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Vor vierzig Jahren

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VON HERMANN ROTH, ST. MORITZ

Ich bin kein Bergsteiger mehrDas ist nicht etwa die Frucht einer umstrittenen Behaglichkeit, sondern eine ärztliche Feststellung. Bloss fünf Worte. Der Leser aber, den ich meine, wird das Mass des Verzichtes erkennen. Zwar schaut im Kasten mein Eispickel immer noch hochnäsig auf seine Artgenossen der niederen Kaste hinab, und das Bergseil am Nagel hat jenen Duft, der von den Felsen kommt, nicht verloren. Aber nun ruhen diese Werkzeuge, die einst auf Gletschern und Gräten dem beschwingten Leben gedient hatten. Und das Leben selbstEs hat sich in jene Gefilde zurückgezogen, wo die Erinnerung dem Verzicht die Herbe nimmt. Grauköpfe unter den Alpinisten kennen sie wohl, diese Glückseligkeit, wenn ihre Gedanken vergangenen, nie wiederkehrenden Bergfahrten nachhängen. Da mag es mitunter vorkommen, dass die leise Wehmut ihr eigenes Weh abstreift. Da rafft sich gleichsam das alte Herz zu alten Taten auf.

Einer solchen alten Tat, meiner allerersten Hochtour, will ich diese Erzählung widmen. Ich weiss nicht, ob und wen ich damit erfreuen kann. Die Tätigen lieben ihre eigenen Eroberungen, und die Ruhenden... wer weiss, vielleicht hört mir der eine oder andere unter ihnen zu, als ob ich ihm im Zeichen von Dichtung und Wahrheit die Geschichte seiner eigenen ersten Bergfahrt erzählte:

Ich verbrachte meine Jugendzeit am Fusse des Juras, wo ich vom Stubenfenster aus meine Blicke so oft über die Dächer der Stadt hinweg zur fernen Alpenkette schweifen liess. Ich sah die eisigen Hänge im gleissenden Sonnenlicht, bewunderte sie im Abendrot und fürchtete sie im schwarzsilbernen Kleid der letzten Dämmerung. Mit kindlichem Erschauern kletterten meine Augen an der wilden Eiszacke des Finsteraarhorns empor. Einmal ging ich sogar so weit, meine leise Sehnsucht zur ersten Probefahrt antreten zu lassen, indem mir meine Phantasie eingab, mich selbst in ein fingergrosses Hölzchen zu verwandeln. In dieser wunderlichen Verkörperung liess sie mich im nahen Walde an einem mächtigen Felsblock Schritt um Schritt, Griff um Griff emporklimmen. Es war eine gewagte führerlose Partie! Und wer mir heimlich hätte zusehen können, würde verständnislos den Kopf geschüttelt haben. Am wenigsten Beifall wäre von meiner Mutter zu erwarten gewesen, welche das Hochgebirge mehr als Drohung denn als Lust empfunden und hinter jedem Eispickel das Zeichen des Bergunglücks gewittert hatte. Allein, meine Sehnsucht nach Firn und Fels war stärker als das mütterliche Mahnwort.

Als ich siebzehn Jahre alt war, kam ich sozusagen ohne mein Hinzutun an die Reihe. Einer meiner Lehrer, ein Berggänger von auserlesenem Format, fragte mich zu Beginn der Herbstferien, ob ich ihn auf seiner Tour zur Oberaarjochhütte begleiten möchte. Er habe zusammen mit dem Hüttenwart das Inventar aufzunehmen. Die Zusage lag mir auf der Zunge, und zum eigenen Verwundern hatte meine Mutter nichts dagegen einzuwenden. Einige Tage später wurde ich im Hause des Lehrers mit Pickel und Steigeisen ausgerüstet, und alsdann wanderte ich, diese Habe wie ein Weihegeschenk durch die Gassen und Strassen der Stadt tragend, mit gehobenen Gefühlen nach Hause. Meine Mutter erschrak nicht wenig, als ich mit den klirrenden Werkzeugen vor der Türe unserer Wohnung erschien; sie erhob wie zur Abwehr ihre beiden Arme und sprach:

« Nei, nei, ums Himmels wille, so han ig 's nid gmeint! » Zu spät! dachte ich frohlockend; denn ein Lehrer ist immerhin ein Lehrer, dessen Rechte zuweilen bis ins Elternhaus seiner Schüler zu reichen vermögen. Von einer Beschwichtigung ihres Schreckens konnte natürlich keine Rede sein; aber da meine Position nun einmal stark unterbaut war, fand Mutter sich bekümmert, doch wortlos mit der Tatsache ab Allmählich häuften sich in meinem Zimmer jene Gegenstände an, welche die Welt eines Rucksackes ausmachen, und es war jetzt doch wieder die gute Mutter, die sich an der wachsenden Freude ihres Sohnes nun selber auch zu freuen begann. Der Tag der Abreise rückte heran, und es war gut so; denn meine Vorfreude nahm überbordende Masse an. So ertappte ich mich selbst einmal beim heimlichen Streicheln des Pickels.

Am Vorabend der Abreise verdüsterte sich leider nicht nur das Antlitz meiner Mutter, sondern auch der Himmel. Trug er etwa die Vorzeichen dessen in sich, was ihr Sinnen so ängstigte? Wortlos half sie mir, die Höhlung meines Rucksackes mit all dem bunten Rüstzeug auszufüllen, und sie gab mir zu wissen, wie die einzelnen Päcklein und Säcklein ihr Nebeneinander ordnungsgemäss zu fristen hätten, damit kein Griff darnach vergeblich sei. Ich widersprach ihr nicht; denn jeder Ratschlag war ja gleichzeitig auch zu einer stummen Zustimmung geworden. Grosse Ereignisse pflegen, wenn sie in greifbare Nähe rücken, den Schlaf zu rauben. So war es denn in der Nacht vom 2. zum 3. Oktober jenes Jahres belanglos, dass sich als Begleitmusik zu meiner inneren Erregung gleich ein heftiges Gewitter entlud. Die Blitze zuckten pausenlos und zeichneten wilde Girlanden in den nächtlichen Himmel. Das ganze Seeland glich einem Feuerkessel, und der Donner rollte ohne Unterlass dermassen, dass ich, würde ich geschlafen haben, das Rattern des Weckers kaum vernommen hätte. Jetzt griff meine Mutter zum letzten Abwehrmittel! Sie erschien auf der Schwelle meiner Türe und tat so, als ob sie meinen Entschluss zur Abreise ganz einfach nicht mehr verstehen könne.

« Bi däm Wätter geit doch kei vernünftige Mönsch z'Bärg! » rollte auch ihre Stimme, und kopfschüttelnd schritt sie der Küche zu. Während meines Frühstücks sass sie wortlos am Tische und betrachtete mich und alle meine Bewegungen, als wäre es das letztemal.

Da schlug der Blitz in der Nähe unseres Hauses ein.

« Eh myn Gott! Ghörsch, wie ne 's tuet? » Ich hörte es wohl und - schwang den Rucksack um. Jetzt ging das Licht aus. Während ich im Dunkel der Zimmerecke nach dem Pickel griff, zündete meine Mutter eine Kerze an, damit ich das Haus nicht in der Finsternis verlassen müsse, erklärte sie. Als ich ihr, nun selbst auch etwas benommen, die Hand zum Abschied reichte, sagte sie mit verhaltener Stimme:

« Wenn nume wieder heichunnsch, Bueb! » Dann stand ich draussen und suchte unter prasselndem Regen und im Scheine der Blitze den Weg zum Bahnhof. Mein Lehrer empfing mich lächelnd und antwortete auf meine Frage, ob es denn wirklich ernst gelte, beruhigend:

« Es Gwitter duuret nid acht Tag. » Bald hernach führte uns der Zug dem Morgenlicht entgegen, das sich auf der Höhe von Thun erst noch mit fahlem Sonnenschein vermengte. In Meiringen, dessen Boden ich erstmals betrat, trennten wir uns. Mein Lehrer wählte den Weg über Willigen, wo er unsern Bergführer, Kaspar Roth, abholte, während ich mich durch die Aareschlucht nach Innertkirchen begab.

Am späten Vormittag, die herbstliche Sonne leuchtete jetzt wärmend ins Haslital hinab, trafen wir uns irgendwo am Rande eines Wäldchens und setzten unsere Wanderung gemeinsam fort, den sanften Windungen der Grimselstrasse entlang dem letzten Dörfchen, Guttannen, zu. Noch hatten wir seine Talebene nicht erreicht, als wir auf ein seltsames Geräusch, das von der jungen Aare her zu unsern Ohren drang, aufmerksam wurden. Wir legten unsere Säcke ab und begaben uns neugierig ans Ufer, wo aus dunkelbraunen und schäumenden Fluten ein wildes Getöse stieg. Die Wellen stiessen gewaltige Steinblöcke vor sich hin, und über sie hinweg glitten wie gespenstische Segler frisch entwurzelte Bäume. Sah ich recht? War das nicht eben ein Teil eines Holzhauses, der schwerfällig in der gischtenden Brühe daherkollerte? Und hinter ihm her wand sich eine Telephonstange, an welcher noch die Drähte wirr und gekräuselt hingen. Wir beschleunigten unsern Gang zum Dörfchen, wo wir bei einem Imbiss Näheres von der Ursache der entfesselten Kräfte zu erfahren hofften. Aber niemand wusste Bescheid, und kurze Zeit später schritten wir talauf und mussten stellenweise schon durch die überschwemmte Bergstrasse waten. Da endlich eilte ein Senn auf uns zu und riet uns mit erregter Stimme, nach der Steinbrücke sogleich auf die rechte Talseite zu halten, da ein Durchkommen beim Handeckfall unmöglich sei. Seinem Rate folgend, stiegen wir einen steilen, wenig begangenen Fussweg bis auf die Höhe ob dem Handeckfall hinan und wurden die ersten Zeugen eines Naturereignisses, das aber bloss in meinen jungen Augen ein dramatisches Aussehen hatte. War es bedeutungsvoll oder kaum der Rede wert, dass an jenem Oktobertag eines regenarmen Jahres die Eisüberdeckung eines Gletscherseeleins einstürzte, dass das verdrängte Wasser den natürlichen Staudamm durchstiess und als Sturmflut die jähen Hänge hinunter zu Tale brauste, das Wäldchen und die Aussichtsterrasse über dem Handeckfall mit sich in die Tiefe reissend? Wie dem auch war, meinen Augen prägte sich jenes Ereignis unvergesslich ein. In ihm fand ja die Sorge meiner Mutter an jenem Morgen ihren ersten Widerhall. So pflegte also das Hochgebirge seine Gäste zu empfangen, wenn es übel gelaunt ist! Was harrte meiner wohl noch?

Nach mühseliger Überwindung der Umwege erreichten wir wieder die unversehrte Bergstrasse ob dem Fall und gewannen mehr und mehr an Höhe, während der nahende Abend die Bergflanken mit stahlblauem Licht überzog. Zu jener Zeit stand das Grimselhospiz noch fest wie eine Burg am Ufer des Paßseeleins, hatte aber für uns späte Berggänger die Pforten bereits geschlossen. So suchten wir ein nahes Wegerhäuschen auf, wo ich auf einem Strohlager die erste Nacht in den Alpen verbrachte.

Die Sterne leuchteten noch am nächtlichen Himmel, als wir am andern Morgen marschbereit vor die Türe traten. Ein kalter Wind fegte von den Gletschern her über das Wasser. Wir bogen in südlicher Richtung in das Felsental ein und schritten gemächlich über die steinübersäte Ebene. Irgendwo führte der enge Pfad zwischen zwei haushochen Felsblöcken hindurch. Dort erprobte der Führer die Schwindelfreiheit seines jungen « Herrn », indem er mich hiess, hinter ihm her am einen Blocke hochzuklettern und, einmal oben, den Sprung über die tiefe Spalte zum andern Blocke zu wagen. Das Fähigkeitszeugnis wurde mir mündlich und auf sehr trockene Art ausgestellt. Als die Morgenhelle den Felsenkessel ausgeleuchtet hatte, tauchten im Hintergrunde im ersten Sonnenlicht die majestätischen Lauteraarhörner auf. Das Gefühl, mich erstmals in der beglückenden Wirklichkeit des Hochgebirges zu befinden, war für mich überwältigend, und es überkam mich wie ein Freudenrausch, der aber bald nach einem plötzlichen, sehr steilen Anstieg über Grasbänder und Halden gedämpft wurde. Wenn diese Höhe einmal überwunden sei, erklärte mir der Führer, würden wir gleich den Oberaargletscher betreten können. Dies wirkte wie ein Zauberwort auf mich. Zum erstenmal in meinem Leben einen Gletscher betreten, das war doch die Erfüllung eines jahrelangen Jugendtraumes! Ich wollte diesem Ereignis jedenfalls die denkbar grösste Überraschung abgewinnen und richtete deshalb während des Gehens die Augen unablässig auf meine Schuhe. Erst im Augenblicke, da sie auf das ewige Eis hinüberwechseln würden, sollten meine Blicke das ganze Wunder umfassen dürfen. Ich liess von diesem absonderlichen Vorsatz nicht ab und musste dafür manches Stolpern über Gras- und Steinbuckel in Kauf nehmen.

Endlich breitete sich der Gletscher vor mir aus. Die Morgensonne hatte aus einem bläulichweissen Schimmer ein Leuchten hervorgezaubert, das nach dem Aufstieg aus dem finstern Felsental zum Inbegriff des blendend Schönen wurde. Nun war ich also in die Gesellschaft dieser stummen und grossen Freunde eingeführt worden, und ich gelobte ihnen - selber still geworden - heimlich meine ewige Treue.

Du magst mich, lieber Leser, kopfschüttelnd der Schwärmerei bezichtigen und wähnen, dass dieses jünglingshafte Empfinden einer allzu romantischen, einer vergangenen Zeit angehöre. Du hast recht! Ich fühle heute vielleicht so modern und so nüchtern wie du. Allein, ich erzähle hier mein erstes Bergerlebnis vor vierzig Jahren und denke trotz allem mit leiser Wehmut an die verlorene Glückseligkeit jenes Augenblicks zurück.

Damals hörte ich dem Knirschen wie einem Liede zu, wenn sich die scharfen Zacken der Steigeisen bei jedem Schritt ins körnige Eis gruben. Und die Verbundenheit, welche durch das Seil von Mann zu Mann entstand, löste in mir ein bis dahin nie gekanntes Verantwortungsbewusstsein aus. Ich lernte nun das Denken, Fühlen und Handeln zu dritt. Die grünblauen Tiefen der Gletscherspalten überwindend, näherten wir uns der Lücke am Fuss des Oberaarhorns. Über ein kleines Felsenband steigend, erreichten wir um die Mittagszeit das gesteckte Ziel unserer Tour: die Oberaarjochhütte des SAC. Ich kenne ihr heutiges Antlitz nicht. Damals war sie ein kleines Holzhaus, mit sonnengeschwärzten Schindeln bewehrt; sie stand, mit Drahtseilen gesichert, inmitten einer jähen Felswand auf einer halbwegs künstlichen Steinterrasse.

Schnell legte ich die Steigeisen ab und schritt voller Neugier über die Schwelle der Türe ins Innere der Hütte. Seltsam, dieses jedermann offene, einladende Haus ohne Wirt! Köstlich, dieses Gefühl des Geborgenseins hinter getäferten Wänden und putzigen Fensterchen mitten in der Wildheit der Berge! Da wurde ich mir so recht der Leistungen und der Entbehrungen der Erstbesteiger bewusst, die sich etliche Jahrzehnte zuvor in Höhlen und Spalten ihr dürftiges Biwak einrichten mussten. Bald knisterte das Feuer im kleinen Eisenherd, und der Geruch einer werdenden Erbsensuppe hätte mit jedem Duft aus einer Hotelküche wetteifern können. In polternden Holzschuhen durchstöberte ich derweil die Gemächer, die mir « fürstlich » vorkamen. Als wir das Mittagsmahl eingenommen hatten, setzten wir uns zu dritt aufs Bänklein vor der Hütte und schauten in die stille Bergwelt hinaus. Am späteren Nachmittag wurden Pflichten zugeteilt. Führer und Lehrer oblagen dem Hütteninventar, und mir wurde das Reinigen und Sonnen der Wolldecken zugedacht.

Eine wolkenlose Nacht kündete sich an. Ihr ging die rotkristallene Klarheit eines spätherbstlichen Abends voraus, die noch für kurze Zeit alles aufzudecken pflegt, was der grosse Winter bald begraben wird. Ich war unsäglich glücklich, dieses schauen zu dürfen. Vor dem Einschlafen in säuberlich zurechtgelegten Decken tasteten meine Augen noch das fremdartige und doch so heimelige Innere des Schlafraumes ab, dessen Gebälk im flackernden Kerzenlicht leise zu tanzen schien...

Es war ein vielversprechendes Erwachen am folgenden Morgen. Statt Hahnenschrei oder Wecker rief uns eine frische Brise vom Fensterchen her aus dem Dösen. Heute, so gab mir der Führer mit gewichtiger Miene zu verstehen, hätte ich mit ihm Dachdeckerarbeit in luftiger Höhe zu leisten. Er holte den mitgebrachten Kaminhut aus Blech hervor, rüstete sich mit Seil und allerlei Werkzeug aus und hiess mich, ihm zu folgen. Von der Bergseite her erklommen wir den Dachfirst der Hütte, sicherten uns fachgemäss und brachen zunächst den ausgedienten, schief und baufällig gewordenen Hut ab. Sein Nachfolger wurde im Glänze der Neuheit aufgesetzt, und hernach kleideten wir die Dachfläche seiner nächsten Umgebung mit neuen Schindeln ein. Während wir auf diesem luftigen Sattel unsere Arbeit verrichteten, von wo aus nach der Talseite keine Traufe, wohl aber eine gähnende Tiefe von etlichen hundert Metern zu sehen war, blickte ich mal über den rittlings knienden Führer hinweg in die Höhe und betrachtete wie schon tags zuvor mit gruselndem Empfinden die ungeheuer hohe, senkrechte und schwarze Wand eines Berges. Das sei das Finsteraarhorn, einer der schönsten Berge dieser Gegend, erklärte mir der Führer. In kauernder Stellung mass er mit seinen Blicken wechselweise den Giganten und meine bubenhafte Kleinheit und frage mich schliesslich und beinahe beiläufig:

« Wottsch uehi? » Für einen Spass war ich schon immer zu haben, und ich meinte, ihn in gleicher Weise zu erwidern, wenn ich lachend zusagen würde. Indes, der Spass verstand sich nur auf meiner Seite; denn als eben in diesem Augenblicke mein Lehrer den Kopf vom Dachrand her hinaufstreckte, rief ihm der Führer zu, der « Jüngling hier » habe Lust, den « Höre » zu besteigen. Das war natürlich glatt gelogen! Denn die drohende, tausend Meter hohe Nordostwand war ja genau die Illustration zu den Ängsten meiner Mutter. Überdies kam mir der Riese alles andere als einladend vor. Aber ehe ich noch den Ernst der Frage zu begreifen vermochte, drang des Lehrers Stimme wie etwas Selbstverständliches zum First hinauf:

« Abgmacht! » Am folgenden Morgen um 2 Uhr war Tagwacht. Ich torkelte vom spärlich erhellten Schlafgemach durch den Essraum ins Freie und hörte wieder belustigt dem Lärm meiner Holzschuhe zu. Draussen sah ich vor mir die tiefschwarze Wand des Finsteraarhorns aus dem sternenübersäten Himmel treten. Sie schien beileibe doppelt so hoch als am Vorabend zu sein... Kein Wunder, aber ein damals von mir gehütetes Geheimnis, dass mich in jenem Augenblicke eine arge Bangigkeit befallen hatte. War es von einem siebzehnjährigen Jüngling nicht eine Vermessenheit sondergleichen, dieses schaurige Ungetüm besteigen zu wollen? Würde ich nicht just mit dieser halsbrecherischen Tour die Besorgnis meiner Mutter rechtfertigen? Wie man mitunter doch ängstlich werden kann, wenn sich eine unbekannte Gefahr nächtlich beim Alleinsein ankündigt oder auch nur schemenhaft bemerkbar macht! Dass meine Zähne zu klappern anfingen, hatte freilich nur der eisige Wind auf dem Gewissen, der vom Oberaargletscher her blies und, als wäre es ein Frohlocken, leise singend an den Felswänden vorbeistrich -. Im Herd brannte bereits ein Feuerchen, als ich wieder in die Hütte trat, und die Geschäftigkeit der beiden Männer ermahnte mich zur Mithilfe. Nach dem Frühstück wurde gleich in der Küche angeseilt, und jeder zündete seine Laterne an. Miteinander zeichneten diese Lichtlein durch russige Scheiben die wunderlichsten Schattenbilder auf Wände und Decke.

Dann verliess unsere Seilschaft den Ort. Etwas unbeholfen stieg ich im Dunkel der Nacht mit den Steigeisen an den Schuhen das Felsenband auf den Gletscher hinab. Die Überquerung des sanft geneigten Studerfirns war just der geeignete Anmarsch zur Lockerung der steif gewordenen Gelenke. Wieder freute ich mich an den gespenstischen Schatten, welche die drei Laternen auf den leicht erhellten Schnee in rhythmischen Bewegungen malten. Nur einmal wurde dieses eng begrenzte Bild jäh unterbrochen: eine Sternschnuppe leuchtete plötzlich den weiten Bergkranz taghell aus, und wir hielten wie geblendet eine kurze Weile an. Nachdem wir das steil abfallende Felsentor vom Studerfirn zum Finsteraarhorngletscher zurückgelegt hatten, tauschten wir unsern Laternenschein gegen das erste Morgenlicht ein und erklommen gemächlich die Eisterrassen bis zum Dejeunerplatz, von dessen Höhe aus wir zu unserer Freude einem wolkenlosen Tag entgegenblicken konnten.

Nach dieser Rast setzte sogleich der Anstieg über die steile, weisse Südwestflanke des Finsteraarhorns ein, der das Klopfen meines Herzens mehr und mehr zu einem Hämmern werden liess. Die Bangigkeit, welche mich noch am frühen Morgen leise heimgesucht hatte, war nun im vollen Lichte des Tages völlig verschwunden. An ihre Stelle trat aber sogleich ein neuer Eindruck, den jeder Bergsteiger schon irgendwann und irgendwo erlebt hat; man pflegt zwar später über ihn und über sich selbst zu lächeln. Im Augenblicke aber wird einem beides zu einem kleinen Ärgernis. Was war es denn? Nun, eine flache und weite Welle des Firnhanges liess mich jedesmal im Wellental hoffen, der nächste Wellenberg sei bestimmt der letzte, und immer wieder tauchte eine nächste Welle auf. Gesellt sich eine Ermüdung hinzu, fängt man an, solche Dinge mit den Augen zu messen und zu zählen, und jedes Fehlresultat stärkt den Missmut. Dazu kam, dass die nahende Viertausendergrenze weder Führer noch Lehrer etwas anzuhaben schien, was mich in heimlichen Neid versetzte. Ei, man kann dieses unfreundliche Gefühl mitunter bei andern wecken, wenn man summend oder gar pfeifend eine erschöpfte Partie überholt; doch das sind bloss Miniaturen im Reiche menschlicher Bosheiten.

Endlich! Endlich hatten wir den bekannten Hugisattel erreicht. Er stellt eine Schulter im Längsprofil des Berges dar, von wo aus man auf schmalem Eisplateau erstmals die Blicke über den schaurigen Abgrund schweifen lassen kann. Das Oberaarhorn, an dessen südlicher Flanke wir die Nacht verbracht hatten, war jetzt zu einem unscheinbaren Höcker zusammengeschmolzen, und der Studerfirn glich einem kleinen, weissen Teller. Überhaupt schien alles, was da unten vor wenigen Stunden mühselig errungen werden musste, von unserm neuen Standort aus gesehen eine Bagatelle zu sein. Nun galt es, dem letzten Brocken ( es war tatsächlich einer !) auf den Leib zu rücken. Wir stiegen in den felsigen Grat ein, welcher vom Hugisattel direkt zum Gipfel führt, und überwanden kletternd und ohne besondere Mühe die granitenen Stufen und Zacken. Was die Wellenberge eben noch im unendlich scheinenden Firn an stillen Enttäuschungen geboten hatten, das machte das plötzlich auftauchende Gipfelsignal über unsern Köpfen wieder gut. Ein Händedruck meines Führers und Lehrers und ein unbeschreibliches Jubelgefühl in mir waren eins, und ich kostete gierig von allen Dingen, welche der nahezu viertausenddreihundert Meter hohe Berg zu sehen gab. Es war ein warmer, wolkenloser und windstiller Tag von ungewöhnlicher Klarheit. Zu meinen Füssen breitete sich ringsum das Meer des Hochgebirges aus.

Lieber Bergkamerad! Diese Erzählung hat dich vielleicht enttäuscht. Gewitter, Ängste der Mutter, der Murgang am Handeckfall und anderes mehr liessen einen dramatischen Verlauf meiner ersten Bergfahrt in die Alpen vermuten. Doch der stürmische Beginn klang schliesslich in der Beschreibung einer einfachen Bergfahrt aus. Nichts war geschehen, was wir « aufregend » nennen können.Nichts? Aber was ist es denn, was mir heute nach vierzig Jahren die Feder in die Hand drückt und mich Dinge so schildern heisst, als wären sie gestern erst geschehen? Es ist das Bergerlebnis! In seiner Verklärung behält es die Frische, auch wenn wir die Berge nur noch vom Stubenfenster aus betrachten dürfen.

Bergland

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