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Wir besteigen den Monte Epomeo

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Mit 2 Bildern ( 123, 124Von Eduard Keller

( Bern ) An einem hochsommerlichen Junitag verlassen wir die heissen Gestade des Mittelländischen Meeres, um den höchsten Berg der Insel Ischia zu besteigen. Sein Gipfel liegt genau 788 Meter über Meer. Rucksack, Pickel, Steigeisen und sonstige Hochgebirgsutensilien bleiben hübsch beiseite, Hemd und Hose genügen bei dieser Hitze. Erst im Laufe des Nachmittags verlassen wir in S. Angelo den weichen, weissen und heissen Sand am Ufer, um über einen holperigen Steinweg höhewärts zu gelangen. Welch eine sonderbare Prozession kommt uns entgegen! Voraus ein sonnenverbrannter « Kuli » Süd-italiens als Lenker eines störrischen Esels. Sein feuerrotes Halstuch eröffnet den Farbenreigen. Hoch zu Ross... nein: hoch zu Esel sitzt der Arzt der Gegend. Würdevoll lässt er sich den steil abfallenden Fussweg hinunter-schaukeln. Am Ende kommt das « Schlusslicht » dieses seltsamen « Gefährtes », wiederum ein südländischer, farbenstrotzender Mann. Dieser hält den Schwanz des Esels in seinen Händen, das Tier gewissermassen steuernd.

Unser Team besteht aus einem armen, glücklichen Eingeborenen, einer reiselustigen, altern Schwedin, einer hübschen Thurgauerin und mir. Schnaufend und schwitzend erreichen wir das nächste, höher gelegene Dorf. In seiner Bauart ist es so merkwürdig, und die ganze Gegend macht einen so seltsamen Eindruck, dass man glauben möchte, in einem andern Erdteil zu weilen. Die Menschen gaffen uns an; wir ruhen etwas aus und betrachten das weite, endlose, dunkelblaue Meer. Ein etwa fünfjähriges Mädchen, ziemlich dreckig, mit ungeputzter Nase, trägt dessenungeachtet feuerrote Fingernägel und ebensolche Lippen. Wo mag dieses Ding jene Dokumente heutiger Zivilisation erwischt habenRasch treten wir noch bei weitläufig Bekannten ein, grüssen sie und staunen ob den zahlreichen Meersäuli, welche um unsere Beine laufen. « Ach », sagt die Frau, « sie sind doch lustig und zugleich gut zum Essen, denn das ist unser Vorrat an Fleisch. » Der Weg geht weiter, aufwärts, in kahles Gebiet, ohne Wald, ohne weitere Siedlungen. Die Sonne beginnt im Westen schon zu sinken. Oben wird der Gipfel des einstigen Vulkans, des Monte Epomeo, sichtbar. Ein merkwürdiges Gebilde von nackten Felsen, Ruinenfragmenten und einem Tor-eingang, der gleichfalls in den Berg führt, baut sich vor uns auf. Auch beginnt ein Wind zu wehen, weht und bläst immer stärker, immer kühler und schärfer. Wer hätte gedacht, mitten im Sommer, in Süditalien, am Mittelländischen Meer, einem geradezu eisigen Sturm zu begegnen Dann nimmt uns der Berggipfel auf. Er ist ausgehöhlt. Ein Eremit wohnt hier mit einer Kuh — das Pferd ist tot. Ein Geistlicher ist auch da, und ein Harmonium ertönt. Wir werden willkommen geheissen, und bald steht eine Flasche « Sole del Epomeo » auf dem Tisch. Aber der Wind dringt überall durch. Dann geniessen wir die Aussicht, die von einer nicht mehr zu überbietenden Romantik ist. Im Westen sinkt die Sonne als feuervergoldete Kugel ins Meer, und gleichzeitig steigt der Vollmond am Himmel empor. In der Richtung Neapel beginnen die Lichter zu glänzen. Die Farben wechseln regenbogen-artig und beirren uns fast, so unerhört seltsam und wunderbar ist das Bild. Aber der stete Windzug lässt uns frieren und fast die Freude an der Natur verlieren. Ich schiebe eine alte Zeitung unter mein Hemd, um nach alter Bergerfahrung warm zu haben, während meine Kameraden turnen, um sich zu erwärmen. Fluchtartig verlassen wir die Stätte dieser unbeschreiblichen Schönheit.

Inzwischen ist es Nacht geworden. In gutem Tempo geht es abwärts. Im nächsten Dorf steht die ganze Bevölkerung auf der Strasse, schwatzt und bummelt, wie das dort so üblich ist. Wir — als Weltvaganten — werden bestaunt, als ob wir aus einem Zirkus kämen. Auf einem kleinen Strässchen wandern wir meerwärts. Alles gleicht einem Märchen: schneeweiss vom Vollmond beschienene Mauern und einzelne Häuser, Zitronen-, Orangen-, Feigen- und andere Bäume lassen das Land zu einem grossen Garten werden. Unser Silfestro beginnt laut zu singen. Dem Thurgauerli glänzen die Augen, die alte Schwedin aber wird böse, weil ein Zigarettenfünklein von Silfestro ihr Kleid streift. Er aber, als Lebensphilosoph, lächelt ihr zu: « Sie haben Angst wegen einem kleinen Fünklein, was wollen Sie denn machen, wenn wirklich irgend etwas geschieht? », und er singt weiter seine Lieder vom Vivere sempre più, la vita è bella usw Nebenbei bemerkt Silfestro: « mi manca niente », obschon sein Leben auf Nichts gestellt ist und er erst noch Kriegs-verletzungen trägt. Ach ja, dieser bunt gekleidete einfache Süditaliener beschämt uns fast mit seiner Ruhe und Zufriedenheit. Würde ein Nordeuropäer oder ein Schweizer sagen: « mir fehlt nichts », inmitten von Komfort und allen « Segnungen » des 20. Jahrhunderts ?!

Die sonderbare Strasse führt uns in grossen, weitausholenden Kurven meerwärts, sie verengert sich manchmal zu schmalen Felsenwegen, um später wiederum das Gehaben einer richtigen Strada anzunehmen. Wir haben Zeit und Musse über das im nächtlichen Mondlicht liegende, schlafende Märchenland nachzudenken. Ganz selten wird ein Lichtschimmer in irgendeinem Gehöft sichtbar, sonst ruhen Land und Leute. Wie seltsam ist doch die Welt und sind ihre Menschen. Eine endlose Wasserfläche glänzt bis zum Horizont wie flüssiges Silber. Unsere Sehnsucht nach Erleben und Abenteuern wird gestillt, und ein tiefer Friede erfüllt uns. So hat uns dieser merkwürdige und höchste Inselberg vieles geschenkt, was uns sonst unerreichbar schien. Und wir erkennen, dass es nicht immer die sensationellsten Berge und gefährlichsten Touren sein müssen, welche uns zugleich höchste Befriedigung zu bringen imstande sind. Ich könnte die Sonnen-, Mond- und Windwanderung nach dem Monte Epomeo auch « Lob des Einfachen » nennen.

Die Alpen - 1951 - Les Alpes22

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