Unverhoffter Erfolg am <Killerberg> | Club Alpino Svizzero CAS
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Unverhoffter Erfolg am <Killerberg>

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Vassily Senatorov1, Moskau

In der Südwand des Annapurna I 1 Der Autor benützt für russische Eigennamen die hier verwendete Form der Umschrift.

Eine schlimme Nacht Ich lag auf 4200 m Höhe in meinem steifgefrorenen, winzigen Zelt im Schlafsack und betete zum ersten Mal in meinem Leben: ( Liebe Göttin Annapurna,murmelte ich vor mich hinbitte lass den armen Schura lebendig davonkommen. Ich verspreche Dir,.. .>.

Heute kann ich mich schon nicht mehr erinnern, was ich dem riesigen Berg versprochen habe, aber in dieser letzten Nacht vom 16. zum 17. Oktober 1991 war ich tatsächlich bereit, ihm jeden Wunsch zu erfüllen, damit mein Freund und Mitglied unserer Expedition an der Annapurna-I-Südwand heil aus einer Höhe von 7300 m Höhe zurückkomme.

Während der Funkstunde von gestern Abend hatte Vladimir Baschkirov, der Leiter der Spitzengruppe, gesagt, dass Schura Scheinov an akuter Höhenkrankheit leide und sein Zustand sich rasch verschlechtere.Vom Basislager aus konnte ich keine zusätzlichen Fragen stellen, da die , die sich bereits seit 12 Tagen ununterbrochen in der Wand befand, mit ihrem Walkie-talkie nur noch senden, aber nicht mehr empfangen konnte. Bei Sonnenaufgang wollten sie aber versuchen, Schura möglichst rasch in tiefere Regionen zu bringen -sofern er dann überhaupt noch am Leben sei...

Nun ist es bereits hell geworden. Doch meine wirren Gedanken werden nach und nach von Bildern verdrängt, die erzählen, wie alles begonnen hat.

Zum heutigen Ziel Kathmandu, Mai 1989. Unsere sowjetische Kangchenjunga-Nationalexpedition ist aus den Bergen in die Zivilisation zurückgekehrt. Alle feiern euphorisch den grossartigen Erfolg: 85 Gipfelbesteigungen innerhalb einer einzigen Expedition! Ohne die geringste Verletzung. Nicht einmal ein erfrorener Finger war zu verzeichnen ( vgl. DIE ALPEN, QH II/92 ).

Und bereits macht sich die verantwortliche Gruppe in Moskau Gedanken darüber, was es im Himalaya als nächstes zu besteigen gäbe. Meinerseits zweifle ich keinen Moment, dass wir noch einmal dorthin zurückkehren werden. Wir sind keine Neulinge mehr, und das hochgesteckte Ziel wird unserem Können angemessen sein. Innerhalb der Sowjetunion sind wir Moskauer als ausgezeichnete Techniker bekannt, und deshalb wird für uns nur eine extreme Wanddurch- steigung in Frage kommen. Und welches ist wohl die berühmteste Wand im Himalaya? Natürlich die Annapurna-I-Südwand, die seinerzeit von Chris Bonington so eindrücklich beschrieben wurde.

Vassily Elagin - der Leader der Moskauer Gruppe - und Valentin Ivanov - der nationale Cheftrainer- bieten mir an, die neue Expedition zu leiten, für mich eine grosse Ehre und Anerkennung. Ich sage zu. Wir melden beim Ministerium für Tourismus in Nepal eine An-napurnabesteigung für den Herbst 91 an. Es wird sich um ein sehr ernsthaftes Unternehmen handeln, und wir werden viel Vorbereitungszeit benötigen.

Die Expedition wird auf die Beine gestellt Moskau. Hektische Zeiten: Gorbatschev, Perestroika, viel Gerede. Der Wirtschaft geht es immer schlechter. Die heimische Industrie ist kaum bereit, als Sponsor aufzutreten. Die Läden sind leergefegt, und jede neue Ware verschwindet sofort und ohne jegliche Werbung. Im Ausland kennt uns kaum jemand, und in Deutschland sammelt man Spenden für Russland.

Annapurna-I-Südwand vom Basislager aus Ein unpassenderer Zeitpunkt für die Organisation einer russischen Himalaya-Expedi-tion liess sich wohl kaum vorstellen. Trotzdem starten Vassily und ich zahllose Anfragen und Anrufe und legen Angebote vor. Schliesslich sind die Firmen ( Vneschtorgiz-dateine grosse Werbeagentur - und das Gemeinschaftsunternehmen

Mittlerweile wird auch schon die Mannschaft zusammengestellt. Wir analysieren dazu Berichte von erfolgreichen Moskauer Besteigungen aus der letzten Zeit und erstellen eine Liste, die schliesslich 15 Namen umfasst. Mehrere dieser erfahrenen einheimischen Alpinisten sind auch unsere Freunde, und so wird die Hauptschwierigkeit darin bestehen, aus dieser Gruppe die acht bis zehn geeignetsten auszuwählen.

Februar 1991. Trainingslager im Kaukasus. Eisklettern und Skitouren zur Verbesserung der Kondition. Am Fusse des Elbrus wird die Mannschaft zu einer Einheit zusammengeschweisst, und der Cheftrainer legt den Plan für die Expedition vor. Die Route hat er zusammen mit Vassily Elagin im letzten Herbst anlässlich eines Erkundungsfluges zum An-napurna-Basislager ausgewählt: Es handelt sich um eine . Selbst auf Aufnahmen und im Video sieht diese sehr direkt angelegte Aufstiegsroute gefährlich aus. Soweit bekannt, gab es bisher einen einzigen Versuch auf dieser Linie - 1982 durch Japaner. Ob diese Expedition damals erfolgreich war, bleibt uns unklar, denn der uns zugänglichen Literatur lässt sich darüber nichts entnehmen. Fest steht aber, dass die Route deutlich schwieriger sein wird als alle anderen, die bisher in dieser riesigen Wand durch Bonington sowie durch die Polen und Spanier begangen wurden.

Mitten im Umsturz August 1991. Die Vorbereitungsarbeiten belasten mich psychisch sehr stark. Manchmal wache ich mitten in der Nacht auf, und meine Gedanken eilen unablässig durch eine fast endlose Liste von Dingen, die noch erledigt werden sollten: Zelte, Schuhe, Esswaren, Visa, Geld... Alle Teilnehmer der Expe- dition befinden sich an den Hängen des Pik Lenin im Pamir - Akklimatisationszeit! Zwar wird bis Mitte September etwas von der Wirkung dieses Höhentrainings verloren gehen, doch eine solide Basis wird mit Sicherheit erhalten bleiben, was für die Besteigung, die ohne künstlichen Sauerstoff und im alpinen Stil geplant ist, von grossem Nutzen sein kann.

Dann kommt plötzlich der 19. August 1991. Vor zwei Tagen habe ich am Flughafen einen Grossteil der Expeditionsteilnehmer abgeholt. Lauter braungebrannte und frohe Gesichter, voller Zuversicht, Energie und Erwartung eines grossen Abenteuers. Am 6. September soll die Expedition starten.

Doch nun sitzen wir zusammen in meinem Büro und schauen uns entsetzt die Pressekonferenz der Putschisten im Fernsehen an. Verbrecher mit zitternden Händen! Nach der Verzweiflung, die uns während der ersten Stunden nach Bekanntwerden der Ereignisse in unserem Land übermannt hatte, verspüren wir nun eine grosse Wut. Die Freiheit muss verteidigt werden. Es gibt Wichtigeres im Leben als das Bergsteigen. Unsere Posten werden in diesen Tagen und Nächten beim Gebäude des russischen Parlaments sein. Jelzin und die junge Demokratie brauchen Verteidiger.

Nebel liegt über der Stadt, und es regnet pausenlos. Gott sei Dank! Man befürchtet nämlich Hubschrauberangriffe. Sollte dies tatsächlich der Fall sein, würden wir schnell das Dach des Parlaments mit Benzin begiessen, dieses anzünden und dann... abseilen! Keine unserer bisherigen Besteigungen ging mit einem derart starken Nervenkitzel einher, und gleichzeitig fühlen wir uns intensiv mit einer grossen Gemeinschaft verbunden. Es heisst, dass in dieser Nacht 70000 Menschen um das Parlament herum versammelt gewesen seien. Unter ihnen traf ich die meisten Bergsteiger Moskaus, die zu diesem Zeitpunkt allesamt nicht in den Bergen unterwegs waren. Dies zeigt, dass die Treue zu den Bergen und die Treue zur Wahrheit aufs engste miteinander verbunden sind.

Der Aufbruch Endlich ist es aber doch soweit! Eine Maschine der Aeroflot fliegt am 6. September 12 Teilnehmer nach Kathmandu. Fast zwei Tonnen Ausrüstungsmaterial wurden eine Woche zuvor mit einem Cargoflugzeug durch unseren Sponsor, das Gemeinschafts- unternehmen ( Aéroport Moskau ), bereits dorthin transportiert.

Im Laufe des vergangenen Jahres hat sich in Nepal vieles verändert. Das Land ist nicht mehr eine Monarchie, sondern eine parlamentarische Republik. Überall sind politische Parolen anzutreffen: an die Wände geklebt, an die Bäume genagelt und sogar auf die endlosen Treppen im Gebirge gepinselt. In diesem Land, wo die Mehrheit der Bevölkerung Analphabeten sind, kennzeichnet sich jede Partei mit einem Symbol, so zum Beispiel mit einem Baum oder mit einem Pflug. Die Kommunisten haben ein Hakenkreuz inmitten einer Sonne gewählt. Obwohl allgemein bekannt ist, dass dieses Kreuz im Hinduismus als uraltes Zeichen für das Glück steht, ist uns nicht so recht wohl bei seinem Anblick. Armes Nepal - warum kannst du nicht aus Fehlern anderer Nationen lernen?

Auf den Ämtern, wo wir all die zahllosen Papiere für den Zoll, den Funkverkehr und die Durchführung der Expedition bekommen, werden wir mit einer gewissen Skepsis betrachtet. Man scheint sich allgemein zu fragen, was das für ein Land ist, diese UdSSR, wo selbst die kommunistische Partei nun verboten wird.

Nach einer Woche ist glücklicherweise alles überstanden, und wir starten mit einem Charterbus sehr früh von Kathmandu nach Pokhara, um dann von dort in einer Karawane von etwa 80 Trägern dem Modi-Khola-Fluss entlang in das Gebiet des Annapurna zu gelangen. Der Monsun ist noch nicht ganz vorüber, und jeden Nachmittag müssen wir ein heftiges Gewitter über uns ergehen lassen. Im feuchten, tropischen Wald scheinen sich die ( Blutegel ) ausgesprochen wohl zu fühlen. Sie dringen in jede Spalte und jedes Loch ein und saugen sich sogleich fest. Gleichzeitig spritzen sie ein Sekret in die kleinen Wunden, damit das Blut noch ungefähr eine Stunde lang ungestört fliessen kann und man somit keine Schmerzen verspürt. Nach jeder Marschetappe müssen wir deshalb jeden unserer Körperteile sorgfältigst absuchen und die grausigen Viecher ablesen.

Auf Erkundungsvorstoss Endlich im Basislager, installieren wir uns etwa zehn Minuten von den letzten Lodges entfernt auf einer gemütlichen Wiese, während die Träger einen ausgewählten Teil des Materials noch drei Stunden weiter, den An-napurna-Gletscher entlang, hinauftragen.

Als sich am nächsten Morgen der Nebel verzieht, sehen wir zum ersten Mal die riesige Annapurna-I-Südwand. Sie wirkt überdimensional gross und scheint den ganzen sie umgebenden Raum zu verschlingen. Genau so wie der Annapurna schon mehrere Menschenleben verschlungen hat — ein echter ( Killerberg>! So viel Glück wie Maurice Herzog und Louis Lachenal damals 1950 bei der Erstbesteigung hatten, konnten nur die wenigsten Bergsteiger am gleichen Ort für sich in Anspruch nehmen. Nachdem der gewaltige Achttausender seine Erstbezwinger verschont hatte, schlug er in den nächsten Jahren dafür um so heftiger zu. Vor unserer Abreise wies der Annapurna I die schlimmste Bilanz aller Achttausender auf: 59 Menschen gelang es, bis auf den Gipfel vorzudringen, 43 fanden während der verschiedenen Expeditionen den Tod. Der letzte erfolgreiche Versuch gelang 1988.

Nun sind gleichzeitig mit der unseren auch noch neun weitere Expeditionen am Berg: Japaner, Amerikaner, Österreicher, Spanier, Südkoreaner, Jugoslawen und drei Freunde aus St. Petersburg, die sich an der Nordseite versuchen wollen, während zwei polnische Expeditionen ihr Basislager etwa eine Stunde von uns entfernt aufgeschlagen haben. Sie haben sich für die Bonington-Route entschieden.

Das Wetter ist schön, und vormittags laufen fast alle nur in der Badehose herum. Nachmittags dagegen zieht meist Nebel auf. Die Laune der Mannschaft ist dementsprechend gut. Noch am gleichen Tag, nach Errichtung des Basislagers, steigen alle durch den Gletscherabbruch hoch, um die zwei darüberliegenden Schneekämme, die sogenannten ( Schneemesser>, die am Anfang unserer Route liegen, zu erkunden. Alles geht glatt, und am 22. September finden wir auf 5900 Meter Höhe einen Platz für ein Zelt. Die Kämme sind dicht besetzt mit riesigen Schneepilzen und nur schwer zu überwinden. Mit diesem ersten Schritt ist aber die Angst vor dem riesigen Berg etwas gewichen.

In unserer Expeditionsmannschaft verfügen Vassily Elagin, Schura Scheinov, Valentin Ivanov, Vladimir Obikhod, unser Arzt Valéry Karpenko und ich über Himalaya-Er-fahrung. Vladimir Baschkirov, Nikolay Petrov, Sergei Isaev, Vladimir Yanotschkin und Dimitry Egorov dagegen sind zum ersten Mal in dieser Gebirgsregion, gelten aber als erfahrene Bergsteiger. Die Südwand des Pik Kommunismus, die Nordwand des Khan Tengri und mehrere andere extreme Unternehmen gehören zu ihren Leistungsausweisen.

Unberechenbare Gefahren Valentin Ivanov und ich sind allein im Basislager zurückgeblieben. Es ist schön und langweilig zugleich. Wir lassen uns von der Sonne bräunen, lesen und empfangen zahlreiche Touristen aus aller Welt: Schweizer, Engländer, Australier, Israelis... Alle stellen sie die gleiche Frage: Was ist dies für eine Flagge, mit den Farben Weiss-Blau-Rot ?. Wir erklären, dass es sich um die uralte, nun wieder neue russische Fahne handelt, bieten Tee an und lassen die Besucher die Wand des Annapurna mit dem Fernrohr beobachten. Alle neun Bergsteiger befinden sich zur Zeit in einer Höhe zwischen 6000 und 6400 m. Man erkennt ganz deutlich, wie die winzigen, An dieser Stelle wird das Zelt aufgestellt ( 6450 m ).

Figuren langsam höhersteigen. Die Zuschauer sind von diesem Anblick fasziniert und wünschen uns bei ihrem Abschied viel Glück. Ein deutscher Junge sagt:

Vladimir Baschkirov sah, wie der kopfgrosse Stein herabgeschossen kam. Mit aller Kraft schrie er dabei die Warnung . Doch unser Arzt Valéry Karpenko schien dies nicht zu hören. Der Stein prallte mit voller Wucht auf sein linkes Bein und schwirrte anschliessend praktisch ungebremst weiter, als wären Menschenknochen für ihn überhaupt kein Hindernis. Der unglückliche Valéry sank in den Schnee, und in wenigen Sekunden waren die nachfolgenden Nikolay Petrov und Dimitry Egorov zur Stelle. Letzterer beugte sich über den Verletzten, als plötzlich ein ganzer Haufen von kleinen Steinchen wie eine Maschinengewehrsalve Löcher in Dimi-trys Jacke schlug. Dieser sank ohnmächtig zusammen und begann, ungesichert wie er war, den steilen Hang hinunterzurutschen. Nur Nikolays starke Hände konnten ihn vor dem sichern Absturz retten.

Nun aber galt es, so schnell wie möglich aus der Gefahrenzone herauszugelangen, und dem herbeigeeilten Vassily Elagin gelang es, den 80 kg schweren Doktor unter einen sicheren Felsvorsprung zu schaffen. Der Stein hatte den linken Unterschenkel zertrümmert, und die Knochen ragten aus der offenen Wunde. Mit Hilfe einer Liegematte wurde das Bein provisorisch geschient und dann sofort damit begonnen, den Patienten abzutransportieren. Auch ich hatte mich, zusammen mit zwei Küchenarbeitern, sofort auf den Weg gemacht, um die Rettung zu unterstützen. Während fast zweier Tage und Nächte schleppten wir Valéry ohne Pause aus einer Höhe von 6000 m ins Basislager. Einzig am Gesicht des Patienten war abzulesen, welche Schmerzen unser Doktor bei dieser Aktion aushalten musste. Er hatte jegliche Schmerzmittel abgelehnt, um uns mit eigener Kraft möglichst gut unterstützen zu können. Mit jedem Schritt aber verschoben sich die nur schlecht fixierten Knochen! Dimitry Egorov, unser zweiter Verletzter, konnte sich trotz seiner Verletzung an der Wirbelsäule, die ihm die kleineren Steine zugefügt hatten, aus eigener Kraft bewegen.

In der Nähe des Basislagers angekommen, avisierte ich per Funk unsere Verbindungs-person Maria Klotschko in Kathmandu, um einen Rettungshubschrauber anzufordern. Dieser flog am 4. Oktober unsere beiden Kameraden aus, wobei man Valéry erst noch davon überzeugen musste, dass er nur störe, wenn er hierbleiben würde. Bereits zwei Tage später konnten unsere Freunde in Moskau fachgerecht behandelt werden. Das Bein von Valéry konnte gerettet werden, obwohl in der Folge noch drei weitere Operationen notwendig wurden, und Dimitry erholte sich relativ rasch von seinen Rückenverletzungen. Wir aber standen nun, schon ziemlich müde, vor den entscheidenden Versuchen ohne Arzt da. Die Moral schien aber keineswegs gebrochen.

Erster Aufstiegsversuch Am 5. Oktober war das Basislager denn auch schon wieder leer. Schritt um Schritt bewegten sich zwei Richtung Gipfel. Die vordere Gruppe, der Elagin, Isaev und Yanotschkin angehörten, war der unteren immer einige Seillängen voraus. Sechs Tage hatten sie gebraucht, um die zu überwinden und in eine Höhe von etwa 7000 m vorzustossen. Dort bildete die sogenannte , ein kombinierter, zum Teil senkrechter Wandabschnitt den schwierigsten Teil der gesamten Route.

Ivanov und ich konnten das Geschehen vom Tentpeak aus, einem im Annapurna-I-Zirkus gelegenen Beinahesechstausender, genau mitverfolgen. Wir waren vom Basislager weggegangen, um uns vor den zahllosen Touristen in Sicherheit zu bringen und um uns auch selbst ein bisschen bergsteigerisch zu betätigen. Doch auf dem Gipfel des erwähnten Tentpeak erfuhren wir von einer neuen Tragödie, die sich am Nordhang des Annapurna abgespielt hatte. Zwei südkoreanische Alpinisten und vier Sherpas waren in einer riesigen Lawine ums Leben gekommen. Man teilte uns mit, dass sämtliche Expeditionen ihre Besteigungen auf der Nordseite des Berges abgebrochen hätten.

Nur an Elagins müder und heiserer Stimme lässt sich erkennen, mit welchen Schwierigkeiten unsere Mannschaft zu kämpfen hat. Manchmal gelingen während eines ganzen Tages nur zwei oder drei Seillängen. In der Nacht kann man sich wegen der grossen Höhe und vor allem auch wegen der fehlenden Möglichkeiten, das Zelt richtig aufzustellen, kaum mehr erholen. Die Beine hängen im Biwak deshalb mitsamt dem Zeltboden meist über dem Abgrund, und auch die Steine lassen die müden Bergsteiger nicht zur Ruhe kommen. In jeder Nacht schlägt mindestens einer ins Zelt ein. Man wird darauf für einige Zeit nervös, setzt vielleicht sogar den Heim auf, um dann aber sogleich wieder von der Müdigkeit übermannt zu werden.

Der Rückzug Das Ziel war schon fast greifbar nahe.Vielleicht noch drei Seillängen vom abfla-chenden Schlussteil entfernt, erreicht uns die schreckliche Nachricht von Scheinovs Höhenkrankheit.

Schura Scheinov hatte sich vor über einem Jahr eine schlimme Gehirnerschütterung an der Uschba ( einem Berg im Kaukasus ) zugezogen. Zwei Monate später war er aber bereits wieder unterwegs, um mit unwahrscheinlicher Energie für den Annapurna zu trainieren. Vor dem Abflug waren sämtliche medizinischen Tests absolut in Ordnung, und ich hätte ihn deshalb niemals von dieser Expedition abhalten können. Für Schura bedeutet das Bergsteigen alles auf dieser Welt!

.. .Nun ist es 8 Uhr morgens. Funkstunde. Scheinov lebt noch, hat aber fast jeglichen Willen verloren. Er kann nichts zu sich nehmen und reagiert nur roboterhaft auf Fragen und Anweisungen. Er muss so schnell wie möglich hinunter.

Vassily Elagin und Sergei Isaev beginnen, den Kranken zurückzuführen. Da man keine Fixseile verwendet hat und deshalb für den Rückzug immer wieder neue Eisschrauben gesetzt werden müssen, bitten sie Schura, auf mögliche Steinschlaggefahr zu achten. Diesem aber hängt der Kopf bereits gefährlich herunter, und während einer kurzen Ruhepause sagt er zu seinen Begleitern: ( Am liebsten würde ich von hier runterfliegen.. .> Doch die schnelle Rettungsaktion und die zwei Flaschen Sauerstoff, die ich zusammen mit Ivanov auf 6000 m hinaufbringe, können unseren Freund retten. Im Basislager verspürt er auch bald wieder etwas Appetit. Sein Leben scheint glücklicherweise ausser Gefahr zu sein.

Nun ist es soweit: Der Berg hat uns zweimal gewarnt. Dürfen wir noch mehr riskieren? Diese äusserst heikle Entscheidung wird mir aber bereits am nächsten Morgen abgenommen. Vladimir Baschkirov, der die verbleibende Vierergruppe in der Wand leitet, teilt uns mit, dass sie den Abstieg beschlossen hätten. Sie seien nun zwei Wochen lang ununterbrochen in dieser abweisenden Wand gewesen. In den grossen Höhen sei es einfach zu kalt und zu stürmisch. Dies zeigt sich auch am Beispiel der beiden polnischen Expeditionen. Trotz des Einsatzes von Fixseilen bis auf eine Höhe von 7400 m konnten sie bisher auf der Bonington-Route ebenfalls noch keinen Erfolg verzeichnen. Der bekannte polnische Höhenbergsteiger Krzistof Welicki unternahm bereits zwei vergebliche Versuche - ohne Erfolg. Und auch Wanda Rutkiewitz, die sich nach ihrem Erfolg am Cho Oyu derselben Expedition angeschlossen hatte, war bei ihrem Versuch ohne Chancen.

Unerwarteter Erfolg an der Bonington-Route Am 19. Oktober sind alle wieder im Basislager versammelt. Es wird viel gegessen und geschlafen. Geredet wird wenig. Misserfolg mindert die Kommunikationsfreudigkeit. Bald muss gepackt und abmarschiert werden. Am 26. Oktober fliegt unsere Maschine nach Moskau zurück.

Irgendwie kann sich aber niemand so recht mit der {Niederlage ) abfinden. Man beeilt sich nicht mit dem Einpacken, und schliesslich setzen sich alle Expeditionsteilnehmer noch einmal zusammen. Vier Bergsteiger verfügen über die notwendige physische Verfassung, um es im Moment ein allerletztes Mal zu versuchen. Sie wollen diese Chance nutzen. Für die Diretissima reichen die Kräfte wohl nicht mehr, doch weshalb es nicht mit der Bonington-Route versuchen? In der Zwischenzeit war es nämlich Krzistof Welicki, Wanda Rutkiewitz und einem Teil der internationalen polnischen Expedition endlich gelungen, auf den Gipfel des Annapurna zu gelangen.

Ich bespreche kurz über Funk die Möglichkeit eines Versuches mit dem polnischen Expeditionsleiter. Er habe nichts dagegen, wenn sich die Zeitpläne seiner Gruppe mit der unseren nicht überschneiden, lautet die Antwort. Diese Nachricht bringt in unserem Lager sofort alles wieder in Schwung. Eine amerikanische Expedition, die seit kurzem neben uns ihr Basislager aufgestellt hat, erfährt von unseren Absichten und hilft uns spontan mit Material und Lebensmitteln aus.

Am 22. Oktober machen sich Vladimir Baschkirov, Vladimir Obikhod, Sergei Isaev und Nikolay Petrov auf den Weg. Die Amerikaner Andy Lapkas und Geoff Radford bieten uns an, bei ihnen im Basislager zu bleiben, nachdem sie festgestellt hatten, dass unsere Vorräte an Kerosin und Nahrungsmitteln auch im Basislager zu Ende gegangen sind. Gemeinsam verfolgen wir vom Lager aus den Versuch unserer Freunde. Die Sonne lässt sich kaum blicken, und es ist in den letzten Tagen deutlich kühler geworden. Nachmittags zieht man bereits die Daunenjacke an. Wie kalt muss es erst dort oben sein! Aber Kälte scheint die vier nicht zu stören, denn am 26. Oktober um 14.00 Uhr stehen sie gemeinsam auf dem Gipfel!

Im Basislager herrscht grosser Jubel, und unsere amerikanischen Freunde scheinen Kletterei im unteren Teil der Felskerze auf ca. 7000 m genau so glücklich zu sein wie wir. Am Abend feiert auch Wanda Rutkiewitz mit uns zusammen.

Vielleicht konnte ich deshalb damals Wanda nicht so recht verstehen. Als wir nämlich zusammen das Basislager Richtung Pokhara verliessen, drehte sie sich ein letztes Mal Richtung Annapurna um und flüsterte laut: ( Verfluchte Berge!)2 Aber dies ist schon wieder eine ganz andere Geschichte.

2 Die erfolgreiche polnische Höhenbergsteigerin Wanda Rutkiewitz starb im Mai 1992 am 8586 m hohen Kangchendjunga. Dieser Berg hätte ihr neunter Achtausender werden sollen. ( Die Red. ) Auf ca. 7100 m im steilen kombinierten Gelände der Annapuma-I-Südwand

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