbeiten konnten.

So war denn der Versuch gescheitert; immerhin bedauerte ich nicht, ihn unternommen zu haben, hatte ich doch den Berg auf seiner ebenso imposanten als interessanten Vorderseite näher kennen gelernt und einem künftigen, hoffentlich erfolgreicheren Anlauf den Weg geebnet.

Von der erreichten Grathöhe aus zogen wir uns der linken Seite des Gemstobels entlang über Schnee und Schutt auf die Höhe des Sulzfluh-gletscherchens und erreichten weiter auf dem gewöhnlichen Weg den Gipfel. Das am Morgen noch recht zweifelhafte Wetter hatte sich inzwischen entschieden aufgehellt, so daß wir zum zweiten Mal die Aussicht in nahezu tadelloser Schönheit zu genießen bekamen. Von der Spitze aus begaben wir uns zunächst in die Einsattelung zwischen den beiden Gipfeln, wo das erwähnte „ Sträßli " einmündet, um dasselbe auch von oben anzusehen. Auch die oberste Strecke sieht nicht eben verlockend aus; es bestätigte sich auch hier, daß es sich offenbar um ein ernsthaftes Unternehmen handeln würde, bei dem die äußerste Behutsamkeit von nöten wäre.

Auf dem Rückweg besuchten wir noch die bekannten Sulzfluhhöhlen, vor denen ich hiermit jedermann warnen möchte, der nicht ganz besondere wissenschaftliche Specialinteressen verfolgt. Der Zugang ist nicht schwierig, aber mühsam und zeitraubend, und was man schließlich findet, das sind ganz gewöhnliche Löcher ohne schöne Tropfsteinformationen und ohne hohe, weite Räume. Außer Beulen am Kopf und schmutzigen Kleidern ist da nichts zu holen.

Auf dem Heimweg von Partnun trafen wir Konrad Flutsch, der sich auch bereit zeigte, die Führung der Drusenfluh-Expedition zu übernehmen. Es wurde vereinbart, daß wir, Konrad Flutsch, Michel und ich, am kommenden Dienstag zusammen ausziehen würden.

Nach einem prachtvollen Abend war zu unserer Überraschung am Dienstag früh das Wetter recht zweifelhaft geworden. Trotzdem brachen wir auf, in der Hoffnung, der günstige Witterungscharakter dieses Sommers werde auch diesmal wieder zum Durchbruch kommen. Der Weg zur Garschinafurke und durch die drei Ganden bot nichts Bemerkenswertes; das Wetter hatte sich nach wiederholtem Schwanken eher zum Schlimmem gewendet. Flutsch war der Ansicht, wir sollten zuerst, bevor wir hinter dem Schweizerthor ansetzten, auf der Schweizerseite einen Versuch über den Roten Gang machen. Es war ihm bekannt, daß die Gemsen denselben regelmäßig passieren und auch wirklich auf die Grathöhe gelangen, und zwar nicht nur in Notfällen, wenn sie gehetzt sind, sondern freiwillig und in aller Ruhe. Da war doch die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß auch Menschen durchkommen könnten. Da wir früh aufgebrochen und tüchtig marschiert waren, hatten wir noch Zeit genug, es auf der hinteren Seite zu versuchen, wenn der Rote Gang nicht zum Ziele führen sollte. Als wir den Aufstieg begannen, steckte die ganze Bergwand im dichten Nebel. Am Fuß des Roten Gangs nahmen wir eine kleine Stärkung zu uns und ließen hier den Tornister unter einem überhängenden Stein liegen. Der eigentliche Rote Gang erwies sich, wie vorauszusehen, als ohne Schwierigkeit begehbar. Das dunkelrote schieferige Gestein, vermutlich Seewerkalk, zerbröckelte zwar leicht, bot aber Halt genug für Hand und Fuß und die Steigung war nicht besonders steil. Das Band reicht aber in der That nicht weiter, als man es von unten aus übersieht. Es verläuft sich allmählich an der weißen Kalkwand und geht bald völlig aus. Nachdem wir uns unter einem überhängenden Fels in gebückter Lage durchgezwängt hatten, standen wir auf einem Absatz der Wand, ungefähr in halber Höhe derselben. Das war nun die kritische Stelle, an der es sich entscheiden mußte, ob der Versuch fortzusetzen oder als gänzlich aussichtslos aufzugeben sei. Wir waren einstimmig der ersteren Meinung. Soweit sich bei dein dichten Nebel beurteilen ließ, standen wir nicht vor einer einheitlichen glatten Wand, sondern es erhob sich etwas in der Richtung nach links Felsstufe über Felsstufe, über die man wenigstens vorderhand wohl emporzukommen hoffen durfte. Es ging auch ganz gut unter der äußerst vorsichtigen und bedächtigen, aber sicheren und Zutrauen erweckenden Leitung des augenscheinlich sehr bergkundigen und erfahrenen Flutsch. Ein Hauptaugenmerk richtete er darauf, die deutlich erkennbaren Gemsspuren nicht zu verlieren, die, wie er versicherte, noch ganz frisch waren. Stets von neuem wieder entdeckten wir Spuren der Hufe und Exkremente, welche uns die beruhigende Versicherung gaben, daß wir auf der richtigen Fährte waren. Eine gute Stunde etwa mochte die Kletterei dauern; von Stufe zu Stufe arbeiteten wir uns empor, ohne daß je eine eigentlich schwierige Stelle gekommen wäre. Mit etwelchem Erstaunen bemerkte ich dabei, mit welcher Langsamkeit und äußersten Vorsicht sich meine beiden Führer bewegten. Das Gestein ist an der Drusenfluh von wesentlich anderer, mir weit besser zusagender Art als vorne an der Sulzfluh. Man hat hier meist harten großbrüchigen Fels unter den Händen, der zwar auch hie und da bröckelt, an dem man aber festen Halt für die Hände hat, wenn erst die lockeren Steine und Kanten abgebrochen oder vermieden sind. Das ist nach meinen Begriffen die richtige schöne Felskletterei, in welcher ja einer der Hauptreize des Bergsteigens liegt. Meine Führer waren anderer Meinung. Während Michel an der Sulzfluh in dem infamen Stein-.

gebröckel sich mit einer Schnelligkeit und Sicherheit bewegt hatte, die meine aufrichtige Bewunderung hervorrief, mußte ich zu meinem größten Erstaunen wahrnehmen, daß ich ihm hier im harten Fels so ziemlich gewachsen war. Er wünschte sich die Schuttbänder der Sulzfluh herbei und auch Flutsch bestätigte mir, daß ihm dieselben leichter erscheinen als die gegenwärtige Kletterei, die mir ganz behaglich vorkam.

Leider wurde das Wetter immer schlechter; zu dem Nebel kam bald noch ein durchdringender feiner Regen, der immer kälter wurde, je höher wir stiegen. Schließlich erklärten meine Führer kategorisch, es gehe nicht mehr weiter, wir müssen umkehren. Michel hatte so erbärmlich kalte Hände, daß er den Fels nicht mehr fest anpacken konnte, und Flutsch fürchtete, der Kegen könnte in einen tüchtigen Schneefall übergehen, welcher die Sache entschieden lebensgefährlich gestaltet haben würde. Er drang darauf, so schnell wie möglich wieder aus den Felsen an den Fuß des Berges zu kommen.

Unmittelbar über uns ragte aus der Gratlinie weit überhängend ein mächtiger, kolbenförmig gestalteter Felsblock in die Luft; links davon, höchstens 20 bis 30 m über uns, war offenbar die Grathöhe. Umsonst stellte ich meinen Leuten vor, da oben würden wir wenigstens sehen, wie es auf dem Grat weiter gehe; es sei doch auch gar zu ärgerlich, so nahe beim ersten entscheidenden Hauptabschnitt umkehren zu müssen. Es war nichts auszurichten. Etwas ärgerlich allerdings gab ich notgedrungen meine Zustimmung zur Umkehr. Auch ich fror tüchtig an die Hände; allein darüber hätte ich mich im Eifer des Gefechtes hinwegsetzen können. Als Markstein der erreichten Höhe errichteten wir ein kleines Steinmännchen, in dem ich meine Karte mit einigen in der Kälte mühsam hingekritzelten Worten deponierte; dann ging 's wieder die Wand hinunter.

Der Abstieg ging rasch und ohne Unfall von statten; in halber Höhe fanden wir unsere Stöcke, die wir hier hatten stehen lassen, und am Fuß des Roten Ganges unseren Tornister. Weiter unten räumten wir unter einem überhängenden Felsen mit dem mitgebrachten Proviant vollends auf. Kaum hatten wir hier einige Zeit gesessen, so hörte der Regen auf und die Sonne brach hell und warm durch die Wolken. Die Drusenfluh war inzwischen auch wieder nebelfrei geworden; wir konnten den zurückgelegten Weg ganz deutlich mit dem Fernrohr verfolgen und uns überzeugen, daß unsere Annahme, der Grathöhe ganz nahe gekommen zu sein, durchaus richtig war. Eine genaue Vergleichung mit der Karte brachte mich zu der Ansicht, man würde bereits östlich von Punkt 2633 den Grat erreichen, und da Herr Imhof bei seiner Drusenfluh-Besteigung im Herbst 1890 diesen Punkt auch berührt hat, so nahm ich an, mit der Erreichung des Grates sei der Erfolg gesichert. Einen Augenblick schwankten wir, ob wir nicht von neuem ansetzen sollten; die Zeit war iaber doch schon ziemlich vorgerückt und die Besserung des Wetters offenbar nur eine vorübergehende. So begnügten wir uns denn mit dem Resultat, daß wir augenscheinlich am richtigen Ort eingesetzt und die Aufgabe der Lösung nahegeführt hatten. Die endgültige Erreichung des Zieles am nächsten schönen Tag war kaum mehr fraglich. So traten wir denn den Rückweg an und kamen noch ziemlich früh, wider Erwarten ohne Regen, in St. Antönien an, so daß wir fast bedauerten, unser Glück nicht, doch nochmals versucht zu haben. In der Garschinafurke trennte sich Flutsch von uns, um sich nach seinen Partnuner Mähdern zu begeben. Er ließ sich nicht dazu bestimmen, beim zweiten Versuch an der Drusenfluh wieder mitzukommen, da er nicht zwei Tage in einer Woche von der dringenden Arbeit beim Heuen weg sein könne. Überdies meinte er, zwei Führer seien jetzt nicht mehr nötig, ich werde mit Michel allein schon durchkommen. Nur wenn sich die Sache bis zum Sonntag verziehen sollte, an dem hier auch während des Heuets streng jede Arbeit unterbleibt, wollte er sich uns gerne wieder anschließen.

Es folgten nun zwei trostlose Regentage, über die man sich freilich nicht beklagen durfte, nachdem das Wetter so lange günstig gewesen war. Donnerstag nacht regnete es nach einer kurzen Aufhellung vor Sonnenuntergang wieder mit Kübeln, so daß ich keine Hoffnung für den folgenden Tag hegte. Freitag den 12. August früh lachte aber die Sonne vom wolkenlosen Himmel. Wenn auch zu erwarten war, daß es bei der großen Feuchtigkeit des Bodens nicht den ganzen Tag so bleiben werde, so wollte ich doch nicht länger zuwarten, sondern den vielleicht nur vereinzelten ordentlichen Tag ausnützen, da meines Bleibens in St. Antönien nicht mehr lange war und ich nicht ohne einen nochmaligen Versuch abziehen wollte. Hätte ich freilich ahnen können, daß der heutige Tag nur die Einleitung zu einer mehrwöchentlichen, sozusagen ununterbrochenen Schönwetterperiode bilden werde, so hätte ich noch einen Tag zugewartet.

Da am Abend zuvor nichts vorbereitet worden war, so wurde es beinahe 7 Uhr, bis wir aufbrechen konnten. Da galt es nun, sich beeilen, denn wir hatten einen weiten Weg vor uns, ehe wir nur zum Beginn der eigentlichen Arbeit am Fuß des Berges angelangt waren. So streckte denn Michel seine langen Beine gewaltig und auch ich that mein möglichstes, um mit meinem kürzern Gangwerk nicht zurückzubleiben. In der verhältnismäßig kurzen Zeit von 31/* Stunden hatten wir die Garschinafurke und die drei Ganden hinter uns und standen am Fuß der Drusenfluh angesichts des Roten Ganges. An derselben Stelle wie drei Tage zuvor wurde wieder ein kurzer Frühstückshalt gemacht und der Tornister geborgen. Das Wetter hatte sich fast über Erwarten ordentlich gehalten; zwar stiegen aus den Thälern immer von neuem weiße Dunstmassen empor, allein die Sonne verzehrte sie vorweg, so daß man auf den endgültigen Sieg des guten Wetters hoffen konnte. Leider hatte sich gerade an der Drusenfluh wieder ein hartnäckiger Nebel festgesetzt, der nicht weichen wollte.

Der Aufstieg über den Roten Gang und die Wand bis zu der Stelle, wo uns Regen und Kälte zur Umkehr genötigt hatten, ging ohne Aufenthalt von statten. Obschon auch diesmal wieder im dichten Nebel, fanden wir uns doch mit Hülfe der Gemsspuren und unserer Erinnerung leicht zurecht. Hatte die Sache schon das erste Mal keine ernsthaften Schwierigkeiten geboten, so kam uns der Aufstieg jetzt, da wir uns auf bereits bekanntem Boden befanden und nicht durch Regen und Kälte zu leiden hatten, vollends leicht vor. Um uns beim Rückweg vor dem Fehlgehen im Nebel zu wahren, brachte Michel in kurzen Abständen an allen hervorstechenden Punkten deutliche Striche mit Rötel an. Das Steinmännchen stand noch unversehrt an seinem Platz. Es sollte sich nun aber zeigen, daß unser doch größere Schwierigkeiten harrten, als wir vermutet hatten; wir waren das erste Mal gerade an der Stelle umgekehrt, wo die Sache anfangt schwierig zu werden. Eine hohe senkrechte Felsstufe war zunächst noch verhältnismäßig einfach zu bezwingen, nachdem sorgfältig jeder Griff auf seine Haltbarkeit geprüft war; dann kam aber bald die oberste Partie hart unter der Grathöhe; die gab uns ordentlich zu schaffen. Geradeaus erhob sich eine abschüssige glatte Wand, vielleicht 10 m hoch; sie zeigte wohl genügend breite und zahlreiche Absätze; aber ungeschickterweise waren diese nicht horizontal, sondern stark abschüssig, so daß es offenbar nicht leicht sein konnte, da hinauf zu kommen. Gleichwohl wollte ich es geradeaus versuchen; Michel aber wandte sich nach links und kroch in einen engen Felsspalt, durch den man sich eben noch knapp ein Stück weit auf eine Zwischenstufe hinauf winden konnte. Nun kam die schwierigste Stelle. Es galt zuerst mit einem weiten Schritt den Spalt zu überschreiten, dann auf den Knieen über eine abschüssige glatte Platte hinaufzukriechen, oben angekommen, sich zu erheben, festen Fuß zu fassen, eine vorspringende Felsecke mit den Armen zu umfassen und sich mit einem entschlossenen Ruck um dieselbe herumzuschwingen. Wie es jenseits aussehen würde, war nicht zu überblicken. Aller Wahrscheinlichkeit nach mußte man dann auf der Grathöhe stehen.

Nach einigem Zögern wurde der fatal erscheinende Schwung gewagt, und siehe da, er war nicht halb so schlimm, wie er von unten aus den Anschein hatte. Hinter der Ecke fand sich wieder fester Boden und mit einem Schlag standen wir auf der Grathöhe im hellsten Sonnenschein. Die österreichische Seite des Berges lag völlig nebelfrei vor unseren Augen.

Die Umschau nach dem weiter zu verfolgenden Weg erzeugte nun aber aufs neue lange Gesichter. So einfach, wie wir es uns vorgestellt hatten, war die Sache noch lange nicht. Statt daß wir bei Punkt 2633 m Nieder gar schon östlich desselben gestanden hätten, wie ich gehofft hatte, befanden wir uns offenbar noch weit unterhalb und westlich desselben, etwa in der Höhe von 2400 m. Gerade vor uns stieg der Grat in einem gewaltigen Felsturm auf, dem direkt beizukommen absolut undenkbar war. Wir mußten also eine gute Strecke auf der österreichischen Seite traversieren, und zwar zunächst wieder ein ziemliches Stück der gewonnenen Höhe einbüßen, da sich von der vor uns liegenden Grathölie ein unübersteigbarer Ausläufer nordwärts absenkte, welcher ziemlich weiter unten in einer Felsecke endigte. Diesen mußten wir erst umgehen, bevor wir einen Überblick über die weiter einzuhaltende Richtung gewinnen konnten. Es war also immerhin noch sehr zweifelhaft, ob wildem Gipfel würden beikommen können, und unsere bereits hoch gestiegene Siegeszuversicht sank beträchtlich.

Zur Sicherheit für den Rückweg wurde die Ausmündungsstelle auf den Grat durch eine tüchtige Rötelmarke bezeichnet und auf einem benachbarten Gratvorsprung ein kleines Steinmännchen errichtet und dann der Weitermarsch angetreten. Zunächst ging es über unschwierigen Schnee; dann kam aber wieder eine ungemütliche Passage.Vor der erwähnten Felswand, welche wir unten zu umgehen hatten, lag eine nicht sehr breite, aber hohe und lange, vollkommen glatt polierte Kalkplatte von sehr bedeutender Neigung. Über diese mußten wir hinunter. Uns etwa rutschend darüber hinunter zu lassen, war absolut unthunlich, denn unten lief sie auf ein schmales, lockeres Schuttband aus, und dahinter verlor sich der Abgrund ins Ungewisse. An einer Stelle war es möglich, mit Hülfe einer kleinen Spalte die Platte kriechend zu überschreiten und jenseits sich am Felsen festzuhalten. Nun legten wir uns der Länge nach auf die Seite und ließen uns der Wand entlang die Platte hinunter, uns von Vorsprung zu Vorspning an den Fels anklammernd. Glücklicherweise war der letztere zuverlässig, und so kamen wir glücklich unten an, nicht ohne einen kräftigen Seufzer der Erleichterung auszustoßen.

Jenseits der erwähnten Felsecke öffnete sich der Blick auf die Grathöhe, und zwar war das Ergebnis der Ausschau kein unerfreuliches. Über Schnee, Schutt, unschwierige Felsen und Karrenfelder stiegen wir nun in südöstlicher Richtung gegen den Grat empor, den wir auch ohne nennenswerte Schwierigkeit an einer erhöhten Stelle erreichten, die sich durch das von Herrn Imhof erwähnte Steinmännchen als Punkt 2633 zu erkennen gab.

Nun hatten wir gewonnenes Spiel; von jetzt an war der Weg zum Gipfel schon begangen, und da würden wohl auch wir durchkommen. Ich hatte mir die Beschreibung des Herrn Imhof im vorletzten Jahrbuch genau eingeprägt und konnte nunmehr die Führung übernehmen. Es stimmte alles ganz genau mit dieser Beschreibung, so daß ich in jedem Moment genau angeben konnte, wo wir uns befanden: jetzt auf dem.

schmalen Felsband auf der linken Seite der Gratschneide; dann kam der zu überkletternde, große, gelbe Felskopf; dann ging 's in eine kleine Einsattelung hinunter, von der aus wir auf den zunächst ziemlich breiten, ansteigenden Gang auf der Schweizer Seite einmündeten. Einzig hier dürfte die sonst durchaus zutreffende und sehr anschauliche Beschreibung dahin zu berichtigen sein, daß es sich eigentlich um zwei parallel übereinander liegende Felsbänder handelt, welche sich noch weiter nach Osten fortsetzen, nachdem man je durch einen Felsspalt zuerst das obere Band und dann von diesem aus weiter östlich den Gipfelgrat erreicht hat. Die Schwierigkeit erschien uns auf der ganzen Strecke seit Erreichung des Grats beträchtlich geringer, als ich nach der Beschreibung erwartet hätte. Eine wirklich schwierige oder bedenkliche Stelle findet sich nirgends. Nach dem weiter unten Erlebten war das alles ein harmloses Nachspiel, wozu allerdings das Bewußtseiji wesentlich beigetragen haben mag, daß wir uns auf bekanntem, schon von andern begangenem Boden befanden. Auch hatten wir mitten im Hochsommer natürlich nicht mit vereisten Stellen zu kämpfen, die Herrn Imhof im Oktober namhaft zu schaffen gegeben haben mögen.

Um 1 Uhr 5 Min., nach cirka 28,'4stündiger Kletterei, standen wir auf einem Punkt des langen, zerrissenen Gipfelgrats, der mit einem kleinen, schwächlichen Steinmännchen gekrönt war und so ziemlich der höchste zu sein schien. In dem Steinmännchen fand sich keinerlei Wahrzeichen. Auf einem weiter westlich gelegenen Punkt war auch etwas sichtbar, das ein Steinmännchen sein konnte. Wahrscheinlich lag dort die Flasche mit den Notizen der früheren Besteiger. Die Zeit war aber schon so vorgerückt, der heute noch zurückzulegende Weg so lang, daß wir auf den Besuch jener Zacke verzichteten. Ein auch nur einigermaßen beträchtlicher Höhenunterschied konnte zwischen den beiden nicht bestehen, wohl aber hätte uns die weitere Verfolgung des Gipfelgrates einige Zeit gekostet und die war jetzt kostbar.

Wir erhöhten zunächst das Steinmännchen um ein Beträchtliches und brachten in demselben meine Karte mit einer kurzen Notiz unter. Eine lange Dauer wird ihr freilich dort ohne den Schutz einer Flasche nicht beschieden sein. Auf einer Felsplatte malte sodann Michel mit extra mitgebrachter roter Farbe in großen Zügen unsere Initialen und das heutige Datum hin. Die werden wohl dauerhafter sein.

So war denn nach dreimaligem Ansetzen das hartnäckig verfolgte Ziel erreicht. ( Ich habe nämlich vergessen zu bemerken, daß ein erster Anlauf gar nicht zum wirklichen Versuch gediehen ist, sondern nur zu einer arg flohgeplagten Nacht in der Sporenalp und zum Rückmarsch im strömenden Regen geführt hat. ) So geringfügig, mit dem gewöhnlichen Menschenverstand gemessen, ein solcher Erfolg auch erscheinen, so weniger einem außerhalb des specifischen Bergsteige-Interesses Stehenden be- deuten mag, so erweckt er eben doch in demjenigen, dem er vom Glück beschieden worden, ein ganz eigenartiges Gefühl der Genugthuung. Speciell in unserem Falle war mit der Auffindung eines Zugangs von der Schweizer Seite eine Aufgabe gelöst, die unter den im Clubgebiet zu lösenden in erster Linie stand. Die Drusenfluh ist ohne Zweifel die stolzeste und interessanteste Gestalt der ganzen Rhätikonkette, und der S.A.C. hätte die Aufgabe, die ihm durch die Erhebung dieser Kette zum dreijährigen Clubgebiet gestellt war, nur unvollständig gelöst, wenn dieser Zugang nicht gefunden oder wenigstens seine Unmöglichkeit durch praktischen Versuch konstatiert worden wäre. So wird es mir kein vernünftiger Mensch verargen, wenn ich ein Gefühl des Triumphes nicht ganz unterdrücken konnte und demselben gar zu gerne durch Anstoßen auf das Wohl des S.A.C. Ausdruck gegeben hätte. Leider aber lag der Wein weit unten am Fuß des Roten Ganges.

Ein besonderes Verdienst lag ja für mich in der Erreichung des Zieles nicht. Nachdem Herr Imhof die Aufgabe klargestellt und ich in nahezu dreiwöchentlichem Aufenthalt in St. Antönien reichlich Gelegenheit gehabt hatte, mich genau zu informieren, brauchte es nur noch etwas Hartnäckigkeit und Glück. Was die Schwierigkeit betrifft, so ist es nicht leicht, eine richtige, auch den etwaigen Nachfolgern zutreffend erscheinende Schätzung zu geben. Unumgängliche Voraussetzung ist natürlich das allgemeine Handwerkszeug des Bergsteigers, sozusagen unbedingte Schwindelfreiheit und ein gewisses Maß von Erfahrung und Technik im Felsklettern. Weder das eine noch das andere wird aber je in dem Grad in Anspruch genommen, daß man nicht mit gutem Gewissen ruhig weiter klettern dürfte. Es giebt nirgends eigentlich halsbrecherische Stellen, wo man das Bewußtsein hätte, daß Leben und Tod an einem von der eigenen Kraft und Geschicklichkeit völlig unabhängigen stupiden Zufall hängen, etwa daran, ob ein recht dubios aussehender Stein, dem man das Gewicht des Körpers ganz anvertrauen muß, halten werde oder nicht. Mein Eindruck ist der, daß die Sache zwar durchaus nicht leicht ist, vielmehr die Anspannung der äußersten Sorgfalt erfordert, daß sie aber doch von jedem geübten Kletterer ohne alle Besorgnis unternommen werden kann. Akrobatenkünste werden nicht verlangt. Ein Seil hatten wir bei uns, machten jedoch nirgends Gebrauch von demselben.

Es ist wohl auch denkbar, daß einem eine Kletterpartie schwieriger erscheint, wenn man sie, namentlich im dichten Nebel, erst neu aufsuchen muß, als wenn man einfach einem Führer folgen kann, der das Terrain aufs genaueste kennt und keinen Augenblick über die einzuschlagende Richtung im Zweifel ist. Ein wirklich maßgebendes Urteil über die Schwierigkeit werden erst künftige Besteiger abgeben können, welche den Weg über den Roten Gang unter günstigen Umständen und kundiger Führung ebenfalls einschlagen. Soviel glaube ich sagen zu können, daß die Passierung des „ Sträßli " an der Südfront der Sulzfluh ganz bedeutend schwieriger sein würde. Daß die Tour recht zahlreiche Liebhaber finden möge, ist mein aufrichtiger Wunsch. Ich kann sie jedem Freund einer schönen Kletterei als in hohem Grad lohnend und interessant lebhaft empfehlen. In Lehrer Michel ist ja nun ein zuverlässiger und in jeder Beziehung empfehlenswerter Begleiter zur Hand, und im übrigen, wird sich auch sonst jeder tüchtige Führer zurechtfinden, so gut wie es uns gelungen ist.

Daß der Zugang nicht schon fiüher aufgefunden worden ist, nachdem der Rhätikon doch drei Jahre hintereinander Clubgebiet war, ist mir, offen gestanden, schwer begreiflich und spricht kaum dafür, daß das Institut der Clubgebiete bei unseren Mitgliedern die Beachtung findet, die ihm eigentlich gebührt. Durch das treffliche Itinerar war die Aufmerksamkeit der Clubisten gebührend auf die Drusenfluh hingelenkt worden. Wer einmal das Schweizerthor passiert hat, dem muß der Rote Gang geradezu verlockend in die Augen gestochen haben. Wenn das Bändchen an der Sulzfluh ein „ Sträßli " war, so ist der Kote Gang eine Landstraße I. Klasse, so breit und bequem ansteigend zieht er sich die Wand empor. Daß die Gemsjäger sich nie daran versucht haben, ist mir eher begreiflich. Ein solches Band hat für sie großes Interesse, wenn es auch für die Gemsen eine Sackgasse ist. Wenn es ihnen gelingt, die Tiere da hineinzutreiben, so haben sie sie sozusagen gefangen. Durch Schüsse in die Felsen werden sie genötigt, wieder herunter zu kommen, und dann werden sie bequem weggeknallt. Weiß aber der Jäger, daß die Gemsen oben einen Ausweg finden und auf der hinteren Seite des Berges verschwinden können, so hat die Sache für ihn den praktischen Wert verloren, und aus bloßem Bergsteigesport unternimmt er in der Regel nicht viel.

Mit der Aussicht hatten wir 's nicht glänzend getroffen. Sichtbar war fast nichts als die kühne Zimbaspitze, ein Teil des Montafuns, die Kirchlispitzen und zeitweise die Scesaplana. Apropos Kirchlispitzen, glaube ich von der Drusenfluh aus bemerkt zu haben, daß dieselben entgegen der von Herrn Ludwig im letzten Jahrbuch pag. 35 ausgesprochenen Ansicht auch von der Südseite aus ohne besondere Schwierigkeit bestiegen werden könnten. Ich habe ganz deutlich ein ganzes System von zusammenhängenden grünen Rasenbändern wahrgenommen, welche ohne Unterbruch bis auf die Höhe führen und in gewiß recht interessanter Kletterei gangbar sein dürften. Über die mangelnde Fernsicht konnte ich mich am Ende trösten, da sie von derjenigen der Sulzfluh kaum wesentlich verschieden sein wird. Das Wichtigste, auf das mir am meisten ankam, den Überblick über das Massiv der Drusenfluh selbst, hatte ich vollständig ungetrübt. Der Nebel war völlig geschwunden, das Wetter überhaupt augenscheinlich im Aufhellen begriffen. Der prächtige Gebirgsstock entwickelt sich von der Spitze aus gesehen in seiner ganzen reich gegliederten Schönheit. Es dürfte wenig Berge geben, die bei so bescheidener ab-solnter Höhe einen so stolzen, wilden, echt hochgebirgsartigen Charakter tragen. Besonders pikant ist der Niederblick auf den hübschen kleinen Gletscher, dessen Spalten bläulich heraufschimmern. In die Scharte des Eisjöchl sieht man nicht hinunter. Der von Herrn Imhof ausgesprochenen Ansicht, daß der Versuch, von der Spitze aus zum Eisjöchl ab- und von dort auf den höchsten der Drei Türme aufzusteigen, wenig Aussicht auf Erfolg haben würde, ist durchaus beizustimmen. Zum Eisjöchl fallen beiderseits die Wände nicht nur senkrecht, sondern geradezu überhängend ab. Die Einsattelung mahnt förmlich an ein ausgeschweiftes Thor maurischen Stils.

Da wir noch einen weiten Weg zurückzulegen hatten und Michel namentlich seiner Frau wegen, die in Todesangst um ihn schwebte und ihn nur sehr ungern hatte ziehen lassen, möglichst früh zu Hause sein wollte, so konnten wir nicht länger als eine halbe Stunde auf dem Gipfel bleiben. Teils weil wir den Berg gern auch auf der Rückseite kennen lernen wollten, teils auch weil uns die schlimmsten Stellen unseres Weges für den Abstieg einige Besorgnis erregten, beschlossen wir, den Imhofschen Weg zum Öfenpaß hinunter einzuschlagen. Hatten wir denselben nach Herrn Imhofs Beschreibung in seinem oberen Teil ohne Mühe gefunden, so würde es ja wohl auch weiter unten gehen. Es ging auch wirklich über Erwarten leicht und rasch. Etwas vor Punkt 2633 schwenkten wir rechts ab und stiegen über unschwierige Felsen, einzelne Schneeflecken und Karrenfelder thalwärts, bis wir schließlich nach rechts auf ein großes Schneefeld einmündeten, das die ganze Mulde zwischen zwei vorspringenden Felsgräten ausfüllte und in jähem Fall wohl einige hundert Meter tief hinunterreichte. In seinem obersten Teil war es so steil, daß wir, das Gesicht bergwärts gekehrt, langsam Schritt für Schritt wie auf einer Leiter hinabsteigen mußten, mit den Händen jeweils tief in die eben verlassene Stufe eingreifend. Da war es nun allerdings etwas unangenehm daß wir die Stöcke jenseits des Berges in den Felsen hatten stehen lassen, wo die Kletterei angefangen hatte schwieriger zu werden. Sobald die Neigung etwas weniger steil wurde, setzten wir uns in den Schnee und fuhren in sausender Geschwindigkeit hinunter. Wir konnten das ohne alle Gefahr thun, da das Schneefeld unten in eine ebene, sogar wieder etwas ansteigende Mulde auslief, wir also nicht riskierten, in die Felsen oder gar in einen Abgrund geschleudert zu werden.

Unten angekommen, hatten wir nur noch eine steile Felsstufe von mäßiger Höhe hinunter zu klettern, dann standen wir auf der Höhe des Öfenpasses. Auch hier fanden sich zusammenhängende Felsabsätze und Rasenstufen, über die wir mit einiger Vorsicht rasch hinunterkamen. Die allerletzte Partie war « och ein kurzer Kamin, durch den man sich mit beiderseitigem Anstemmen hinablassen mußte. Ob es gerade die beste Abstiegstelle gewesen sein mag, weiß ich nicht. Wir hielten uns nicht lange mit Suchen auf. Die prächtige Rutschpartie hatte uns so rasch zu Thal gefördert, daß wir nach wenig mehr als einer Stunde auf dem Öfenpaß standen. Der Abstieg war uns weit leichter vorgekommen, als wir erwartet hatten. Ich stehe nicht an zu behaupten, daß bei günstigen Schneeverhältnissen, namentlich wenn man nicht wie Herr Imhof mit vereisten Felsen zu kämpfen hat, die Besteigung der Drusenfluh von hier aus von der Liste der schwierigen Unternehmungen zu streichen ist. Ich -habe keine einzige Stelle gefunden, die über das hinausginge, was beispielsweise an einem so häufig begangenen Berg wie dem Altmann im Säntisgebiete vom Bergsteiger verlangt wird. Schwindelfreiheit ist natürlich vorausgesetzt. Bei starker Vereisung kann die Sache freilich ein anderes Gesicht gewinnen; auch ist denkbar, obwohl nicht eben wahrscheinlich, daß in schneearmen Jahren oder im Herbst schwierige Stellen zum Vorschein kommen könnten, welche jetzt unter dem großen Schneefeld versteckt lagen; am ehesten könnte man noch bei den untersten Felsköpfen von etwelcher Schwierigkeit sprechen. Ängstlichere Leute müßte man da vielleicht am Seil den untersten Kamin hinaufbefördern, wenn sich keine bequemere Aufstiegstelle finden sollte.

Beim Abstieg hatten wir gesehen, daß der von mir ursprünglich in erster Linie in Aussicht genommene Versuch, vom Schweizerthor direkt auf den Grat und über diesen weiter zum Gipfel zu gelangen, völlig aussichtslos sein müßte. Man käme wohl auf die Grathöhe, aber dort wäre nicht mehr weiter zu kommen, da der Grat eine scharfe ausgezahnte Schneide bildet und nach beiden Seiten in senkrechten Wänden oder glatten Platten abbricht. Wie ich jedoch seither vernommen habe, hat unser Clubgenosse, Herr Oskar Schuster in Dresden, einen allerdings etwas anderen Abstieg zum Schweizerthor am 26. Juli ausgeführt.Ob noch andere neue Zugangswege zur Spitze zu finden sind, ist ungewiß. Als wir am Morgen der Südfront des Berges entlang zogen, da schien es mir, die Möglichkeit, direkt vorne hinauf über die Wand zur Spitze emporzuklettern, sei vielleicht nicht ganz ausgeschlossen. Die Südfront verliert dort in etwas den Charakter einer einheitlichen glatten Wand und löst sich mehr in eine Folge von übereinander liegenden Felsstufen auf. Die denkbar schönste Lösung wäre es natürlich, so den Stier direkt bei den Hörnern zu packen und gar nicht auf die Österreicher Seite hinübertreten zu müssen. Als ich mir jedoch die Sache von oben ansah, mußte ich mir sagen, daß da kein Erfolg zu hoffen sei. Aller-mindestens in der oberen Partie sind die Wände ungangbar. Das hat auch seine praktische Bestätigung gefunden. Wie ich nachher erfahren habe, hat Herr Imhof in Begleitung des eben erwähnten Herrn Schuster G2D- Stokar.

und des Führers Engi von Davos am 25. Juli diesen Aufstieg versucht, hat aber unverrichteter Dinge abziehen müssen. Herr Schuster hat mich im fernem noch darauf aufmerksam gemacht, daß ein Versuch vom Gletscherchen im Tiergarten aus vielleicht Aussicht auf Erfolg haben dürfte.

Vom Öfenpaß eilten wir sozusagen im Laufschritt zum Schweizerthor und dieses hinunter dem Roten Gang zu; dort lag ja der Tornister mit dem Proviant, zu dem uns der nachgerade ordentlich brummende Magen gewaltig hinzog. Während ich unten einen bequemen Lagerplatz suchte, mußte Michel wieder weit den Berg hinaufsteigen, um den Tornister zu holen. Wie gut uns nach errungenem Sieg der Veltliner schmeckte, wird sich der verehrte Leser vorstellen können. Der Rückweg durch die Ganden, die ich nun in kurzer Zeit zum fünften Mal durchqueren mußte und nachgerade gründlich satt hatte, war wenig erquicklich. Wir zogen so tüchtig aus, daß wir noch vor Einbruch der Nacht in St. Antönien eintrafen und die gute Frau Michel unerwartet früh aus ihren Ängsten erlösen konnten.

Damit war vorderhand meine Thätigkeit in der Gegend von St. Antönien zu Ende. Ich unternahm nichts mehr von Belang und reiste an einem der nächsten Tage ab. Das prächtige Thal mit seinen stolzen Felsenbergen, seinen lieblichen Seen, seinen rauschenden Bergwassern und seinen wackeren Bewohnern ist mir so lieb geworden, daß ich wohl auch in einem künftigen Jahr wieder dorthin zurückkehren werde. Lohnende Aufgaben finden sich dort noch für manche Woche. Für das Jahrbuch haben dieselben freilich weniger Wert mehr, wenn der Rhätikon seine auszeichnende Eigenschaft als Clubgebiet verloren hat und nach dem Maßstab der absoluten Höhe wieder wie zuvor eine Bergkette dritten Rangs geworden ist.

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