Wettersturz im Valsorey | Club Alpino Svizzero CAS
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Wettersturz im Valsorey

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Ein schwerer Schlag traf im August 1924 die Sektion La Chaux-de-Fonds: ihre Hütte im Valsorey am Fusse des Grand Combin brannte ab. Der Hüttenherd war scheint 's schuldig. Sofort beschloss man, so steht im geretteten Hüttenbuch, den Wiederaufbau, und zwei Jahre später zog man vor einer neuen Hütte am alten Platz eine neue Schweizerfahne auf, und der Abt vom Hospiz auf dem Grossen St. Bernhard gab dem Berghaus die Weihe.

Es war unser nächstes Ziel, dem Combin galt unser Sehnen und Streben. So entstiegen wir an einem herrlich schönen Augustmorgen in Bourg-St-Pierre dem eidgenössischen Postauto, das den modernen Wandersmann zum Grossen Bernhard hinaufbringt, bestaunten pflichtschuldigst im Hotel Déjeuner de Napoléon den Grossvaterstuhl, in dem der Korse bei zwei weichen Eiern über den Transport seiner 58 Kanonen gebrütet, und besahen uns an der Kirche den Meilenstein, den römische Legionäre errichtet. Dann zogen wir zwischen den grauen Steinhäusern hinauf ins Valsorey. Der Rest eines alten Turms steht über dem Dorf am Weg; durch Schiesslöcher sieht man auf die alte Passtrasse. Lärchen geben würzigen Schatten, kräftig duftet das Bergheu. Vom Velan ob der Südflanke des Tals gleisst Schnee, Wasser stäubt über Felsen, rinnt durch Wiesen, und als Talschluss ragt eine Barre schwarzer Spitzen scharf in den Himmel, von winzigen Wölkchen wie schimmernden Perlen umlagert. Heiss brennt die Sonne. So geht 's taleinwärts sachte empor zu den Chalets d' Amont. Kühle, fette Milch löscht den Durst, und schmutzige Schweinchen beschnuppern uns grunzend beim Vespern. Hier nächtigte man früher für den Combin; da war sicher ein See von Kuhmist zwischen der Hütte und dem Felsblock wie heute, und der Senn von damals kochte sich seinen Ramms gewiss im gleichen Kessel am schwarzen Balken wie der jetzige. Und den Velan bestaunten die Alten wie wir.

Ein paar hundert Meter hinter den Hütten geht 's durch eine Rinne steil und rasch auf ein rasiges Bord hinauf. Der Gletscher, der den Velan im Osten umfliesst, schiebt sich zerborsten wie ein vielmäuliger Drache aus der Felskulisse hervor. Die Luisettes, die schwarzen, spitzigen Felsweibchen, werden höher. Noch ein paar Schritte: der Riegel zur Linken tritt zurück und hoch, hoch über uns ragt der Combin de Valsorey in die blaue Luft. Steil fällt der Westgrat zum Col de Meiten, und weit, weit drunten steht auf einem Felsriff winzig die Hütte. Rot leuchtet die Fahne herunter.

Langsam, im Vollgenuss der herrlichen Landschaft, nehmen wir den Weiterweg unter die Füsse. Da droht meiner Frau, die vorausgeht, Gefahr. Hunderte von Schafen stürmen plötzlich auf sie ein, und im Nu ist sie ganz von den schönen und starken Tieren umringt, die Salz heischend an ihr hinaufsteigen. Unser Träger, ein netter und erfreulich bescheidener Mensch, den uns der Napoleonswirt drunten im Tal besorgt hatte, lockt die Tiere, und da sind sie gleich um ihn und um mich. Wahrhaftig, die Dinger machen einem zu schaffen. Eingekeilt stehe ich in der wolligen Masse. Das trampelt, leckt und zupft an mir herum wie an einem Salzsieder, und es braucht manchen Knuff auf die haarigen Nasen, bis sie mich lassen. Nun wenden sie ihre ganze Gier dem Bauernburschen zu, der riecht wie die heimischen Ställe. Sanftes Geblök bettelt um das Labsal, und blechern schettern die Glöckchen. Über dem gelben und braunen Gewoge steht in der Ferne die ganze Mont Blanc-Kette. Prachtvoll!

Doch fort, weiter zur Hütte. In einer Stunde sind wir oben. Frisch glänzen die weiss-rot gestrichenen Läden, neu und lustig weht an der hohen Stange das weisse Kreuz auf rotem Grund. Und unsere Herzen öffnen sich weit für all die Schönheit und Majestät ringsum. « Wo Berge sich erheben... » summt leis das Lied. Vor uns der Velan, gleissend die Firnkuppe unter dem tiefblauen Himmel, hinter uns hoch, hoch der Viertausender Combin und im Westen der Mont Blanc. Silbrig grau ragt der Koloss, dunklere Streifen künden die unheimlichen Abstürze zum Brenvagletscher, und wie eine Lehne zum Thron steigt der Peutereygrat hinan, schwarz der eine Knauf, silbrig weiss, spitzig der andere. Dann die Riesenwand der Jorasses, ein schwarzschattiges Ungeheuer, und weiter nach Norden die Berge der Kette bis zum Tour Noir.

Das war ein Tag! Noch hatten wir die Hütte allein. In der Stube der praktische Herd mit dem grossen Wasserschiff, zwei Tische, fünf Lager, Geschirr in Fülle, der Bund Holz ein Franken. Und wieder wie auf der Fornohütte die Gefache an der Wand für die Weidenkörbe, in die sich der Rucksack ergiesst. Oben ein Schlafraum mit offener Holzwolle; wie man auf der liegt, wird sich zeigen.

Wie schmeckte der Kaffee, den Freund Hartmann uns braute in der sauberen Stube mit den hübschen Vorhängen am Fenster, durch das uns der Velan zusah. Nun kamen aber noch Gäste: Schweizer, Deutsche und sogar trotz der Valuta echte Franzosen mit Führern, später noch zwei Österreicher, die eine Erkundung auf den Col du Meiten gemacht hatten und über den Schnee nicht viel Gutes berichteten. So wurde das Haus allmählich voll, aber man vertrug sich glänzend, und die Kocherei ging ohne Zwist vor sich. Meist war man ja draussen. Auf dem Velan lagen jetzt die Schatten nach Osten, in der Mont Blanc-Gruppe verschwand langsam die Zeichnung, die Grate traten schärfer vor den Himmel. Kleine Wolken schwammen daher, leider auch föhnige Streifen, herrlich rot und bauchig im Wind glühte das Fahnentuch, das weisse Kreuz stand stark und fest wie ein Symbol seiner schönen Heimat.

Dann sank die Sonne. Wie eine schrecklich scharfe graue Riesensäge lag die Mont Blanc-Kette unter dem grünlich klaren Himmel.

Im goldigen Licht leuchtete die Mondsichel und senkte sich schüchtern schmal auf die Aiguille du Chardonnet. Aber der Combin trug eine Haube...

Es kam die Nacht. Ich konnte nicht schlafen. Einmal fuhr ich auf, es war 2 Uhr. Rings um mich schlafende Menschen, Atmen und Schnaufen. Ich taste mich in die Kleider, durch die Schläfer, leis, sachte, und gehe ins Freie. Nacht — Sterne — Wolken. Es riecht nach Regen. Noch einer gesellt sich herzu, auch er schüttelt bedenklich den Kopf. Die Wolken eilen, Sterne blinken wieder auf und sind weg — da, ein Tropfen — wieder einer — hört wieder auf. Noch mehr sind jetzt der Holzwolle, der harten, entflohen; Unsicherheit herrscht. Man hockt in der Stube, frühstückt auf alle Fälle. Es wird 3, es tröpfelt wieder, es wird 4, und jetzt regnet es richtig. Man legt sich, es wird 5 und hell — kein Zweifel, der Wettersturz ist da. Es regnet, es regnet, es klopft aufs Dach, und die Lager sind alle wieder besiedelt. Um 9 Uhr kommen Groz und Hartmann und sagen Lebewohl, für sie ist unter sotanen Umständen der Bergsommer zu Ende. Die Gattin döst weiter, dort und dort streckt sich einer, gähnt, glotzt ins graue Elend und hüllt sich wieder in seine Decke. Das gleichförmige Regengeräusch schlummert ein. Gegen Mittag versammeln uns Langeweile und Hunger am Herd, Teller klappern, Erbswurst duftet, aber auch das geht vorüber. Man probiert es wieder mit Schlafen, aber so geht 's auch nicht ewig. Wieder hockt man in der Stube. Die Franzosen spielen Mühle, ein Basler Student erzählt vom Paradiso und von der Zofingia, meine Frau lernt den Ratgeber vom Uto auswendig, und ich finde einen Artikel über das Wickeln von Gamaschen beachtenswert. Und: es regnet, es giesst, es braust, es klatscht ans Fenster wie die Sintflut, es wird kalt, höchst ungut, es schneit ein Weilchen und giesst wieder im alten Rhythmus. Es stürmt, pfui Teufel, und — warum hat auch keiner daran gedacht, sie herunterzunehmendie ersten Fetzen fliegen von der Fahne. Schon sausen die Österreicher hinaus, auf Heinzheimers Schulter vollbringt Böhm das Rettungswerk. Da hängt nun das Tuch trübselig über dem Herd, und zur Belohnung gibt 's Tee. Es regnet weiter, ein paar Hoffnungslose ziehen ab. Ein Engländer mit zwei Söhnen und einem Führer erscheint auf der Bildfläche, patschpudelnass. Das gibt Anlass zu Betrachtungen, aber bald sind auch die Neuen versunken in das einförmige Gleichmass des Tages. Auf einmal Blitz und Donnerschlag, Giessen und grässliches Klatschen. Jetzt ist der Höhepunkt erreicht — und schier stundenlang geht 's so weiter mit Blitz, Donner und Wasser. Auch daran gewöhnt man sich. Jetzt lese ich den Uto und die Frau den Gamaschenartikel, und der englische Vater bestaunt einen uralten Band « Fliegende Blätter ».

Auch der Tag geht zu Ende, und wieder hebt sich und senkt sich die Brust der Menschen im Schlaf.

Wieder ist 's 3 Uhr, wieder stehe ich draussen — es giesst noch abscheulich. Komm, süsser Schlaf!

Totenstille weckt mich. Es ist Tag. Rings um mich liegen Menschen in ihren Decken wie Leichen. Keiner schnarcht, keiner schnauft. Ruhig atmet neben mir mein Lebens- und Wandergenosse. Kein Regen trommelt aufs Dach. Mit einem Satz bin ich am Fenster — weisser Nebel und — wahrhaftig, dort oben ein Stück blauer Himmel! Aber auf die Freude gibt 's gleich einen Dämpfer: mit dem Combin ist 's ja doch aus. Auf gutes Wetter hatten wir gestern sowieso nicht mehr gerechnet, und so nahmen die Kameraden die Seile ins Tal, weil wir sie doch nicht mehr zu brauchen gedachten. Doch wir vertragen 's mit Gleichmut; wir sind keine Gipfelfresser, wir gehen in den Bergen beschaulich und bedachtsam, geniessen das Schöne auf all unsern Wegen, wo wir es finden.

Jetzt herrscht Leben. Es wird gefrühstückt, geputzt und gepackt. Nebel ziehen, Nebel kommen, blauester Himmel, schönste Sonne — ver- schwunden und gleich wieder da. Überirdisch glänzt der Velan über dem Gewoge. Das strudelt und wallt, ballt sich massig zusammen und zieht flaumleicht zerschleiert hinauf ins prachtvolle Blau. Gottvoll, wert einen verlorenen Viertausender.

Die Franzosen steigen ins Tal, die Engländer verlassen die Hütte in Richtung auf den Col Sonadon. Nach zehn Schritten merkt der Vater, dass er den Rucksack vergessen, und nach einer Stunde findet man im Schlafraum eine Taschenuhr. Die bekam dann ihr Herr, einer der Söhne, wieder, als sie nach einer weiteren Stunde zurückkehrten. Der Schnee war zu nass und zu tief.

So verging der Vormittag: Wasserholen, Hüttenreinigen, Gipfelzigaretten auf der Bank vor der Tür und dazu Combin und Velan. Dort am steil aufbäumenden Westgrat Neuschnee von heut nacht. Hoch oben Schneeguxen und Wirbel und Wehen. Am Vorgipfel steht scheint 's Feuerwehr und spritzt aus drei Rohren, so sieht es aus. Dort drüben, da zersägen die Luisettes schwarzgrau den brandenden Gischt, und von der Sphinx und der Aiguille Verte de Valsorey im blendenden Firn rauschen die Lawinen auf den Sonadongletscher hinunter. Fern und sacht lugen die Jorasses durch die Schleier, und vom Tal herauf trägt ein Windstoss das Geläute der Schafherden.

Es waren Stunden von reinstem Genuss. Kaum bedauerten wir den Verlust des Combin, als wir mit den österreichischen Freunden bei der Ab-schiedssuppe sassen und uns dann fröhlichen Herzens an den Abstieg machten.

Bald tauchten wir ins lichte Grau. In der Rinne ob den Hütten von Amont bewunderten wir ein Mädchen, das unglaublich leichtfüssig bergan stieg, und noch mehr ihren Dachshund, der ohne Furcht und Tadel der Herrin über die steilen Stufen nachsauste. In den Ställen brummten die Kühe beim Melken. Wieder gab 's Milch und Rast, und als die Sonne mählich hinter dem schiefrigen Kamm verschwand, der die Täler der Drance von Ferrex und der von Entremont trennt, erreichten wir die alte Heerstrasse.

Vier Stunden lagen wir andern Tags auf dem Fourchon am Col de Fenêtre. Da stand wieder die Mont Blanc-Kette in strahlender Schönheit, und neidlos sahen wir zurück zu dem Berg, den wir nicht erreichten. Max Hegele.

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