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Sturm am Peuterey

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Von Hermann Schwyzer.

Drüben beim Rifugio Torino auf dem Col de Géant sehen Freunde die Partie auf der Blanche und sind besorgt darum, bevor Karl und Friedrich das Gefahrenmass nur ahnen. Was sollten sie auch merken? Das Gebiet und die Routen sind ihnen unbekannt, doch sie glauben, einen guten Führer mit zu haben. Aber das Wetter, merken sie denn gar nichts? Liegt ihnen noch der Mondscheintraum vor Augen, oder sind sie farbenblind geworden? Das Licht vom düster hellen Mond war vor drei Stunden weiss und fahl, ohne Mond um 5 Uhr düster grau, dann düster weiss, nun schlags um 7 Uhr ist es dunkel grau, soweit das Auge sieht. Bevor sie etwas merken, ist die Gnaden-minute abgelaufen. Das graue Licht, das eben noch den Mont Blanc freigelassen, rückt tiefer, von allen Seiten über Kämme, Felsen rückt es näher und den Harmlosen auf der Blanche zu Leibe. Es schneit ganz plötzlich. So wird der langersehnte, oft gedachte, kaum eine Minute freudvoll erlebte Ausblick unerwartet eingedämmt, genommen. Das Ringsum schrumpft zusammen auf eine Seileslänge. Fort das Oben, fort das Unten. Norden, Süden, selbst die flüchtig gesehenen Bilder der Ketten, Gipfel, Täler, Gletscher, alles zerrinnt in grausiges Nichts. Wenn nur auch der Ortsgeist täuschen würde und die Partie auf einem unbedeutenden Gipfel stehen würde, von dem jedes Absteigen ein Weg wäre, aber der so früh gestörte Genius loci hämmert Friedrich und Karl immer aufdringlicher ins Gehirn: Aiguille Blanche de Peuterey, 7 Uhr morgens, Wetterumschlag, Schneesturm, was nun, wohin die Schritte lenken?

Abwärts, abwärts, sofern ein Abwärts aufzufinden ist. Der Führer zögert, er kennt nur die Fortsetzung des Grates über den Col de Mont Blanc auf den Mont Blanc. Friedrich und Karl kennen als beste Möglichkeit nur das Itinerar im Mont Blanc-Führer, das ihnen Freunde noch vor wenigen Tagen gezeigt haben. Es heisst: Col de Mont Blanc, Plateau supérieur, Col d' Eccles, Pic Eccles, Col Fresnay, Brouillardgletscher. Doch was bedeuten Namen, wenn ihre Träger unbekannt, wenn Richtung, Lage und Passage dem Blick verloren sind?

701 Uhr: der Vorhang fällt, die Sicht verschwindet, das Labyrinth heisst Mont Blanc Süd, es schneit. 9 Uhr, es schneit noch mehr, sie sind im Col de Mont Blanc, 11 Uhr, es schneit und stürmt, 13 Uhr, es schneit, sie sind irgendwo am Ecclesgrat. 15 Uhr, sie zögern und rücken kaum noch abwärts; schon fusstief liegt der Schnee, und es schneit und stürmt noch stärker. Der Sturm wird unerträglich, unmöglich die Abstiegskletterei am Grat.

Zum erstenmal in den Bergen taucht der Gedanke der wirklichen Todesgefahr auf. Friedrich sagt sich einfach, wenn dieses Unwetter andauert, so kommen wir nicht aus diesen Gefahren heraus, und eine Nacht hier verbringen bedeutet unfehlbar das Ende: denn wir werden die Kälte nicht aus- halten. Unsere Rettung hängt nur vom Wetter ab, es kann uns hier im Umkreise von einigen Meter umkommen lassen; dann werden uns die Mitmenschen suchen, finden — Opfer des schlechten Wetters —, auch Karl und Friedrich kamen in dem schlechten Sommer in den Bergen um. Dieser Gedanke ist schnell erschöpft. Furcht empfindet Friedrich nicht. Das Todesurteil ist ja noch nicht gesprochen, also abwarten, was die nächsten Stunden bringen werden. Sie vergehen aber langsam. Bis hieher ging es so schnell. Erst ist die Partie aufgebrochen in der Gambahütte; die Mondnacht liegt noch klar vor Augen. Die Aiguille Blanche wurde das ersehnte Ereignis. Die wenigen Ausblicke, die Sonne über den Schweizergipfeln, der kaum geborene, sterbende Tag, dann Schneesturm, schon acht Stunden nichts als Sturm; noch steht die Partie in den Flanken des Pic Eccles und wartet auf das Ungewisse. Eines Glückes ist sich die Partie nicht bewusst, noch kennt sie keine Müdigkeit, keine Anstrengung, trotz 16 Stunden ohne Halt, ohne je geruht, ohne den Rucksack nur gelüftet zu haben.

« Es wird ungemütlich », meint Karl, mehr resigniert als zuversichtlich, als die Gratkletterei unmöglich und nur ein Abstieg durch ein steiles Schneecouloir Bewegungsfreiheit zulässt. Sie sind einig, so lange Abstieg möglich ist, klettert die Partie abwärts; denn Bleiben heisst Aufgeben, und Aufgeben, durchnässt bei Sturmeskälte, bedeutet letztes Bleiben.

Hin und wieder schmerzt etwas so ein klein wenig. Ein Gedanke schmerzt; am Halse würgt er leise, der Gedanke nämlich, umzukommen. Dann wieder ist man ganz Maschine, vollzieht die mühvollen Abwärtsbewegungen als altgewohnte Tätigkeit. Man schüttelt ab seinem Körper schweren Schnee, man kratzt ihn aus den Augen, man ordnet immer wieder das schwere nasse Seil, dann wieder ist er da, der Gedanke nämlich. Er zerrt Kleinigkeiten aus der Erinnerung hervor: er weist heimwärts ins Reich der eigenen Welt. Man vergisst ihn wieder und stöbert in irgendeinem Zukunftstun herum. Halt! Wenn —. Wieder würgt der Gedanke an der Kehle. Hundertmal in dieser Stunde springt er ins Bewusstsein, er peitscht vorwärts, abwärts, näher dem Ungewissen, näher — dem Gedanken. Man könnte überdrüssig werden, den Mut verlieren, sich gehen lassen, doch noch wirken tausend Energien, dem Käfig, der Lage —, dem Gedanken zu entfliehen.

Es ist 16 Uhr, als die Partie die letzten Felsen verlässt und bar jeder Orientierung auf einem Schneeplateau anhält, anhalten muss; denn ringsum gähnen Tiefen, ausgefüllt mit trügerischem Grau. Kaum eine Seileslänge sieht das müde Auge, und jeder tastende Versuch, ein Heraus, Hinab zu finden, ist eitler Wahn. Nur Warten ist das Gebot der Lage.

Wenn es der Col de Fresnay ist, wo die Partie blockiert bleibt, so weiss sie nun auch, wo sie ist und dass es bleiben heisst, bis eine Abstiegsmöglichkeit gesichtet werden kann. Es ist ein kleiner Trost, ein süsser Trugschluss, sich gerettet zu wissen, weil man vermutet, wo man ist, doch nicht entrinnen kann.

Nun haben die Minuten eine andere Länge angenommen. Solange die Partie in Bewegung gewesen, verflogen die Stunden. Nun ist die Partie blockiert, und die Minuten wollen nicht verstreichen. Warten im Schnee ist so einfältig. Die Kälte kriecht in die Füsse und langsam aufwärts. Plötzlich genügen die Kleider nicht mehr, den Körper warm zu halten. Eine Stunde verstreicht langsamer als all die Zeit, während der die Partie unterwegs gewesen. Nun wird es Abend. Das Grau wird dunkler. Der Schneefall hat nachgelassen, um noch dichterem Nebel Platz zu machen.

Die Partie hat sich nichts mehr zu sagen, sie wartet. Der Führer sitzt abseits, er blickt an eine Stelle, als ob er ein Loch in den Nebel sehen wollte. Friedrich und Karl beschliessen, noch eine Stunde zu warten, um dann eine Vertiefung zu graben. Was können sie anderes tun. Es gibt nichts anderes. Ein Loch erstellen, um die Nacht darin zu verbringen, um sich gegen den Wind zu schützen, um im Loch zu warten. Sie tauschen kein Wort; denn sie sind sich der Lage bewusst und der geringen Hoffnung, noch heute zu entrinnen.

Es ist 17 Uhr vorbei; das Stillsitzen im Schnee hält nicht mehr warm auf 3500 Meter Höhe. Der Führer und Karl beginnen bedächtig mit der Grabarbeit. Mit Widerwillen, spasshaft, todesernst entfernen sie den weichen Schnee.

Grau in Grau. Der Gedanke dominiert. Verständnisvoll treffen sich die Blicke hin und wieder, und merkwürdig knirscht das Eis unter den Hieben von Friedrichs Gefährten. Er kann sich nicht entschliessen, am eigenen Grab zu schaufeln. Er will keine Kälte, keine Müdigkeit in seinem Körper spüren. Doch der Gedanke ist nicht mehr abzuschütteln. Immer mehr schnürt er die Kehle zu.

Nochmals, wieder, immer wieder sucht Friedrich dem Gedanken zu entfliehen. Dass ihnen, den Vorsichtigen, den Geübten, nun auch der Bergtod blühen muss! Sind sie also auch nicht klüger als drei Dutzend andere, die diesen Sommer schon in den Bergen umgekommen? All die unerfüllten Kleinigkeiten des Lebens, die erhofften Ziele, das Wiedersehen mit lieben Menschen, die Jahre, die ein Menschenleben noch erdauern könnte, dieses, jenes, alles nun ein Ende, weil es anders gekommen. Statt den Peutereygrat und den Aufstieg auf den Mont Blanc in einer Rekordzeit hinter sich zu haben, sollen sie nun hier in einem Loch elendiglich erfrieren, weil die Zyklone vom Atlantik her zu rasch gekommen?

Noch sitzt Friedrich auf seinem Rucksack, er spürt seinen Körper nicht, denn ihn plagen noch andere Gedanken. Hat er nicht vor der Gnadenmutter in Einsiedeln das Unglück provoziert, vom Nichtmehrheimkehren gesprochen, um den Sinn der zweiten Kerze zu entkräften? Wenn ihn die Muttergottes strafen will, kann sie nicht allein ihn strafen und Freund und Führer retten. Soll die Ungnade, der er ohne Zweifel verfallen ist, so folgenschwer sein, und ist das Absicht göttlicher Vorsehung? Oder ist es reiner Zufall, dass so frühzeitig schlechtes Wetter zur Überraschung wurde, in dem sie wahrscheinlich erfrieren werden? Der Nebel kann sie eine Stunde, hundert Stunden gefangen halten. Dazwischen liegt ihr Schicksal. Wer entscheidet darüber? Friedrich pendelt von göttlicher Vorsehung zum Zufall.

Am meisten tut Friedrich Rhudy leid. Sie wird um ihn trauern, sie wird den Glauben an die Gnadenfrau von Einsiedeln verlieren, sie wird ihre Einstellung zum Schicksal umstellen, sie wird das mörderische Dasein auch dem nüchternen Zufall überlassen, in poesielose Resignation verfallen, wie so viele Menschen von einem bestimmten Alter an. Was liegt dabei, wenn sie Zufall veraeint, wenn sie das ewig rätselhafte Schicksal in stärkere Hände legt und hofft und glaubt, wo andere die Achseln zucken.

Wenn sie aber doch noch heil aus den Fängen dieses Unwetters herauskämen! Noch sind sie ja unversehrt, und an Nässe und Kälte mag der Mensch viel ertragen. Es ist anzunehmen, dass sich der Nebel morgen einmal lichten wird. Eine Stunde Sicht dürfte genügen, um zu entrinnen, wenn die Füsse dann noch tragen werden. Und dann, wenn sie gerettet würden, was würde er Rhudy erzählen? Würde er die Zustimmung zur zweiten Kerze geben? Wäre die Dankeskerze so etwas Unvereinbares mit seiner Gedankenwelt? Würde er nicht auch ein klein wenig an die Geschicksbestimmung durch höhere Mächte glauben, nur so ein klein wenig, vielleicht noch einmal in seinem Leben, in ebenso kritischer Lage wie heute? Antworten auf alle diese Fragen kann sich Friedrich nicht geben.

Doch, Rhudy wieder sehen? Dieser Gedanke umschmeichelt ein Gefühl, das dominiert für Sekunden von unbestimmter Länge. Es rauscht durch seinen Körper ein gärend Fluidum, und ein Gedankenstrom aus einer andern Welt klingt durch sein Bewusstsein. Diesen Klang hat Friedrich bisher nicht gekannt, muss er ihn hier in zwölfter Stunde hören, um zu vernehmen, was ihm Rhudy ist?

Mitten in diesen Schalmeien von Liebe und Tod zeigt sich im Nebel eine fade Stelle. Helle leuchtet durch wie Kerzenschimmer vor dem geistigen Auge. Unerwartet, fragend gilt aller Sehen diesem Himmelszeichen. Durch den Nebel grüsst eine bleiche Sonne. Doch plötzlich bricht ihre Kraft sich Bahn, und knapp nebem Pic Luigi Amadeo erscheint ihr volles Licht. Die Nebel flüchten in die Flanken und öffnen mit jedem Atemzuge mehr das tiefverschneite, enge, steile Tal des Brouillardgletschers.

Wieder märchenhafte Szenerie! Knietief liegt der Schnee als Retusche auf der wild bizarren Landschaft. Durch die vielen Mont Blanc-Rinnen rieseln harmlose Staublawinchen nieder, und die Nebel verziehen sich gipfelwärts, das ganze Bild entschleiernd. Hell leuchtet der Brouillardgletscher zu Füssen, und wenn auch gefährlich überschneit, so muss er aus der Gefahrzone heraus und hinunter zur Gambahütte führen. Friedrich und seine Gefährten blendet das Licht und überrascht die Wirklichkeit. Der Gedanke, umzukommen, verblasst; doch die gänzlich unerwartete Güte des Himmels tritt kaum ins Bewusstsein. Schon wird das Seil um die frierenden Körper geknotet, und vorsichtig sucht sich die Partie zwischen Lawinenschnee und Spaltenverdacht die letzte Möglichkeit, zu entrinnen.

Es gelingt. Während der Abendstunden finden die Nimmermüden nach mühvollem Hin und Her, nach Suchen und Wagen einen Abstieg und damit Befreiung aus den Klauen des Unwetters.

Harter Boden unter den Füssen und der ferne Schimmer eines schwachen Hüttenlichtes verbinden wieder gänzlich mit dem festgefügten Dasein. Der Sturm vom Peuterey rückt ab ins Reich der Erinnerung; doch noch lastet besonderes Gepräge auf den Herzen, und ein aufgepeitschtes Denken will die Überstürzung der Ereignisse ordnen. Ihre Folge weiss der kühne Menschengeist wohl zu erfassen. Ursache und Wirkung nennt er das greifbare Geschehen, wenn es abrollt wie ein Räderwerk am Wasserrad. Doch wo bleibt die Kausalität, wenn nur gefühlsmässig Zusammenhänge des Geschehens festzustellen sind, wenn Ursache und Wirkung ihre Rollen zeitlich tauschen und aus dem Unbewussten irgendein Es in uns um die Wirkung scheint zu wissen, bevor die Ursache sich nur ereignet hat. Wenn das Es in uns sich gar an höhere Kräfte klammert und sein Träger das Schicksal gläubig in jene Hände legt, die wirken ohne die uns verständliche Kausalität, dann — dann heisst es, sich zurückziehen in das kleine Schneckenhaus der schwachen menschlichen Vernunft. Ohne Mitspracherecht sind nur die Fühler auszustrecken und die Ereignisse zu nehmen, wie sie sich uns zeigen. Ob sie nun durch Zufall, Schicksal oder Gottesfügung bedingt sind, bewältigt werden von einem trotzig selbstbewussten Ich, oder ob sie im Zwiegespann mit einem Himmelsgott ertragen werden, so stellt der Ablauf des Geschehens uns immer nur vor neue Fragen, die ewiglich der Antwort warten.

Je mehr Fragezeichen schliesslich an unserm Lebenswege stehen, desto befreiter schreiten wir ihn weiter. Ob uns ein Engel des Glaubens wie Rhudy einen Hauch seines Flügelschlages spüren lässt, ob ein Wolkenbild Sinn geben mag, ob ein Todesdrohen der Ekstase folgt im menschlichen Gebaren, ob wir bei Möglichem, bei Unmöglichem zerschellen oder nicht, immer soll unser Urteil milder werden, durchdrungen von einem menschlichen Verstehen, wobei das Nichtverstehen ewiglich ein schwer Gepäck des armen Menschen bleibt, das Ehrfurcht nur ihm noch erträglich macht.

Es mag 22 Uhr sein, als die Partie unerwartet wieder in die Gambahütte einzieht. 24 Stunden ist sie unterwegs gewesen mit reichem innern und äussern Szenenwechsel. Zuerst Entzücken, dann Befriedigung und endlich der Kampf. Der Epilog zu diesem Erleben nimmt in dem schlichten Hüttchen seinen Anfang. Fröhlich leichte Menschen spielen eine Nacht lang Alpinisten. Noch haben sie keine Ahnung, welche Gefahren ihnen in den Bergen lauern, aber sie alle glauben an die Schönheit und an das Erlebnis, die sie hier oben suchen. Mögen sie alle in irgendeinem stillen Winkel eine Kerze brennen haben, irgendeiner Göttin geweiht, die ihr Geschick so glücklich mitbestimmen hilft, wie heute Karl und Friedrich es erfahren haben. Der Epilog nimmt seinen Fortgang, als sie lässig talwärts ziehen, den aufs neue losgebrochenen Sturm nicht achtend und die Gedanken auszusprechen sorgsam meidend, wie es heute wäre auf dem Fresnaypass, wenn sie jetzt noch oben wären. Der Epilog nimmt schliesslich auch sein Ende, als beim Abschied aus dem Mont Blanc Süd, der noch in Sommersmitte ein winterlich Gepräge angenommen hat, Karl und Friedrich sich äussern: Wir kehren wieder.

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