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Wanderungen in der Albulagruppe

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Ed. Imhof in Schiers ( Sektion Scesaplana ).

Von

1. Sattelhorn und Bocktenhorn.

Am 4. August 1892 fuhr ich mit dem Morgenzug von Klosters nach Davos, in der Absicht, von da aus einige Touren in der Albulagruppe zu unternehmen. Zunächst hatte ich es dabei auf den Piz Vadret abgesehen, der durch seine Größe und Schönheit mir schon oft und von verschiedenen Seiten aufgefallen war und der überhaupt zu denjenigen Bergen Graubündens gehörte, nach denen ich ein besonderes Verlangen hatte. Um ihm beizukommen, wäre das einfachste gewesen, von Davos durch das Dischmathal nach dem Dürrboden am Fuß des Scaletta zu gehen und am folgenden Tag die Besteigung über den Scalettapaß auf dem von Herrn Rzewuski zuerst gemachten und beschriebenen Weg auszuführen. Um aber den schönen Tag besser auszunützen, wollte ich den Dürrboden nicht auf dem kürzesten Weg durchs Dischma, sondern auf einem Umweg über Sertig erreichen und damit eine kleinere Bergtour verbinden. Für diesen ersten Tag schloß sich mir Herr P. aus Basel an. Obwohl nicht gerade Bergsteiger, so machte es ihm doch Spaß, so ungesucht und ungeahnt zu einer schönen und für ihn nicht ganz leichten Bergtour zu kommen. Bis unser Führer, Georg Valèr, bereit war und wir uns verproviantiert hatten, verging natürlich einige Zeit und so konnten wir erst um 10 Uhr abmarschieren. Auf gutem Sträßchen erreichten wir in 21/4 Stunden Sertig Dörfli, das schon 1860 in hoch liegt und zwei kleine, einfache Gasthäuser hat, die von Sommergästen auch zu längerem Aufenthalt benutzt werden. Ein größerer Fremdenverkehr herrscht aber am Eingang des Thals auf der Terrasse von Clavadèl, wo ein Schwefelbad und größere Etablissemente eine schöne und bequeme Lage gefunden haben. Gleich hinter Clavadèl eröffnet sich der Blick auf den prächtigen Gebirgshintergrund von Sertig, namentlich auf das stolze Dreigestirn des Mittaghorns, Plattenhorns und Hoch-Ducans. Zwar imponieren diese Berge nicht so sehr durch ihre Höhe, denn auch der höchste von ihnen, der Hoch-Ducan, überschreitet nur wenig die 3000 m; auch tragen sie nicht den Schmuck schimmernder Gletscherkronen; aber sie fesseln durch die Kraft ihrer Felsenbauten, die kühn und gewaltig aus dem grünen Thal aufsteigen, wie ungeheure Felsen aus dem Meer. Kahl und trotzig stehen sie da, kein Grün umkleidet ihre nackten Felsenleiber, nur graue Schutthalden ziehen sich in den Gebirgsfalten herunter, nach unten immer breiter werdend, bis sie sich zu einem einzigen großen, zusammenhängenden Mantel vereinigen, der das breite Fußgestell lose umhüllt. Die Härte der Ecken und Kanten wird dadurch wohl in etwas gemildert, aber die trotzige Kraft des Ganzen erhält durch diese Einmischung eines Zuges aus der Wüste etwas Dämonisches und wird nur um so abschreckender. Dieser Eindruck wird besonders dann zum alleinherrschenden, wenn der Himmel sich verdüstert, wenn die Wolken tief und schwer herabhängen, die Blitze zucken und der Donner grollt und hundertfältig in den Felsen wiederhallt, wie ich es einmal im Ducanthal erlebte, als ich von Bergün herkam und von einem Gewitter überrascht wurde. Da war es mir, als zitterte der Boden und als müßten die Berge bersten. Ich war allein und kein Obdach war zu finden; so rannte ich denn, so schnell mich die Beine trugen, durch Trümmerfelder und kniehohes nasses Gras das Thal hinaus. Dabei quälte mich der Gedanke, der Steg, den man weiter unten überschreiten muß, könnte vom hoch angeschwollenen, wütend dahinstürmenden Bach weggeschwemmt sein. Ich wäre dadurch gezwungen gewesen, wieder hoch aufzusteigen und auf einem großen Umweg über den Männlenen und das Älpelti mich nach Sertig Dörfli durchzuschlagen, und wer konnte wissen, was auf diesem Wege Bäche und Rüfen angerichtet hatten! Zum Glück kam es nicht dazu, aber ich ging auch nicht über den Steg. Ein gutes Stück oberhalb desselben fand ich eine von einer alten Lawine herrührende Schneebrücke, unter der der Bach hindurchdonnerte und die ich zum Übergang benutzen konnte. Aber auch nachdem ich den Ausgang gefunden hatte, rannte und stürmte ich vorwärts, denn in den Felsen krachten unaufhörlich fürchterliche Donnerschläge und der Regen goß in Strömen. Damals hatten die Berge der Ducankette für mich etwas Unheimliches. Heute erschienen sie mir in günstigerem Lichte.Vom Strahlenglanz der Sonne Übergossen und von einem reinen blauen Himmel überwölbt, standen sie da als gewaltige Riesen, als kraftvolle, unerschütterliche Wächter des Thals. Noch schöner sah ich sie einige Tage später bei untergehender Sonne. Das Thal lag bereits in tiefem Schatten, aber die Berge leuchteten noch in metallischem Glanz, als wären sie von glühendem Gold. Die Gäste von Sertig Dörfli saßen auf den Veranden der beiden Gasthäuser oder spazierten auf dem schönen, ebenen Weg, um die glänzende Pracht ungestört zu genießen, bis der letzte Funken am Hoch-Ducan verschwand und eine bleierne Farbe auf das ganze Gebirge sich legte. Auf unserm Weg von Clavadèl nach dem Dörfli sieht man auch zeitweilig das Kühalphorn oder wenigstens den vergletscherten Kamm, der von ihm sich nach dem Sertigpaß hinunterzieht. Diese feine Firnschneide reizte mich, aber ich dachte doch nicht daran, daß ich sie zwei Tage später ihrer ganzen Länge nach überschreiten würde, obwohl allerdings das Kühalphorn auf meinem Programm stand. Als wir im vordem Gasthaus von Sertig Dörfli einen kurzen Halt machten und auch das Leidbachhorn und das Älplihorn gerade vor uns aufsteigen sahen, wobei namentlich der Gipfel des letztern als eine schöne, regelmäßige Pyramide sich zeigte, da meinte unser Basler mit einiger Veränderung des bekannten grammatischen Übungssatzes:

„ Wenn mancher Mann wüßte, was manches Thal wär, Thät mancher Mann manchem Thal manchmal mehr Ehr. " Um 1212 Uhr begannen wir den Aufstieg zum Sattelhorn, indem wir zunächst dem Kühalpthal zusteuerten. So lange wir im Thal blieben, hatten wir einen ordentlichen, wenn auch allmälig steiler werdenden Weg. Bald aber mußten wir denselben verlassen, um uns über steile Grashalden links gegen das Plattenthäli hinauf zu ziehen. Die Mittagszeit war für diesen Aufstieg freilich nicht gut gewählt und wir hatten übel von der glühenden Sonnenhitze zu leiden. Unser Basler war daran nicht gewöhnt, und trotzdem wir nur sehr langsam aufstiegen, zerfloß er fast im Schweiß. Auch hatte er mit Herzklopfen zu thun, so daß er in keiner Weise zu größerer Eile gedrängt werden durfte. Deshalb ließ ich ihm den Führer und ging allein voraus, um das Sattelhorn zu erklimmen. Es lag in dieser Trennung keine Gefahr, da wir uns auf dem ganzen Weg gegenseitig sehen und mit Zeichen verständigen konnten. Die Schutthalde, die sich weiter oben gegen die Plattenthälifurke hinaufzieht, war mit aufgeweichtem Schnee bedeckt, ermöglichte mir aber gleichwohl ein ziemlich rasches Fortkommen. Bald bog ich links in die Felsen des Sattelhorns ein, die keinerlei Schwierigkeiten boten. Um 3112 Uhr stand ich auf dem westlichen Gipfel und sah, wie meine zwei Gefährten noch weit unten waren und langsam vorwärts krochen. Ich hatte also alle Zeit, mich auf meiner Spitze umzusehen, und war dessen froh, denn die Aussicht war wirklich schön und bot weit mehr als ich erwartet hatte. Kein Wölklein trübte den Himmel. Besonders schön präsentierte sich der Piz Kesch inmitten seines glänzenden Hofstaates, dann der Doppelturm des Piz Vadret, dem, als meinem nächsten Ziel, meine besondere Aufmerksamkeit galt. Die Ducankette zeigt sich in verkürzter, zusammengedrängter Gestalt, da das Sattelhorn in der geradlinigen Fortsetzung derselben steht; aber die östliche Hälfte, vom Mittaghorn bis zum Gletscherducan, macht mit ihren schroffen Felsabstürzen und mit den ins Ducanthal hinabhängenden Schutthalden doch einen gewaltigen Eindruck. Daran vorbei hat man links das Gletscherrevier des Piz d' Err und rechts die kühnen Gestalten der Bergünerstöcke, doch erscheint das sonst so stolze Tinzenhorn nicht gerade in vorteilhafter Stellung. Mehr Eindruck machen die beiden berühmten Aussichtstürme des Schwarzhorns und des Älplihorns, die man vom Fuß bis zum Scheitel mit einem Blick umfaßt. Weiterhin begrenzen die Tödikette, der Rätikon und die Silvrettagruppe den Horizont; dagegen erinnere ich mich nicht, auch die Berninagruppe gesehen zu haben, deren glänzende Firnhäupter sonst zu den charakteristischen Zügen unserer Gebirgspanoramen gehören. Gar lieblich kontrastieren mit dem vorwiegend wilden Charakter der Gebirgsansichten die freundlichen Thäler von Dischma und Sertig, die man auf langen Strecken überschaut. Gern ruht das Auge dort auf den grünen Matten, auf den zahlreichen Gruppen von Häusern und Ställen, auf den schäumenden Bächen und den weißen Schlangenlinien der beiden Sträßchen. Einen freundlichen Zug in dem großen Gesamtbild liefert auch der zwischen die Massen des Piz Vadret und des Schwarzhorns eingesenkte Grialetschpaß mit seinem blaugrünen See und mit dem dahinter aufsteigenden Cirkus des Grialetschgletschers. Von der westlichen Spitze war ich nach Überschreitung des mehrfach gescharteten Gneisgrates in 10 Minuten auf der östlichen Spitze, von der aus ich auch den Blick auf den Dürrboden hatte und den Aufstieg meiner beiden Gefährten besser beobachten konnte. Die Aussicht änderte sich damit natürlich nur wenig, aber ich benutzte die Zeit, um mich besser in dieselbe zu vertiefen und einzelne Partien davon in mein Notizbuch zu skizzieren. Auch hielt ich eine kleine Musterung in meiner Botanisierbüchse, die namentlich auch das blauäugige Eritrichium nanum enthielt. Ich hatte es in verschiedenen Polstern am Gipfelgrat gefunden. Es ist eine typische Schneepflanze des Urgebirgs und findet sich immer nur in bedeutender Höhe.

Um 41/2 Uhr verließ ich die Spitze und eilte zur Plattenthälifurke hinunter, wo ich gleichzeitig mit meinen Freunden eintraf. Herr P. war in den obern Teilen leichter marschiert als weiter unten und freute sich der gewonnenen Höhe. Aber er hatte nun das Bedürfnis, längere Zeit auszuruhen und sich gehörig zu restaurieren. Valèr und ich benutzten die so entstehende Pause zur Ersteigung des nahen Bocktenhorns. In 20 Minuten waren wir oben und fanden uns für die geringe Mühe reichlich belohnt, denn nicht nur zeigten sich die Gruppen des Piz Vadret, Piz Kesch und Hoch-Ducan besser als auf dem Sattelhorn, sondern es traten nun auch die Bernina-, Ofenpaß- und Özthalergruppen in den Gesichtskreis und die Silvrettagruppe trat deutlicher hervor. Auch die Flora war für diese Höhe von 3000—3047 m bemerkenswert. Ich notierte mir unter andern das schöne Pedicularis caespitosa, den Gletscher-Manns-schild ( Androsace glacialis ), den Gletscher-Hahnenfuß ( Ranunculus glacialis ), die Gentiana bavarica, die Saxifraga oppositifolia und aïzoïdes, die Arenaria ciliata, das Bellidiastrum Michelii und das Ivakraut ( Achillea moschata ). Sehr auffallend war uns der rote Schnee, der namentlich in den Fußstapfen sehr deutlich rosarot sich zeigte und den wir in den folgenden Tagen noch an vielen Stellen und auf großen Flächen trafen, so am Scalettapaß, am Kühalphorn, auf dem Grialetschgletscher etc. Das Bocktenhorn besteht aus dunklem Hornblendeschiefer und trägt einen großen mit einem Holzkreuz versehenen Steinmann, wird also schon öfters bestiegen worden sein. Dagegen scheint das Sattelhorn weniger anzuziehen.

Nach einem halbstündigen Aufenthalt traten wir den Rückzug an, der bis zur Plattenthälifurke wiederum 20 Minuten erforderte. Daraus mag man erkennen, daß der Gipfelbau doch nicht ganz harmlos ist. Kann man auch nicht von eigentlichen Schwierigkeiten reden, so ist doch Vorsicht nötig, namentlich an einer kaminartigen Stelle, die, als wir sie passierten, mit Schnee und Eis ausgekleidet war. Auch sonst ist der Gipfel so steil und zerrüttet, daß man mehrfach auch mit den Händen zugreifen muß, um leichter und sicherer vorwärts zu kommen. Das erwähnte Kamin passierten wir übrigens nur beim Aufstieg, beim Abstieg konnten wir es umgehen, indem wir ein auf der Ostseite des Berges etwas unter der Gipfelkante hinziehendes Schneeband benutzten. Herrn P., der von unten zuschaute, kam diese Traverse durch die scheinbar senkrechten Felsen sehr bedenklich vor, wir aber fühlten uns vollkommen sicher und hatten überall guten Stand.

Der Abstieg durch das Murmetenthäli auf die sogenannten Seeböden und nach dem Dürrboden ging leicht und munter von statten. Im obersten Teil hatten wir einige flotte Rutschpartien in weichem Schnee, auf den Seeböden dagegen ein arges Sumpfwaten und Wassertreten, weshalb wir fanden, die Stelle würde richtiger Sumpfboden oder Gepatsch heißen. Aus Schnee, Geröll und Sumpf befreite uns dann der gut angelegte Scalettaweg, der uns leicht und sicher zum gastlichen Wirtshaus des Dürrbodens brachte. Wir hatten für den Abstieg von der Plattenthälifurke l'/2 Stunden gebraucht und kamen 7 Uhr 45 Min. im Gasthaus an. Hier fanden wir gute Unterkunft, Speise und Trank nach Herzenslust und angenehme Unterhaltung. Aber ein Blick auf den Barometer erzeugte lange Gesichter, das Quecksilber war bedenklich gefallen und ließ für den folgenden Tag Schlimmes voraussehen. Wirklich dauerte es auch nicht lange, so schlichen die Nebel an den Bergwänden daher und erfüllten allmählich das ganze Thal. Froh, den heutigen Tag nach Möglichkeit ausgenützt zu haben, legten wir uns mit einem Minimum von Hoffnungen für den Morgen zur Ruhe.

2. Scalettahorn, Piz Grialetsch und Piz Vadret.

Der 5. August brach richtig als Regentag an. Auch die Nacht durch hatte es geregnet. Als ich um 7 Uhr geweckt wurde, hatten wir einen richtigen Landregen. Der Tag mußte also touristisch als verloren gelten. Wir beschlossen, Herrn P. auf den Scalettapaß zu begleiten, um ihn dort ins Engadin zu entlassen und dann nach Dürrboden, eventuell nach Davos zurückzukehren. Um 9 Uhr brachen wir auf und waren um 10 Uhr 20 Min. auf dem Paß. Das Wetter hatte unterdessen ziemlich gebessert, in den Thälern wenigstens lag kein Nebel mehr, und auch am Himmel zeigten sich größere blaue Flecken. Kühalphorn und Piz Kesch waren freilich noch ganz in Wolken gehüllt, allein es wurde doch zusehends besser, und so beschlossen Valèr und ich, wenigstens das nahe Scalettahorn zu besuchen. Gedacht, gethan. Herr P. eilte ins Engadin, und wir stiegen über schneebedeckte Schutt- und Moränenmassen auf den kleinen Scalettagletscher, dann, links abbiegend, auf den Grat, der vom Scalettahorn gegen den Scalettapaß fällt. Der Schnee war zwar etwas weich, doch sank man nicht zu tief ein und kam darum ordentlich vorwärts. Auf dem Grat gings noch besser, denn er war teilweise schneefrei und stellte eine brüchig-felsige Schneide ohne größere Scharten dar, teilweise war er in eine harte, rauhe Schneedecke gehüllt, auf der man sehr leicht marschierte. Um 11 Uhr 50 Min., eine Stunde nach Aufbruch vom Paß, waren wir auf dem Horn, einer Kuppe von grünem Hornblendeschiefer, auf der wir blühende Polster von Silene acaulis und Androsace glacialis fanden. Die Temperatur war ganz erträglich und die Aussicht nicht so übel, namentlich in die Nähe. Piz Vadret und Piz Kesch zeigten sich in voller Majestät, auch Kühalphorn, Schwarzhorn, Bocktenhorn waren frei geworden, die Berninagruppe war halb, die Silvrettagruppe ganz verhüllt. Was mich aber am meisten interessierte: die ganze Gruppe des Piz Vadret samt deren Auszweigungen lag vollkommen klar vor unsern Augen, und die drei Gletscher, die an das Scalettahorn sich anlehnen, leuchteten im Sonnenglanz. Hätten wir jetzt umkehren müssen, so wäre ich von der Tour doch vollkommen befriedigt gewesen. Aber es sollte uns noch mehr zu teil werden. Valèr schlug vor, nun noch zum Piz Grialetsch hinüber zu gehen und dann über den Groß-Scalettagletscher oder über den Grialetschgletscher zum Dürrboden abzusteigen. Das kam mir gerade recht, denn so erhielten wir eine prächtige Rundtour. Also setzten wir uns um 12 Uhr 25 Min. wieder in Bewegung und überschritten die luftige Firnschneide, die den GroScalettagletscher oben umsäumt. Links fallen die blauen Eismassen in steilen Absätzen und von gewaltigen Schründen durchsetzt zu Thal, rechts hängt ein sanfter, geneigter Firnmantel hinunter zum Vallorgiagletscher. Auf unserer Schneide aber geht sich 's leicht und angenehm. Zwar sinken wir mit jedem Schritt etwas ein, aber nur so viel, als nötig ist, um einen sichern Stand zu gewinnen und jede Gefahr des Absturzes fern zu halten. Nur auf der letzten Strecke, am etwas steiler aufsteigenden Piz Grialetsch, sind einige Stufen nötig. Um 1 Uhr 10 Min. sind wir oben, und bei was für Wetter? Rundum ist 's sonnenklar! Nur hoch über allen Gipfeln sind noch kleine Reste von leichtem Gewölk übrig geblieben, und auch sie gehen ihrer Auflösung entgegen. Wir bleiben eine ganze Stunde auf unserm schönen Punkt und vertiefen uns in die Pracht der weiten und herrlichen Rundschau. Am meisten fesselte uns die nächste Umgebung: der Piz Vadret und seine Trabanten bis zum Piz Sursura, die drei Gletscher zu unsern Füßen, das grüne Dischmathal bis hinaus nach Davos, der gewaltige Piz Kesch und sein Königsmantel, der Porchabellagletscher. Aber auch in die Ferne reicht der Blick: ins Bündner Oberland und zum Tödi, zum Rätikon und zur Silvrettagruppe, zum breiten Dom des Ortler und zur vielgestaltigen Berninagruppe.

Hätten wir nun umkehren, resp. den Abstieg antreten sollen? Warum denn? Es ist ja erst 2 Uhr und wir sind erst etwa 3 Stunden marschiert, das Wetter ist jetzt so prächtig, und die Tage dauern lang. Wenn wir z.B. um 7 Uhr auf dem Grialetschpaß wären, so hätten wir nichts zu fürchten, von dort aus würden wir uns auch bei Nacht zurechtfinden. Also frisch auf zum Piz Vadret, der soll heute noch unser werden! Nie kann 's dort schöner sein als heute. Um 2 Uhr 10 Min. brechen wir auf, und in wenigen Minuten sind wir unten auf dem Vallorgiagletscher. Aber hier wird die Sache etwas mühsamer, denn der Firn ist weich und läßt uns tief einsinken. Gleichwohl erreichen wir den Anfang des großen westlichen Couloirs, das uns zum Aufstieg dienen soll, schon um 1/2 Uhr, und nun kann die Arbeit beginnen. Tornister und Rucksack bleiben zurück, nur was in den Rocktaschen sich leicht unterbringen läßt, wird mitgenommen. Durch den untern Teil des Couloirs geht 's leicht und rasch vorwärts, denn der dortige Schuttkegel ist mit gut tragendem Schnee bedeckt. Weiter oben wird 's etwas schlimmer, weil einzelne Stellen, statt mit Schnee, mit einer dünnen, glatten Eiskruste überzogen sind, so daß es schwer hält, genügend sichern Stand zu bekommen. Besondere Vorsicht erforderten solche Stellen, wo auf der Eiskruste noch eine dünne, trügerische Schneedecke lag, die unter dem Fuße wich, so daß dieser leicht am blanken Eis ausglitschte. Doch waren diese Stellen nicht lang und wir kamen, wenn auch mit einiger Mühe, bald wieder aus denselben heraus. Im obersten Drittel folgte brüchiges Gestein, auf den einzelnen Felsstufen lag mehr oder weniger Schutt, und da und dort brachen kleinere Massen von den Wänden und fuhren krachend und polternd in die Tiefe. Diese Massen kamen aber nicht in unserer Aufstiegslinie herunter, sondern verloren sich in kleinen Seitenrinnen und blieben meist bald in dem arg zerrissenen und zerklüfteten Felsgestein hängen, so daß der Steinschlag für uns nicht beängstigend war. Hoch oben, fast zuoberst im Couloir, hatten wir uns zu entscheiden, ob wir den Gipfel von rechts oder von links nehmen wollten. Herr Rzewuski, der die Passage am besten kennt, hatte mir das erstere angeraten, namentlich mit Rücksicht auf die größere Steinschlagsicherheit. Allein das rechts hinauf ziehende, enge Kamin war, als wir hinkamen, teilweise vereist, und so zogen wir vor, es links zu probieren. Es ging denn auch über Erwarten gut, wir kamen ohne weiteres Klettern über schuttbedeckten Felsboden auf den Grat und von da, rechts abbiegend, unvermutet rasch auf den Gipfel. Wir hatten für das Couloir gerade eine Stunde gebraucht. Unsere Freude über das leichte Gelingen der Tour war um so größer, als dieselbe sowohl für mich als für meinen Führer neu war, und als wir nun noch viel mehr erreicht hatten, als unser Programm vorsah. Wäre das Wetter am Morgen gut gewesen, so wären wir direkt dem Piz Vadret zugesteuert und hätten uns dann wahrscheinlich auch mit ihm begnügt. So aber brachte es das Wetter mit sich, daß wir erst auf eine Bergtour für heute verzichteten, dann aber der Reihe nach das Scalettahorn, den Piz Grialetsch und den Piz Vadret in einem Zug nehmen konnten.

Die Aussicht war, wie sich denken läßt, prachtvoll, denn sie wurde auch nicht durch den geringsten Nebel- oder Wolkenrest geschmälert. Zum drittenmale standen wir heute auf einem Punkt, an dem drei Gletscher zusammenkommen, auf einem Dreigletscherstein, wenn diese Bezeichnung analog der vielgebrauchten Form Dreiländerstein erlaubt ist. Aber während am Scalettahorn und Piz Grialetsch die betreffenden Gletscher an den sanftern, gerundeten Gehängen bis auf die Spitzen der genannten Berge steigen und sich hier berühren, bleiben sie hier, am Piz Vadret, am Fuß des gewaltigen Felsenbaues zurück, der mit Ungeheuern Mauern schroff und reich gegliedert aus dem Gletschermeer aufragt. Dieser Piz Vadret ist nicht nur der höchste und centralste der nach ihm benannten Gruppe, sondern er ist auch der schönste und stolzeste. Besonders von Westen, etwa vom Kühalphorn oder vom näherliegenden Punkt 3034 m gesehen, genügt er auch ästhetischen Ansprüchen und erscheint mit seinem durch die tief eingeschnittene Vadretfiirke getrennten Doppelgipfel wie die dicken Pylonen eines altägyptischen Tempels oder eher wie ein gotischer Doppelturm; denn die Gipfeltürme sind nicht, wie ägyptische Pylonen, schwer und ungegliedert, sondern mit zahlreichen Pfeilern, Pilastern, Türmchen und Fialen und mit allerlei Stab- und Maßwerk und mit mannigfaltigen Steinblumen aufs reichste ausgearbeitet. Wir stehen auf dem höhern der beiden Gipfel ( 3226 m ); aber der andere ist kaum merklich weniger hoch und, wie der unserige, mit einem Steinmännchen gekrönt. Von unserer hohen Zinne halten wir Umschau, zwar nicht stolz auf ein beherrschtes Samos hin, aber doch freudig bewegt und mit vergnügten Sinnen. Ich vermag nicht, das grandiose, formenreiche, sonnendurch-leuchtete Bild zu schildern, das sich uns darbot. Nur wenige Züge mögen hervorgehoben werden. Meine Aufmerksamkeit galt besonders der nächsten Umgebung, der Vadretgruppe mit ihren Verzweigungen, vor allem ihrem Gletscherkern und ihrem Rückgrat vom Piz Vadret bis zum Piz Sursura, die ich hier aus dem Centrum und wie aus der Vogelschau betrachten konnte. Dann suchte ich mich im Gesamtgebiet der Albulagruppe zu orientieren, die man in allen ihren Hauptteilen, aber in verkürzter, zusammengedrängter Gestalt erkennt. Die Gruppe des Piz Kesch zeigt sich noch gut, in ziemlich vorteilhafter Stellung und Gruppierung, doch ohne den Porchabellagletscher. Was dahinter liegt, nach Westen und Südwesten, entzieht sich mehr oder weniger den Blicken oder erscheint nur als ein Chaos von Spitzen ohne Regel und Ordnung. Das Ganze der Albulagruppe hat man in weit besserer Übersicht und doch auch noch nahe genug von weiter nördlich vorgeschobenen Posten, wie etwa vom Schwarzhorn, Älplihorn oder Tinzenhorn oder auch von den Hörnern der Strelakette aus, speciell den Piz Kesch und sein Revier am besten vom Kühalphorn oder Sertigpaß aus. Aber großartig präsentiert sich wieder von unserm Standpunkt die Silvrettagruppe und der Rätikon, jene mächtige Gebirgsmasse an der Nordostgrenze Graubündens. Noch großartiger und eindrucksvoller ist die ungeheure Wand jenseits des Engadins vom Maloja bis zur Finstermünz, die schöne Pyramide des Piz d' Esen in der Mitte, die Berninagruppe rechts und die Ofenpaßgruppe links mit allen ihren zahllosen Spitzen, die aber alle deutlich voneinander zu unterscheiden und einzeln zu erkennen sind. Unwillkürlich drängt sich einem da der Vergleich auf zwischen den beiden langen Zügen der Silvretta-Rätikon-gruppe einerseits und der Bernina-Ofenpaßgruppe andererseits. An beiden Orten haben wir rechts das hohe, vergletscherte Urgebirge, links die kahlen schroffen Zinnen und Mauern des Kalkgebirges. Doch zeigen sowohl die beiden Urgebirge als die beiden Kalkgebirge unter sich neben den gemeinschaftlichen Zügen wieder mannigfaltige Unterschiede in Höhe, Formenbildung und Gliederung. Die einmal in Fluß gekommene Vergleichung regt zu weitern Beobachtungen an, und so finden wir denn das Urgebirge noch in der Vadret-, Kesch- und Errgruppe, die Kalkformationen in der Strelakette, in der Ducankette und in den Bergünerstöcken. Dann suchen wir nach dem Zusammenhang der beiden großen Kalkreviere im Norden und Süden, finden ihn aber nicht, da er uns durch den Piz Kesch verdeckt wird. Doch wissen wir, daß dieser Zusammenhang durch eine schmale Kalkzone am Albulapaß ( Kette des Piz Uertsch ) hergestellt wird. Die Beachtung der geologischen Provinzen erleichtert uns die Auffassung und das Verständnis der Formen, die bei aller Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit sich doch auf gewisse Haupttypen zurückführen lassen; die Aufsuchung der orographischen Glieder, der Ketten und Gruppen dagegen bringt Ordnung und Übersicht in das endlose und scheinbar regellose Gewirr der nach allen Seiten ausgebreiteten Gipfel-massen. Übersicht der Massen und Verständnis der Formen erhöhen aber auch die Freude am Gesehenen und machen uns dasselbe auch behalt-barer.

Doch es ist Zeit, daß wir aufbrechen, denn schon ist 's 41/2 Uhr, und wir haben noch einen weiten Weg. Nur einen flüchtigen Blick werfen wir noch nach den äußersten Grenzen des weiten Gesichtskreises, nach dem Durcheinander im Bündner Oberland und nach den in strammer Ordnung dastehenden Riesen der Tödikette, sowie nach den von ferne grüßenden Massen der Özthaler-, Ortler- und Adamellogruppe. Unentziffert blieben uns einige hochaufragende, firngekrönte Häupter hinter dem Spölthal. Es werden die Berge gewesen sein zwischen Poschiavo und Bormio.

Der Abstieg erfolgte bis zum Vallorgiagletscher auf derselben Linie wie der Aufstieg und bot dieselben oder auch etwas größere Schwierigkeiten. Besonders die mittlere, vereiste Partie erforderte große Behutsamkeit und gestattete nur sehr langsames Vorrücken, so daß wir für diesen Abstieg 10 Minuten mehr Zeit benötigten, als für den Aufstieg. Am Ausgang des Couloirs machten wir noch eine Rast von 20 Minuten ( bis 6 Uhr ), namentlich um den Magen etwas mehr zu seinem Recht kommen zu lassen, als das auf dem Gipfel geschehen war. Dann arbeiteten wir uns in 15 Minuten schneewatend um den Nordwestfuß des Piz Vadret nach der Fuorcla da Vallorgia und in einer weitern Stunde über den Grialetschgletscher, natürlich immer noch ordentlich watend, besonders im obern Teil, nach dem Grialetschpaß. Es war 7 Uhr 10 Min., als wir hier ankamen, aber der Marsch bis hieher war trotz des Watens nicht ohne Genuß gewesen, indem er uns einen herrlichen Einblick in das große Becken des Grialetschgletschers gewährte, und die scheidende Sonne wunderbare Farbentöne über das Gebirge goß. Ein kleiner Fußpfad erleichterte uns dann den Abstieg über Schutt- und Grashalden hinunter ins Thal und zu unserm Quartier im Dürrboden, das wir 8 Uhr 15 Min. betraten. Damit hatten wir eine äußerst genußreiche Wanderung hinter uns, die uns zeitlebens in freudiger Erinnerung bleiben wird.

Sollte aber jemand meinen, wir hätten zu viel gethan, drei Berge an einem Tag sei übertrieben, so gebe ich zu bedenken, daß unsere Marschzeit nur etwa 8 Stunden betrug. Nun wird ein achtstündiger Landstraßenmarsch gar nicht als eine besondere Leistung betrachtet, warum sollte es denn ein achtstündiger Marsch im Gebirge sein? Jeder Bergsteiger weiß, daß Gebirgsmärsche im allgemeinen viel weniger ermüden, als Landstraßenmärsche von gleicher Dauer, weil bei erstern die Bewegungen mannigfaltiger und abwechslungsreicher sind, und man dabei auch weniger von Staub und Hitze leidet. Drei Berge an einem Tag wären zu viel, wenn man bei allen dreien vom Thal aufsteigen und ins Thal zurückkehren müßte, aber nicht, wenn man, wie in unserm Fall, ohne größere Gegensteigungen von einem Gipfel zum andern hinüber gehen kann. Auch kann man uns nicht vorwerfen, wir wären als bloße Gipfelstürmer von einer Spitze zur andern gerannt, ohne auf denselben zu verweilen, denn wir blieben auf dem Scalettahorn 35 Minuten, auf dem Piz Grialetsch und auf dem Piz Vadret je etwa eine Stunde. Dazu kommt, daß der Marsch auf der Firnkante vom Scalettahorn zum Piz Grialetsch einem Verweilen auf einem Gipfel gleichkommt. Da aber dieser Spaziergang 45 Minuten dauerte, so können wir sagen, daß wir auf dem Scalettahorn und auf dem Piz Grialetsch zusammen 2 Stunden und 20 Minuten verweilten. Das ist also doch wohl keine Gipfelstürmerei.

3. Kühalphorn und Hoch-Ducan.

Der folgende Morgen brach wieder mit sehr zweifelhaftem Wetter an, der Himmel war bedeckt und durchs Thal herauf drängten dichte Nebelmassen. Wir wußten darum lange nicht, was zu thun sei. Als es aber um 7 Uhr nicht gerade schlechter wurde, wir vielmehr mit Hülfe der Phantasie einige dünne Stellen in der grauen Himmelsdecke zu entdecken glaubten, packten wir schnell zusammen und lenkten um 7 Uhr 15 Min. unsere Schritte wieder dem Scalettapaß zu. In der Höhe der Seeböden verließen wir rechts abschwenkend den Weg, um unter dem Augstenhörnli hin und über den Kühalpgletscher aufzusteigen. Der Schnee trug sehr gut, so daß weder ein Waten noch ein Stufenhauen nötig war. Nach zwei Stunden scharfen Steigens waren wir auf der Kühalpfurke ( cirka 2910 m ) zwischen Augstenhörnli und Kühalphorn, staken aber hier in so dickem Nebel, daß wir rein nichts sehen konnten, als rechts einige dunkle Felsmassen, die dem Augstenhörnli ( 3030 m ) angehören. Auf diese steuerten wir zu und stiegen ein Stück gegen das Hörnli auf, um dort zwischen Felsen wohlgeborgen die Dinge, die da kommen sollten, abzuwarten. So wurde es 9 Uhr 50 Min., ohne daß eine Besserung eintrat. Wir spekulierten nun so: auf der Furke sei eigentlich nichts zu riskieren: ließen wir uns auf der einen oder andern Seite hinunter, so kämen wir nach Dürrboden oder Sertig Dörfli; gingen wir aber auf der Firnschneide vorwärts, so kämen wir in die Felsen des Kühalphorns und könnten unter Umständen den Aufstieg versuchen. Wir entschlossen uns zu letzterm. Bald hatten wir die Firnschneide überschritten und fingen an über ein sehr steiles Schneefeld aufzusteigen, als Bewegung in die Nebel kam und diese rasch zu schwinden begannen. Auf die Firn- und Gletscherwand folgte ein verwitterter Grat, dann wieder eine Firnschneide mit mächtigen Gwächten, und nun waren wir in hellem Sonnenschein und bald darauf, um 10 Uhr 15 Min., auf der gesuchten Spitze.

Hier oben war es schön warm, während es unten im Nebel empfindlich kalt gewesen war. In den Thälern lagerte in weißen, sonnen-beleuchteten Massen der Nebel, in mächtigen Wellen auf- und abwogend, ein bewegtes Meer, aus dem die zahllosen Hörner und Gräte als hohe Felseninseln aufragten, ein prachtvoller, herzerfreuender Anblick, schön und großartig ohne gleichen! Allmählich senkte sich das Nebelmeer und die Gebirge wuchsen immer höher aus demselben heraus, dann entstanden Risse in der Nebeldecke, durch die man in scheinbar unergründliche Tiefen, in die grünen Thäler hinunter sah, hier ins Kühalpthal bis gegen Sertig Dörfli hinaus, dort ins Val Sulsanna mit der Alp Fontauna; jetzt schwindet der Nebel auch vom Porchabellagletscher und dieser liegt wie eine ausgebreitete Karte zu unsern Füßen; dort glänzen die Wiesner Alpen und die Davoser Erbalpen in leuchtendem Grün und nun tauchen auch die sanft gerundeten Höhen der Hochwangkette auf und es zeigt sich das Schlappinerjoch, das breite Drusenthor und das scharf eingeschnittene Schweizerthor, der ganze Rätikon. Aber das Schönste und Herrlichste sind die gewaltige Felsenfeste des Piz Kesch und der Doppelturm des Piz Vadret und zwischen beiden im Hintergrund die im Sonnenglanz gebadete Berninagruppe vom Monte della Disgrazia bis zum Piz d' Esen und noch weiter. Dieses Stück des Panoramas ist von wunderbarer Schönheit und Erhabenheit und man weiß nicht, was man mehr bewundern soll, das glänzende Mittelstück ( Berninagruppe ) oder den stil-und kraftvollen Rahmen ( Piz Kesch und Piz Vadret ); immer wieder wendet man sich dorthin und kann es nicht satt bekommen. Prächtig zeigt sich auch die mächtige Kalkmauer der Ducankette mit den wild zerrissenen Wänden, die gegen das Val Tuors abfallen. Hier haben wir ferner auch den Kalkstock des Piz Üertsch und damit das Bindeglied zwischen den beiden großen Kalkgebirgsprovinzen Graubündens: Rätikon, Plessurgebirge, Ducankette, Bergünerstöcke einerseits, Unterengadiner Berge andererseits.

Nur zu bald ist die Stunde, die wir uns hier oben gönnen, vorbei und wir treten um 11 Uhr 15 Min. den Weitermarsch an und zwar westwärts über den Grat nach dem Sertigpaß. Das ist die prächtige Firnkante, die wir vor zwei Tagen von Sertig aus bewunderten und die mich damals wohl reizte, aber an deren Begehung ich doch noch nicht ernsthaft dachte.Von unten war uns der Grat als eine glatte, regelmäßige Linie erschienen; hier aber erkannten wir ihn in seinem wahren Charakter als einen schartigen Kamm mit allerlei Spitzchen, Türmchen und Klötzen und mit sägeartigen Einschnitten, der zudem nach beiden Seiten sehr steil in bedeutende Tiefe abfällt. Eine vorläufige Rekognoscierung ließ es uns als fraglich erscheinen, ob wir ihn würden überschreiten können. Die Sache konnte nur durch einen Versuch festgestellt werden. Nach Norden hängt ein steiles Firnfeld gegen den Kühalpgletscher hinunter. Dasselbe war mit einer dicken und, wie wir bald merkten, festaufliegenden Schneeschicht bedeckt. Diese Schicht war so weich, daß wir uns mit den Füßen tief in dieselbe eingraben konnten und so auch an sehr steilen und sonst mißlichen Stellen festen Stand erhielten. Das machte uns den Übergang möglich. Zunächst überschritten oder überkletterten wir einige Höcker und Türmchen; andere weiterhin folgende Türme umgingen wir jeweilen rechts auf der obersten Kante der eben genannten, an den Felsen gelehnten Firnwand. Da war denn freilich alle Behutsamkeit notwendig und wir rückten darum nur sehr langsam vorwärts, stellenweise so, daß einer von uns etwa an einer guten Felskante oder im Graben zwischen Schnee und Fels sich verankerte und nur der andere um Seileslänge oder wieder bis zu einem guten Felsvorsprung sich fortbewegte, dann feststand, bis der erstere nachgerückt war und so weiter. Hier und da konnten wir dann wieder den festen Fels betreten und über denselben wegklettern. So ging es bis zum Punkt 2966 m, wo die Schwierigkeiten ein Ende hatten und von wo wir im gewöhnlichen Gangschritt nach dem Sertigpaß hinunterkamen. Aber es war 12 Uhr 45 Min., als wir denselben erreichten, und wir hatten also für eine Kammstrecke, die in der Luftlinie nur etwa 11/2 km. mißt, 11/2 Stunden gebraucht.

Nachträglich erfuhr ich von den Herren Dekan Hauri und A. Rzewuski in Davos, daß unsere Auf- und Abstiegslinie am Kühalphorn früher nie von Touristen begangen, ja sogar für unmöglich gehalten worden war. Herr Hauri hatte den Berg über die Südwand bestiegen, die gewöhnliche und leichteste Route führt aber vom Scalettapaß her über die Nordostseite des Berges. Der Berg wird jedoch nur selten bestiegen, wohl weil er etwas weit von Davos entfernt ist und von dort nicht in die Augen fällt. Aber vom Dürrboden aus ist es eine leichte und äußerst lohnende Tour von durchschnittlich 3-312 Stunden für den Aufstieg. Als Aussichtspunkt ist er dem so vielbestiegenen und vielgerühmten Schwarzhorn am Flüelapaß mindestens ebenbürtig, wenn nicht überlegen. Er steht dem Centrum der Albulagruppe näher und gewährt einen bessern Einblick in dieselbe als das Schwarzhorn, sodann ist er in unmittelbarer Nähe des Piz Kesch und Piz Vadret, für welche beide er das beste Schaugerüst bildet, ferner ist man hier auch der Berninagruppe näher und überblickt dieselbe in ihrer ganzen Ausdehnung und in prächtiger Einrahmung, und endlich bietet der weite, herrliche Porchabellagletscher ein alpines Schaustück ersten Ranges, dem das Schwarzhorn nichts Entsprechendes an die Seite stellen kann. Für beide Aussichtspunkte mag hingegen die eigentliche Fernsicht ungefähr gleichwertig sein. Mit dieser Vergleichung soll nicht etwa der Ruhm des Schwarzhorns geschmälert, sondern nur auch dem Kühalphorn sein Recht zugesprochen werden. Davos hat eben nicht nur einen Aussichtspunkt ersten Ranges, sondern es hat deren mehrere. Nur nebenbei sei bemerkt, daß das Älplihorn bei Sertig Dörfli ( 3010 m ) neben Schwarzhorn und Kühalphorn als der dritte im Bund genannt werden dürfte, sowohl was Leichtigkeit der Besteigung als Herrlichkeit der Aussicht anbelangt.

Am Sertigpaß wurden wir von einem Gewitter überrascht. Eilig kam es durch das Sertigthal hergezogen, flog über unsern Köpfen hin und verfieng sich am Piz Kesch. Kräftige Donnerschläge widerhallten in den Felsen und wir wurden mit einem ordentlichen Graupenfall traktiert. Der Piz Kesch sah eine Weile unheimlich finster aus wie ein grollender Riese und dann hüllte er sich ganz in die schwarzen Wolkenmassen, so daß nichts mehr von ihm zu sehen war. Doch dauerte das nicht lange, bald hellte es auf und die Sonne brach wieder siegreich aus dem Gewölk hervor. Und wir, was sollten wir thun? Nach Sertig absteigen? Das wäre ja freilich ganz vernünftig gewesen, aber deswegen doch nicht das einzig Vernünftige. Warum sollte denn eine Fortsetzung der Tour, wenn man dazu Kraft, Lust, Zeit und Gelegenheit hat, nicht ebenso vernünftig sein, als ein Abbrechen derselben in der Mitte eines schönen Tages? Es war mir darum aus dem Herzen gesprochen, als mein braver Führer den Vorschlag brachte, noch auf den Hoch-Ducan zu gehen. In zwei Stunden können wir oben sein, meinte er, also nicht später, als gestern auf dem Piz Vadret. Sei es morgen wieder schön, so könnten wir uns dann an den Piz Kesch machen und hätten so das schöne Wetter ordentlich ausgenutzt, etc. Es brauchte bei mir natürlich nicht lange Überredungskünste. Rasch entschlossen hieß es um 1 Uhr 30 Min.: Auf zum Hoch-Ducan! Über den flachen Rücken des Großboden erreichten wir in einer halben Stunde die Bergüner Furca und hatten dabei immer den Blick links hinunter auf die schönen blauen Seeaugen der Laihs da Raveisch und gerade vorwärts auf den Hoch-Ducan, an dem wir uns die Aufstiegslinie ordentlich zurechtlegen konnten. Dann gings über eine Trümmerhalde schräg ansteigend gegen eine vorspringende Felsrippe und weiter ein gutes Stück über diese empor. So weit war die Sache weder schwierig, noch eigentlich anstrengend, denn daß wir stellenweise auch mit den Händen zugreifen mußten, konnte uns nicht als Schwierigkeit erscheinen, sondern brachte eine angenehme Abwechslung in die Arbeit. Weiter aber folgte eine lange, schutterflillte Steinschlagrinne, die nicht zu vermeiden war und die dadurch ermüdend wurde, daß der Schutt beständig unter den Füßen wich, so daß man mit jedem Schritt aufwärts mindestens einen halben, manchmal aber auch einen ganzen Schritt oder zwei zurücksank. Wo es anging, traten wir jeweilen aus der eigentlichen Falllinie heraus, um in den Seitenwänden auf festerem Gestein vorzurücken. Mancherorts war aber dieses Gestein so verwittert und brüchig, daß kein Verlaß darauf war und manche Bruchstücke von den anfassen-den Händen oder auftretenden Füßen losgerissen und in die Tiefe gestürzt wurden. An solchen Stellen ist es ein großer Vorteil, wenn man nur zu zweien ist; man bringt sich gegenseitig weniger in Gefahr und rückt bei gleicher Anstrengung weit schneller vor als in größerer Kolonne. Oben geht die Schuttrinne in ein engeres und noch steileres Kamin über, durch das wir auf den Grat südwestlich vom Gipfel kamen. Dieser Grat ist scharf und schartig und steigt auch noch ziemlich steil an. Glatte Platten fallen von ihm steil gegen das Ducanthal ab und diese waren gerade mit einer dünnen Eiskruste bedeckt, so daß wir einige Mühe hatten, darüber weg zu kommen. Hier, wie schon weiter unten in der Steinschlagrinne, bekamen es Schuhe und Hände zu fühlen, daß wir nicht mehr im Gneiß- resp. Hornblendegebiet uns befanden, sondern in rauhem, arg zerklüftetem und verwittertem Kalkgebirge. Die Felskanten waren vielfach so scharf geschliffen, daß sie wie Messer in das Leder und in die Haut schnitten und man sie nur mit Vorsicht berühren durfte.

Es war 3 Uhr 10 Min., als wir die Spitze betraten, und wir hatten also vom Sertigpaß an nicht viel mehr als 1112 Stunden und von der Bergüner Furca 1 Stunde und 10 Minuten gebraucht. Die Aussicht war auch hier wieder über alle Beschreibung schön und großartig. Das Sertigthal lag in wundervoller Beleuchtung da, so daß man bis weit hinaus jedes Häuschen, jeden Stall erkennen konnte. Geradezu abschreckend wild und trostlos öde ist dagegen das von oben bis unten schutterfüllte Ducanthal, in dem man von unserm Punkte aus kaum einen Anflug von Grün zu erkennen vermag, der wahre Typus eines Wüstenthals, eingefaßt von den furchtbar verwitterten Felswänden der Ducan- und der Monsteiner-kette. Einen freundlichem Anblick gewährt wiederum das Val Tuors von den Raveisch Seen bis zu den mit zahllosen Hütten besäeten grünen Maiensäßen von Chants und Chaclavuot. Endlos ist der Gipfelkranz von der Rheinwald- und Tödigruppe bis zur Bernina-, Silvretta- und Özthalergruppe, die in weitem Umkreis die innern Bündneralpen umschließen. Vor allem herrlich zeigen sich nun hier die schönen Gestalten der Bergünerstöcke und der weite Gletscherkranz vom Piz d' Err bis zum Piz Julier, und sie erregen mein besonderes Interesse, denn ihnen gilt der zweite Teil meines diesjährigen Programms. Prachtgestalten sind auch von hier aus wieder der Piz Vadret und der Piz Kesch, doch haben sie mir vom Kühalphorn aus besser gefallen, denn dort steht ihnen nichts im Weg; vom Hoch-Ducan aus dagegen werden sie in ihrer Erscheinung doch etwas beeinträchtigt durch das Kühalphorn und den Piz Forun.

Es war schon fast 4 Uhr, als wir den Rückzug antraten, und wir würden damit wohl noch länger zugewartet haben, wenn nicht von Westen her ein zweites Gewitter gedroht hätte.Vom Oberland her rückten die schwarzen Kolonnen immer näher, und schon vernahm man fernes Donnerrollen. Uns mußte daran liegen, ins Ducanthal zu kommen, bevor die Wolkenschlacht in unserer Gegend entbrannte. Bis gegen die Ducanfurke ( 2858 m ) hielten wir uns nahe an den Kamm und schwenkten dann halb- Jahrbnch des Schweizer Alpenclub. 29. Jahrg.2 rechts ab, um den Ausgang ins Thal zu finden. Da ging das Wetter los, zwar noch nicht mit Regen, aber mit Blitz und Donner und heftigen Windstößen. Wir mußten fürchten, vom Nebel umhüllt zu werden und die Orientierung zu verlieren. Da war nicht Zeit zu langem Suchen. Die Hauptsache war, so bald als möglich aus den Felsen heraus auf die untern Schutthalden zu kommen; die Beschaffenheit des Weges war dabei nebensächlich, wenn wir nur durchkamen. So wählten wir denn eine lange, schmale Runse, die zwar sehr steil durch die Felsen hinabführt und jedenfalls öftern Steinschlägen ausgesetzt ist, die wir aber von oben genügend überblicken konnten, um sie als passierbar zu erkennen. Wir kletterten und rutschten durch dieselbe hinunter, großenteils auf allen Vieren, und kamen dabei, auch abgesehen von den allfällig drohenden Steinschlägen, stellenweise in nicht ungefährliche Situationen. Umsicht und Entschlossenheit, sowie Kletter- und Sprungfertigkeit wurden da ordentlich in Anspruch genommen, halfen aber auch über alle Schwierigkeiten weg, so daß wir ziemlich bald die Schutthalde erreichten, die als ungeheurer Mantel von den senkrechten Felsen hinunterhängt bis zur Bachrinne des Ducanthals. Hier waren wir außer Gefahr. Im Sturmschritt rannten wir die Halde hinunter, teilweise so, daß wir, mit beiden Füßen in feinem Schutt stehend, mit diesem abwärts rutschten, als ob 's Schnee wäre. Erst als wir den Bach bereits überschritten hatten, erreichte uns der Regen und trieb uns zu fortgesetzter Eile an. So kamen wir schon vor 5 Uhr, nach weniger als einer Stunde ( 55 Minuten ) seit Verlassen des Gipfels, bei der Schäferhütte unten im Ducanthal an. Hier konnten wir den Regen vorüberziehen lassen. Wir traten also ein und — wen trafen wir da, in der hintersten Ecke wohlgeborgen eine Habanna schmauchend? Ein Clubmitglied aus Davos, Herrn P. Heckel. Er war über Monstein und am Krachenhorn vorbei gewandert und hatte sich, wie wir, vom Gewitter überrascht, in das armselige Hüttchen geflüchtet. Beiderseits war man über das unerwartete Zusammentreffen erfreut und hatte sich gar viel zu fragen und zu sagen. Das schadhafte Dach gewährte freilich nur unvollkommenen Schutz, aber man wußte sich doch einzurichten und war bei Cigarren und Proviantresten ganz vergnügt. So war ein gemütliches Plauderstündchen gar bald vorbei. Um 5 Uhr 45 Min. hatte der Regen so weit nachgelassen, daß wir wieder weiter ziehen konnten, und als wir um 6 Uhr 15 Min. in Sertig Dörfli ankamen, war es wieder so schön geworden, daß der bereits fallen gelassene Plan der Keschbesteigung wieder aufgenommen werden konnte. Herr Heckel zog noch am selben Abend heim nach Davos und besorgte mir von dort aus ein Telegramm an meine Frau, so daß ich um so unbesorgter einen weitern Tag zusetzen konnte. Der Abend wurde noch in angenehmer Gesellschaft zugebracht. Die Vorbereitung für die Keschtour war bald getroffen, und ein gesunder Schlaf that dafür das Beste.

i. Piz Kesch.

Der folgende Tag, ein Sonntag ( 7. August ), brach glanzvoll an und sollte auch völlig ungetrübt verlaufen. Um 4 Uhr war Tagwacht und um 5 Uhr wurde abmarschiert. Ich war gespannt, wie wir auf den Piz Kesch kommen würden, denn weder ich noch mein Führer waren vorher oben gewesen. Diesmal zogen wir strammer aus, als an allen vorausgegangenen Tagen, denn von Sertig Dörfli bis auf den Kesch und wieder zurück ist ein weiter Weg, und 5 Uhr ist dafür keine frühe Aufbruchstunde. Man hatte uns gesagt, wir würden 3 Stunden brauchen bis zum Sertigpaß und weitere 2 Stunden bis zum Punkt 2631 m am Band des Porchabellagletschers, dem für die seitdem erstellte Keschhütte in Aussicht genommenen Punkt. Von dort sollten es bis auf die Spitze noch 3 Stunden sein. So hatte man uns also 8 Stunden vorgerechnet. Wir hofften aber, doch weniger zu gebrauchen. Trotzdem schlugen wir durchaus keinen Schnellschritt an, aber wir gingen stetig, gleichmäßig immerfort, ohne Pausen, auch ohne viel zu sprechen, und kamen so schon um 7 Uhr auf den Sertigpaß. Bis weit ins Kühalpthal hat man einen guten und mäßig ansteigenden Weg, dann überschreitet oder überspringt man in der Nähe des kleinen See's den Bach, und steigt nun ohne deutlich erkennbaren Weg im Zickzack über eine steile, mit Steinblöcken besetzte Grashalde empor, bis man in ein weites und ebenfalls steiles Trümmerfeld kommt. Hier erleichtert wieder ein Fußpfad den Aufstieg bis hoch hinauf, oder wenn nicht Schnee liegt, bis auf die Paßhöhe. Wir fanden die letzte, mit Trümmern erfüllte Mulde unter dem Paß noch in eine dicke Schneeschicht gehüllt, über die wir, da sie von guter Beschaffenheit war, leicht fortkamen. Ohne Halt auf dem Sertigpaß, den wir ja von gestern her kannten, stiegen wir gleich südlich ins Val Sertig hinunter, überschritten etwa 200 m unter der Paßhöhe den Bach und traversierten die Hänge am Mittelberg — so nennen die Jäger die Gruppe des Piz Forun, Munt Piatta naira und Piz Murtelet — und zwar so, daß wir uns, um unnötige Gegensteigungen möglichst zu vermeiden, etwa in der Höhe des Club-hüttenplatzes zu halten suchten. Diesen Platz erreichten wir um 8 Uhr 15 Min., und hier verweilten wir bis 9 Uhr, denn er ist zu schön gelegen, als daß man nur flüchtig an ihm vorbei gehen möchte. Überwältigend ist der Eindruck, den der weite, flach gewölbte Porchabellagletscher und der daraus riesengroß emporragende Piz Kesch auf den Beschauer machen, besonders wenn das Ganze so wundervoll beleuchtet ist, wie wir es trafen. Auch der Piz Val Müra ( 3149 und 3164 m ) und die kleinern Spitzen am Ostrand des Gletschers und bis zur Alp Fontauna heben sich mit ihren Firnmänteln und Gletscherhauben wunderbar vom tiefblauen Firmament ab und laden, wenn auch bis jetzt vergeblich, zum Besuche ein. Im Westen grüßen durchs Val Tuors herein der Piz d'Äla und das Tinzenhorn, im Norden das Kühalphorn und der Sertigpaß, und ganz nahe steht der Piz Forun als Haupt einer kleinern Gruppe ( Mittelberg ) zwischen Val Fontauna und Val Tuors. Seither ist auf diesem Platz eine schöne, in Holz gebaute Clubhütte entstanden. Bei der Einweihung war ein großes Volk um dieselbe versammelt, und alles war des Lobes voll über die Schönheit des Platzes, obwohl das Wetter dieselbe nicht zur vollen Entfaltung kommen ließ.

Um 9 Uhr betraten wir den Gletscher. Er war mit tragendem Schnee bedeckt, und so konnten wir im angenehmsten Spazierschritt über ihn wegschreiten bis in die Höhe der Fuorcla d' Es-chia ( 3008 m ), die wir schon um 10 Uhr erreichten. Nun erst wurde der Gletscher steiler und der Schnee weicher. Westlich in einigen Zickzacklinien ansteigend, waren wir um 10 Uhr 40 Min. schon über die Randkluft hinaus, die wir ohne Mühe auf dicker Schneebrücke überschritten hatten. Eine kurze, aber steile Firnhalde führte uns in die Felsen hinauf, die hoch und jäh sich auftürmen, so daß man von unten nicht recht erkennen kann, wie man da soll hinaufkommen können. Immerhin hatten wir uns vom obern Teil des Gletschers eine Marschlinie zurechtgelegt und einzelne Stellen gemerkt, die uns als Leitpunkte dienen sollten. Die Sache ließ sich ganz gut an. Die Felsen sind überall fest und sicher, gewähren also auch guten Stand und, wo es etwa einmal nötig wird, auch gute Griffe. Eine einzige Stelle, etwa in der Mitte der Wand, machte einige Mühe, weil wir dort auf abschüssige, glatte, mit dünner Eisglasur bedeckte Gneisplatten kamen, ohne erreichbare Griffe zu finden. Wir hätten die Stelle rechts umgehen können und haben es im Abstieg auch gethan; jetzt aber wollten wir ohne Not keinen Umweg machen und krochen darum auf allen vieren über die Platten weg. Dann folgten keine Schwierigkeiten mehr. Wir hatten auch keine Mühe mit Auffinden des Weges und mußten keine Strecke zweimal zurücklegen. Es gab sich alles von selbst. Schneller als wir es erwartet hatten, waren wir auf dem Gipfelgrat, einer schmalen, mit überhängender Gwächte gekrönten Schneide, die wir noch von Osten nach Westen überschreiten mußten, um zum Steinmännchen zu kommen. Dieses war aber ganz im Schnee vergraben, so daß wir kaum die obersten Steine desselben sehen konnten und das Männchen eigentlich nur an der darin steckenden Stange erkannten. Es war 11 Uhr 10 Min., als wir die erste ( östliche ), und 11 Uhr 15 Min., als wir die zweite ( westliche ) Spitze betraten. Wir hatten also von Sertig Dörfli an, einschließlich einer dreiviertelstundigen Rast am Clubhüttenplatz, 61/4 Stunden gebraucht und konnten nun, da auch das Wetter herrlich war, ziemlich lange oben bleiben.

Die Aussicht, die wir an diesem Tage genossen haben, zählt zu den großartigsten, unbeschränktesten, die ich kenne. Monte Rosa, Dom und Weißmies, Finsteraarhorn, Dammastock und Titlis, Oberalpstock, Düssistock und Tödi, Ringelspitz, Calanda und Graue Hörner, Churfirsten und Sentis waren deutlich zu erkennen und bezeichneten in den betreffenden Richtungen die entferntesten Punkte. Nach Osten und Südosten begrenzten die Özthaler-, Ortler- und Adamellogruppe den Horizont. In der Ortlergruppe konnten wir z.B. Ortler, Zebru, Königsspitze, Cevedale und andere Häupter mit Sicherheit unterscheiden. Am meisten freute mich aber das Näherliegende, die Überschau über das ganze weite Gebiet der Bündner Alpen, die man wohl von keinem andern Punkt in so vollständiger und instruktiver Weise vor und um sich hat wie vom Piz Kesch aus, da dieser außerhalb der Berninagruppe der höchste Punkt Graubündens und außerdem hier von allen Hochgipfeln der centralste ist. Von den Thälern allerdings sieht man wenig, ein kleines Stück des Engadins mit Pontresina und etwas von der Lenzerheide, aber das Gebirge ist vollständig da, auch dasjenige des Bündner Oberlandes und der Rheinwaldgruppe, nur hat man allerdings einige Mühe, in dem dortigen Wirrsal sich zurecht zu finden; doch treten die großen Haupthörner: Rheinwaldhorn, Vogelberg, Guferhorn, Tambohorn, Piz Beverin, Piz Terri, Piz Medels u.a. scharf und deutlich aus den verworrenen Massen heraus und bringen Ordnung in dieselbe. Mit besonderm Interesse betrachtete ich die Albuiagruppe, auf deren höchster Zinne ich ja stand. Lüsterne Blicke sandte ich nach den Gruppen des Piz d' Err, der Bergünerstöcke und des Piz Piatta, die sich besonders vorteilhaft zeigten und denen ich in letzter Zeit von Tag zu Tag näher gerückt war. Was aber soll man erst sagen von den glanzvollen Gestalten der Berninagruppe! Es ist nicht daran zu denken, durch eine Beschreibung ein Bild davon geben zu wollen. Es genüge, zu sagen, daß man von der Bergellergruppe ( Bon-dasca-, Albigna-, Forno-, Disgraziagebiet ) bis zum Piz Seesvenna an der Ostgrenze alles überblickt und daß man nicht satt werden kann, die Berninagruppe im engern Sinn, das über alle Maßen herrliche Gletschergebirge zwischen Bernina- und Murettopaß, zu bewundern und sich einzuprägen. Nichts im ganzen Umkreis reicht an das prächtige Trio von Piz Bernina, Monte di Scerscen und Piz Roseg und an die silbernen Wellen von Piz Zupo, Bellavista, Palü und Cambrena. Eben war ich daran, nachzusehen, ob vielleicht jemand auf dem Piz Ot wäre, als Stimmen und das Klirren von Bergstöcken an unsere Ohren drangen. Wenige Minuten darauf tauchten drei Männer beim Steinmännchen auf. Es waren Herr A. Baumgartner von Zürich ( Sektion Uto ) und Führer Rauch mit einem Sohn von Bergün. Sie waren durch das Val Tuors und die Alp Plazbi aufgestiegen. Das war nun für uns eine Veranlassung, noch länger auf der Spitze zu bleiben, als es sonst geschehen wäre, und es zeigte sich auch da, daß geteilte Freude doppelte Freude ist. Durch gegenseitiges Zeigen und Erklären des Panoramas wurde der Genuß erhöht und alles besser eingeprägt. Mir dienten dabei die orographischen Gruppen und geologischen Provinzen wieder als Verständnis-und Gedächtnishülfen.

So wurde es 1 1/4 Uhr, bis wir gemeinsam den Rückzug antraten. Unsere Aufstiegslinie diente uns auch zum Abstieg, mit dem Unterschied jedoch, daß wir die früher erwähnten übereisten Platten vermieden. Auch gingen wir jetzt bis unter die Fuorcla d' Es-chia, wo der Gletscher weniger steil wird, am Seil, während Valèr und ich den Aufstieg ohne dasselbe gemacht hatten. Auf dem ganzen Gletscher war der Schnee weich geworden, so daß wir mit jedem Schritt tüchtig einsanken und bei der brennenden Sonne ordentlich in Schweiß kamen. Um 3 Uhr waren wir wieder auf unserm schönen Hüttenplatz und hielten hier auch jetzt wieder eine dreiviertelstündige Siesta. Führer Rauch kehrte nach Chaclavuot zurück, Herr Baumgartner dagegen kam mit uns nach Sertig Dörfli, um dann von hier nach Arosa weiter zu gehen, wo er einen Sommeraufenthalt machte. Wir brauchten 11/4 Stunden vom Hüttenplatz bis auf den Sertigpaß und 1 3/4 Stunden von da nach Sertig, wo wir etwas vor 7 Uhr ankamen. Wir fühlten uns nicht sonderlich müde und hätten zur Not noch ganz gut nach Davos hinaus gehen können. Ich wäre aber an diesem Tag doch nicht mehr ins Prätigau gekommen, und so zogen wir vor, im freundlich heimeligen Sertig zu bleiben und da die Erlebnisse der vergangenen Tage zu besprechen und neue Pläne zu schmieden. In den Gruppen des Piz Vadret und Piz Kesch mit ihren Vor- und Seitenketten war ich zwar noch durchaus nicht fertig, es gab da noch manchen Berg zu besteigen, manchen Winkel abzusuchen, und ich habe später auch wirklich noch verschiedene Touren in diesem Gebiet ausgeführt. Aber anderes versparte ich auf künftige Jahre und verlangte nun zunächst nach den Bergen von Bergün, Oberhalbstein und Avers. Drum hieß es am folgenden Morgen: ade, ihr Berge von Davos, auf Wiedersehen ein andermal! Den Clubisten aber möchte ich zurufen: kommt her und seht sie selbst, durchwandert sie nach allen Richtungen, klettert an ihren Felsen empor und ergeht euch auf ihren Gletschern. Wo ihr sie faßt, da sind sie schön!

Ich kann meinen Bericht nicht schließen, ohne meines Führers, Georg Valèr von Davos, dankbar zu gedenken. Seiner bergsteigerischen Erfahrung und Übung, seiner Bereitwilligkeit und Ausdauer verdanke ich zum guten Teil die schönen Erfolge der letzten Tage. Auch bei solchen Touren, die ihm neu waren, wie Piz Vadret, Kühalphorn und Piz Kesch, zeigte er sich als findiger Sohn der Berge und seiner Aufgabe in jeder Hinsicht gewachsen. Wer mit ihm geht, steht unter guter, sorgsamer Führung.

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