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Zehn Tage im Fels

Hinweis: Questo articolo è disponibile in un'unica lingua. In passato, gli annuari non venivano tradotti.

Rolf Haas,Basel

Die Grundidee für Ferien entstand an Pfingsten. Hans Berger, Kletterclub Bergfalken KBF, war als Führer mit Touristen im Alpstein unterwegs, und zwar zur selben Zeit, als ich mich dort auch gehörig verregnen liess. Hans und ich kannten uns von vergangenen Calanques-Ferien und fanden nun im Überfluss Zeit zum Plaudern, denn Petrus war uns nicht einmal für kurze Zeit wohlgesinnt. Da überraschte mich Hans im Verlauf unseres Gesprächs mit dem erfreulichen Einfall, mich für die Herbstferien einzuladen.

Unser Abenteuer beginnt recht nervenaufreibend. Am Montagnachmittag bin ich mit Hans in Thun verabredet. Am Morgen verbringe ich noch einige Stunden im Wartezimmer eines Arztes, während das Gepäck zu Hause bereitsteht -eine beachtliche Menge, da wir noch nicht bestimmt wissen, wo es uns hinziehen wird. Aber was für ein Pech! Mein kleines Auto streikt. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als meine Habseligkeiten in das Auto der Eltern umzuladen.

:'99 Unterdessen schwitzt Hans in Thun: Er hat seinen neu bestellten Renault 4 noch nicht erhalten! Schliesslich stellt ihm die Garage einen Ersatzwagen zur Verfügung. Und los geht 's.

Nach den kürzlichen Schneefällen kommen für uns nur Klettertouren unter 3000 Meter in Frage. Wir starten also nach Gadmen am Sustenpass und steigen bei Nacht zur neuen Tellihütte auf. Es ist neblig, unfreundlich und kalt, aber die elektrische Einrichtung in der Hütte verhilft uns schnell zu warmem Essen und Trinken.

Am nächsten Morgen müssen wir den Anstieg zur Tellistock-Südwand im Nebel suchen. Allzu gerne hätte ich einen Blick in die Wand geworfen. In einer Mulde im steilen Gras- und Geröllgelände setzen wir uns hin und versuchen mit Rufen und Pfeifen die genaue Lage der Wand zu ermitteln. Wir trauen unseren Augen kaum: In diffusem Licht erscheint nach kurzer Zeit die drohende Südwand direkt über uns, so unmittelbar, dass uns die gelben Dächer fast erdrücken wollen. Noch selten schaute ich in eine so eindrückliche, geschlossen steile Wandflucht. Oder ist es etwa das Nebelloch, das uns den Berg so einzigartig und unvergleichbar erscheinen lässt? Ich zweifle nicht mehr an der Schwierigkeitsangabe VIA2.

Etwas höher gekrabbelt - und das dichte Nebelmeer liegt unter uns.

Am Einstieg betrachten wir die gelbe, weit überhängende « Lippe »; links daneben in einem Kamin befindet sich der Ausstieg. Doch bis dort wird es noch einige Nüsse zu knacken geben. Hans klettert die erste Seillänge voraus, mir verbleibt die zweite, noch nicht so schwierige Stufe. Ein angenehmer Start, wenn eine Wand nicht gleich allzu extrem beginnt. Wir kommen recht gut vorwärts und begeistern uns an diesem festen, rauhen Kalkfels, während es unmerklich kühler wird, so dass wir bald wieder von einzelnen Nebelschwaden umhüllt sind.

Jede Seillänge birgt ihre Schwierigkeiten. Quergänge, Kamine, Verschneidungen bieten uns eine anspruchsvolle und vielfältige Kletterei.

t In der Tellistock-Südwand 2Rotwand-Direttissima ( Dolomiten ) Im Ausstiegskamin ist Hans an der Reihe zu führen, und ich habe das fragwürdige Vergnügen, mich mit dem Rucksack abzumühen. Für einige Meter versuche ich dieses notwendige Übel vor mir ans Sicherungsseil zu hängen; aber dabei zieht es ihn weiter in das Kamin hinein. Na gut, auf den Rücken mit ihm!

Nach einer nebligen, kühlen und deshalb etwas verkürzten Gipfelrast machen wir uns wieder an den Abstieg. Auf felsdurchsetztem Schrofengelände kommen wir mit einer kleinen Gegensteigung zum Sätteli und weiter hinab zur Tellihütte. Diese zweite Nacht verbringen wir ebenfalls hier, weil es unterdessen schon spät geworden ist und wir unser nächstes Ziel, die Dolomiten, doch nicht mehr heute erreichen würden.

Am folgenden Morgen sieht es noch grauer aus. Wir verlassen das Gebiet, und schon auf der Urner Seite des Sustenpasses fängt es zu regnen an. Also werden wir unser Glück in den Dolomiten versuchen und steuern deshalb über den Flüela-und Ofenpass Richtung Bozen. Hans'geheime Wunschtour in den Dolomiten ist die Westwand-Direttissima der Roda di Vael ( Rote Wand ). Von Welschnofen aus sehen wir sie in abendlichem Sonnenlicht gelbrot leuchten; aber schon bei der Ankunft auf dem Karer Pass dunkelt es ein. Hier stellen wir mit Schrecken fest, dass der Automotor sich nicht mehr abstellen lässt, obwohl wir den Zündungsschlüssel gedreht und herausgezogen haben. Erst nach einigen Versuchen fügt sich das Vehikel, und wir steigen in einer Stunde den Weg zurPaolinahütte ( 2127 m ) hinauf.

Am Morgen stehen wir zwar mit gutem Willen, aber mit gemischten Gefühlen auf, denn die Kälte draussen lässt uns sogleich frieren und schlottern. Das kommt davon, dass man beim Packen der Rucksäcke an die Wärme des Etsch-tals zwischen Meran und Bozen und an die guten Trauben, die nach Sonne schmecken, gedacht hat.

Wir vertrödeln noch geraume Zeit in der Hütte, aber es will nicht wärmer werden. Um 8.00 Uhr zeigt das Thermometer noch immer —7°C. Trotzdem können wir es nicht lassen. Die Geröllhalde zum Einstieg ist hartgefroren, und anstelle sommerlicher Wärme bläst uns ein eisig kalter Wind durch die Kleider. Der Blick zum Gipfel lässt unsere Hälse « erstarren ». Die Wand scheint bis zum letzten Meter überhängend, und im alten Dolomiten-Führer ist bloss der Originaleinstieg beschrieben. Wir versuchen an der linken Seite des Wandvorbaus einzusteigen. An zwei Stellen kommt Hans etwa 20 Meter hoch. Zu unserem Erstaunen findet er nirgends Haken vor. Wir sind falsch; es ist zu schwierig, um frei zu klettern. Zu guter Letzt quälen wir uns ein staubiges, 50-60 Meter langes Kamin mit einem zerlausten Zwischenhaken hinauf '. Zeitlich sind wir nach all diesen unvorhergesehenen Schwierigkeiten übel dran. Es ist immer noch sehr kalt, obwohl die Sonne schon die Westwand streift. Elf Uhr ist bereits vorüber; wir entschliessen uns zum Rückzug und vertrösten uns mit ähnlichen Erlebnissen berühmter Alpinisten. Auch ihnen gelang nicht alles auf Anhieb.

Erst im Abstieg erkennen wir die beste Möglichkeit, das Vorbollwerk zu erklettern: i'/2 Seillängen Schwierigkeit III. Und wir rackerten uns vergebens und mühsam ab! Etwas resigniert verlassen wir deshalb diesen Berg und fahren zur nahen Rosengartenhütte. Ein heftiger, durchdringender Wind pfeift. Frierend packen wir unsere Rucksäcke. Der Weg zur Vajolethütte ist nicht besonders beschwerlich, und bald räkeln wir uns in wohliger Wärme. Nur das Haus mit dem Touristenlager ist kalt und ungeheizt.

Früh am nächsten Morgen starten wir in die Ostwand der Rosengarten Spitze ( Catinaccio ). Wir möchten mit der Sonne klettern, und nachmittags verlässt diese die Ostseite des Berges. Schnell finden wir den Einstieg der Steger Führe ( VI- ). Die Kälte ist weit weniger schlimm als am Vortag, und dabei wären wir diesmal viel besser dagegen ausgerüstet.

Der Fels im Steilhang ist wunderbar, und wir gewinnen rasch an Höhe, zuerst mindestens 200 1 Nur die Erstbegeher kletterten diesen Originaleinstieg.

3Die Ostwand der Rosengarten Spitze ( Dolomiten ) 4Stabeier Turm. Die erste extreme Seillänge der Südwand-Direkten Pholos Rolf Haas, Basel Meter in besonders schwierigem Gelände in Rissen kletternd, dann langen, weniger steilen Stufen folgend, wobei uns die Wegwahl die meisten Sorgen bereitet. Die letzten beiden Wand-Seillängen bilden einen würdigen Ausstieg: Die zweitletzte ist recht schwierig und ausgesetzt, mit einigen Haken, die letzte, das Kamin, treffen wir als von kaltem Wind durchblasene Schlucht mit Schneeresten an. Das folgende flache Gratstück zum Gipfel ist windig, verschneit und bereits von der Sonne verlassen; aber die grandiose Aussicht belohnt unsere Anstrengungen. Ringsherum ragen stolz die einzelnen Berggruppen aus dem Dunst. Die Gipfelhöhe der Marmolata ( 3342 m ü.M., ein Sommerskiberg ) mit dem markanten senkrechten Profil des Südpfeilers fesselt unsere Blicke besonders.

Der Abstieg ist eine angenehme, feste Kletterei zweiten bis dritten Grades. Zuerst müssen wir dem verschneiten Nordgrat folgen, dann in der sonnigen Westflanke zum Santner Pass absteigen. Aus dem Kar im Abstieg betrachten wir die Vajo-let-Türme und träumen von irgendeinem Ex-tremaufstieg auf eine der Spitzen. Hans interessiert die direkte Südwand am Stabeier Turm ( VI + A3 ), schon weil sie, wie die Direkte der Roten Wand, vom Italiener Bepi de Francesch erstbegangen wurde. Also sind wir am nächsten Tag am Stabeier Turm zu finden. Die erste, äusserst extreme 40 Meter lange Seillänge geht Hans voraus. Er hat alle Hände voll zu tun. Die wenigen Haken stecken zum Teil nur bis zur Hälfte im Fels, und die Schwierigkeitsangabe VI + ist wirklich nicht übertrieben. Hans muss zwischen sehr mangelhaften Haken frei steigen. Drei Haken am ersten Standplatz. Wir merken erst beim Ausnageln, wie schlecht sie stecken. Hans scheint in Hochform zu sein, und ich bin froh, dass er auch die nächste Seillänge führt. Sie ist etwas mehr als 30 Meter lang, wovon die Hälfte in einer Verschneidung verläuft, in der nur drei Haken belassen wurden. Diese vorhandenen Haken sind unsicher, und schlagen lassen sich 4 kaum bessere. Als ich selbst in der Verschneidung schwitze, fällt mir auf, wie frech Hans an diesen Haken gegangen ist. Es folgen ein kleiner, aber gut gesicherter Standplatz und eine lange Seillänge — 20 Meter künstlich an einer Kante mit einigen Bohrhaken und 20 Meter äusserst strenges Freiklettern an winzigen, unverlässlichen Griffen, die nur allzu gerne unter einem wegbre-chen.

Der Abstieg ist einfach: Abseilen in die Scharte zwischen Delago und Stabeier Turm, dann an den eingemauerten Haken weiter ins Kar.

Diesen Abend noch wechseln wir zum Karer Pass und in die Paolinahütte, weil uns die Rote Wand einfach keine Ruhe lässt. Am nächsten Morgen erklettern wir ohne Schwierigkeiten das uns nun bekannte Vorbollwerk und schlagen die fehlenden Einstiegshaken. Nach 1 Vi künstlichen und 2Va freien Seillängen stellt sich die « gelbe » Wand endgültig glatt und steil auf. Nun erreicht uns die Sonne. Trotz der enormen Steilheit sind oft Stellen in gewagter Freikletterei zu überwinden; die Haken sind mit wenigen Ausnahmen gut geschlagen. Auf den luftigen Standplätzen überkommt uns das Schaudern beim Tiefblick. Unten auf dem Höhenweg im Geröll sammeln sich Gruppen von Wanderern, die unsere Eskapaden verfolgen; das Fernrohr in der Paolinahütte hat Hochbetrieb. Vier Seillängen unter dem Gipfel stossen wir auf eine kleine Höhle. Sie ist mit ganz feinem Glimmerstein ausgekleidet. Zwei Personen können darin traumhaft bequem sitzen; doch haben wir leider zu wenig Zeit zum Rasten. Die Herbsttage sind beachtlich kürzer geworden, und die Sonnenbahn verläuft schon flach. Die Zeit drängt; wir müssen uns zwingen, den wunderbaren Adlerhorst zu verlassen. Nur fünf Meter sehe ich Hans weiterklettern, dann verschwindet er hinter einem Felsvorsprung, und das Seil bleibt unsere einzige Verbindung. Die übernächste Seillänge ist etwa 55 Meter lang. Ich klettere gleichzeitig mit Hans, bis er die grosse, staubige Höhle, etwa 50 Meter unter dem Ausstieg, erreicht hat. Im Nu ist es Abend geworden. Noch ein Zwischenstand - und ich hänge bereits im Dämmern die letzten Karabiner aus. Im düsteren Abendlicht sitzen wir auf dem Gipfel und verzehren mit Genuss den übriggebliebenen Apfel. Unsere Freude ist riesig. Letzte Nacht plagten uns unheimliche Träume von dieser Wand. Nun liegt sie hinter uns!

Der Abstieg führt über den Nordgrat. Wir klettern auf Wegspuren mit Schneeresten und gelangen auch ohne Licht auf den Vajolon Pass. Auf dem nun ganz verlassenen Weg trotten wir müde, aber zufrieden zur Hütte. Wir sprechen ausgiebig dem Skiwasser zu, einer Art Sirup mit Zitrone.

Am andern Morgen steigen wir zum Karer Pass ab, um in eine andere Berggruppe zu wechseln. Wie ungewohnt erscheinen uns zwei Reisebusse, denen viele Leute entströmen. Diese knipsen und filmen eifrig eine Mischung von Natur und Technik - die Rotwand mit vielen Telephon-drähten, Autodächern oder gar mit Hotelunrat im Vordergrund.

Wir fahren gegen das Sellajoch und sehen uns die Via Italia am Piz Ciavazzes an. Hans kribbelt es, diese Route zu bezwingen. Ich hingegen träume von der Marmolata-Südwand. Wir wägen ab, und zu Hans'Enttäuschung fahren wir nach Malga-Ciapéla, der Luftseilbahnstation am Ost-Fuss der Marmolata. Die sehr enge, alte Strasse führt durch eine eindrucksvolle Schlucht, mit vielen Kurven und drohenden Seitenwänden.

Mit möglichst leichten Rucksäcken steigen wir eine steile Abkürzung hinauf, um die Falierhütte ( Rif. O. Falier ) schnell zu erreichen. Im grossen Talkessel am Fusse der Südwandausläufer beginnt es dämmerig zu werden. Die Wucht des 800 Meter hohen Südwest-Wandgürtels wirkt drückend auf uns.

Bereits sehen wir die Falierhütte; es ist also nicht mehr weit. Ein langgezogenes Echo ist die Antwort auf das Bellen des Hundes. Wir treten in den Aufenthaltsraum ein; aber wie ungemütlich! Es ist schon aufgestuhlt, und in der Mitte liegt ein Berg verpacktes Material zum Taltransport bereit. Der kräftige, untersetzte Hüttenwart gibt sich trotz sprachlichen Schwierigkeiten alle Mühe mit uns. Unsere Absichten? Castiglioni-Vinatzer und Messner-Direktroute im oberen Teil. Der Hüttenwart ermahnt uns zur Vorsicht; man erwartet eine Wetterverschlechterung in den Dolomiten. Dazu muss auf dieser Tour mit einem Biwak gerechnet werden. Er versichert uns, dass er am nächsten und wenn nötig auch am übernächsten Tag die Gipfelstation der Seilbahn anrufen werde.

Das energische Klopfen des Hüttenwartes versetzt uns frühmorgens in die Wirklichkeit. Etwas schlaftrunken und mit noch steifen Gliedern machen wir uns « auf die Socken ». Als der erste Sonnenstrahl den Gipfel der Cima d' Ombretta rötet, steigen wir ein.

Hans beginnt mit dem überhängenden Kamin. Er macht, halb in einer Schlinge stehend, Stand; ich überhole ihn, um in einer Verschneidung und dann in Platten weiterzuklettern. Die kommenden Standplätze sind bequemer, das erste Drittel der Wand bietet enorm steile, anstrengende Riss-und Verschneidungskletterei. Der Fels ist traumhaft. Das zweite Drittel der Wand ist weniger steil; zuerst Kletterei in Platten und Quergängen, dann führen eine ganze Reihe von Kaminen und Rinnen zum grossen Biwakband, wo sich einladende Rastplätze befinden. Von hier aus sieht die grosse Direttissima-Piatte eigentlich gar nicht besonders lang aus. Wir täuschen uns allerdings gehörig. Rasch stärken wir uns, und sogleich geht es weiter. Es gilt einige Seillängen mit bröckeligem Gestein zu durchklettern. Nur wenige Haken sind zu finden, ganz selten ein Standhaken. Die Platte richtet sich immer steiler auf. Im ganz senkrechten Teil, etwa in der Mitte des direkten Drittels, weisen zwei Profilhaken den Weg in die äusserst strengen, freien Seillängen. Feine Griff- und Trittlöcher bilden die Möglichkeit, hier hochzukommen. Kaum hängt Hans das eine Seil in den zweiten Haken, da fällt zugleich das Ende des anderen Seiles zu mir herunter: Der Knoten hat sich langsam gelöst, und in unserem hastigen Steigen bemerkten wir nichts davon. Die Sonne geht im Dunst über dem Horizont unter; der Wettlauf mit der Zeit beginnt; dennoch holt die Nacht uns ein.

In einer der letzten extremen Seillängen mit io Meter künstlichem Klettern kann ich Hans nur noch als Silhouette erkennen. Nach seinen Bemerkungen zu schliessen, sind es schwierige Meter. Plötzlich ermahnt er mich aufgeregt, besonders gut zu sichern. Ich habe kaum Zeit zu reagieren, als ich den Zug im Seil verspüre. Ein Haken ist ausgebrochen. Am Standplatz fixiert Hans ein Seil für mich, damit ich die steile Seillänge mit Prusik-Schiebeknoten überwinden kann. Wir nehmen die Stirnlampe aus meinem Rucksack, und Hans klettert weiter. Für die nächste Seillänge brauchen wir viel Zeit; der Fels ist bröckelig und gefährlich. Völlig im Dunkeln kann ich den unbelasteten Profilhaken, an dem mein Prusikseil befestigt war, von Hand heraus-rupfen! Hans sichert gut, und ich kann mich ohne Risiko hochtasten. Oft stürzen unter mir Steine zu Tal. Ich sehe die Verlässlichkeit der Tritte und Griffe nicht mehr.

Endlich, um 22.30 Uhr, erreichen wir den Gipfel der Marmolata di Rocca. Wir sind zu müde, um die Freude auszukosten. Unsere Kehlen sind ausgetrocknet. Die Lichtscheine der im Tal liegenden Ortschaften und die klaren Sterne am Himmel beachten wir kaum.

Hell zeichnen sich das Eis und der Schnee auf dem Grat ab. Nach 15 Minuten leichter Kletterei wandern - oder taumeln wir über den Firngrat zur Seilbahnstation. Leider ist es kein eigentliches Refugium für die Nacht. Der Kassier des Selbst-bedienungsrestaurants ist aber aufgeblieben, weil er unser Licht knapp unterhalb des Gipfels sah, als ihm der Hüttenwart vom Tal aus, wie versprochen, telephonierte. Wir trinken etwas an seiner Bar und dürfen im warmen Aufenthaltsraum übernachten. Mit einer Wolldecke versehen, schlafen wir trotz harter Bänke schnell ein.

Am nächsten Morgen erwache ich kurz vor Sonnenaufgang. Hans schläft noch, und ich schleiche die eiserne Treppe hinunter, nehme die Kamera aus dem Rucksack und trete in die beis- sende Kälte hinaus. Ein eisiger Wind fegt über den Grat. Ich habe Mühe, mit meinen steifen Fingern die Kamera einzustellen. Ein Biwak wäre kein Vergnügen gewesen!

Ein königlicher Ausblick gegen die aufgehende Sonne und auf die grossen Dolomitengruppen, wie Pala, Civetta und Tofana. Erst jetzt habe ich Zeit nachzudenken, und es wird mir bewusst, was mir dieser Aufstieg bedeutete.

Mit dem ersten Bahnkurs fahren wir zu Tal. An jeder Zwischenstation begegnen wir den modisch gekleideten Sommerskifahrern, die uns wie fremde Wesen anstarren. Unsere müden, ver- schwitzten, bärtigen Gesichter, die Seilrollen und Rucksäcke scheinen sie zu verwirren. Die letzte Seilbahnsektion ist ein kleines Erlebnis für sich. Von der Bergstation ziehen sich die Seile steil und ohne Zwischenmasten zum Haus der Talstation. Uns schaudert fast beim Ausblick aus der Kabine, und wir sind froh, wieder festen Boden unter den Füssen zu haben.

Nun gilt 's Abschied zu nehmen vom Südtirol. Unsere Fingerspitzen sind schwer mitgenommen, und leider neigt sich die Ferienzeit dem Ende entgegen. Eines aber ist gewiss: Es waren nicht unsere letzten Dolomiten tage, erweckt doch jede gelungene Tour neue Träume und andere Ziele.

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