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Zermatter Tage

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Annäherung.

Im Monat August 1924 frühmorgens auf der köstlichen Beialp, angesichts der zerborstenen Zunge des gewaltigen Aletschgletschers noch im Sonnenschein erwacht, überblickte ich mit Genugtuung diesen Eiskorridor zum Berner Oberland, den wir kürzlich talaus gewandert waren, und begab mich hoffnungsfroh auf die Hotelveranda hinab. Doch schon bei der ersten Schale Kaffee des Frühstücks stülpten sich die Walliser Riesen, die drüben, jenseits der tiefen Furche des Rhonetales, prächtig zur Schau gestellt sein sollten, einer nach dem andern eine graue Wolkenkappe auf. Und beim Abstieg nach Brig, das unten im Tale trotz der grossen, modernen Bahnanlagen vor dem Simplontunnelportale und des alten, dreitürmigem Stock-alper-Palastes winzig wie zierliches Spielzeug sichtbar ward, besprühte uns bereits feiner Regen wie kühler Tau, als hätte die Natur einen grossen Perolin-zerstäuber in Tätigkeit gesetzt. Das war aber gar nicht unangenehm für uns, die wir aus dünner Höhenluft in des Tales dicke, heisse Luftschichten raschen Niederstieges eintauchten.

In Visp, wohin uns eine kurze Bahnfahrt rhoneabwärts gebracht hatte, regnete es schon ganz richtig, was uns jedoch vorläufig auch nicht störte, da wir ja bei gutem Mittagessen schwelgten.

Ebenso die hierauf folgende Fahrt durchs Nikolaüal ins Allerheiligste der Walliser Berge, nach Zermatt hinauf im vollbesetzten Zug, sie war trotz des immer wieder einsetzenden Regens genussreich; denn von Slalden an, das auf der ersten Talstufe inmitten von Reb- und Obstgärten noch immer südlichen Eindruck erweckt, umgab uns eine immer grossartiger und nordischer sich entfaltende Szenerie. Ich kann mich nicht erinnern, je im Gebirge steilere, himmelhohe Talflanken geschaut zu haben, als bei dieser Fahrt an der Lehne von Kalpetran durch Tunnels und über Viadukte, stets über dem wilden Schlund der tiefen Klamm, in der die tosende Visp mehr zu hören als zu sehen ist. Und es schien mir ganz glaubhaft, dass hier — wie die Kunde geht — sogar die Hühner mit Steigeisen an den Füssen den Ei-schalen entschlüpfen sollen!

Zahnstrecke und glatte Trasse wechseln bei dieser Bahn mehrmals. Stückweise fährt man fast im engen Bachbett selbst, denn seit der Haltestelle Kalpetran hat man wieder die Talsohle erreicht. Die Visp kommt ungestüm mit trübem, missfarbigem Wasserschwall entgegen, mit Brausen und Schäumen, Tosen und Wirbeln, das beklemmend wirkt in seiner elementaren Wucht. Man empfindet unwillkürlich Bewunderung für die Erbauer dieser Bahn, die es ermöglichten, dass das schmalspurige Züglein neben dem angeschwollenen Wildfang kühn aber sicher die Talschlucht hinanpusten kann. Wie eine beruhigende Pause nach diesem brausenden Gedröhn des Engpasses kommt nun St. Nikiaus in Sicht, der Hauptort und Namenspatron des Tales. Der Anblick der malerischen Siedlung mit dem scheinbar 28 silbernen Schuppenknauf des Turmes ob der alten Kirche, er wirkt wie eine liebliche Blume in düsterer Wildnis.

Und dann muss wieder das Zahnrad in die Stange greifen, nur wird das Tal nimmer so wild wie vorher. Hier hätte sich das Breithorn im Vorblick als Talschluss zeigen sollen. Aber grau in Grau wogte es an dem Flankenstutz der Talböschungen.

Bei Randa, der nächsten Ortschaft, wo das Tal den Schluchteindruck endgültig aufgibt, blinkte zum erstenmal am Westgehänge droben Gletschereis gespenstisch auf. Aber das dem Biesgletscher entsteigende Weisshorn, die königliche Idealgestalt eines Berges, blieb im Wolkengrauen verborgen. Trotzdem hofften alle im Zug, dass uns der berühmte erste Anblick des Matterhorns, während der Fahrt von Täsch nach Zermatt hinan, vielleicht doch beschieden sein könnte. Aber vergeblich war alle Unruhe, umsonst alles Spähen und Gliederverrenken.

Um einen unwiderbringlichen Augenblick, um ein heissersehntes Glück waren wir ärmer geworden, und kleinlaut fuhren wir Enttäuschten in den langgestreckten Bahnhof Zermatt ein.

Bei strömendem Regen hielten wir drei Kumpanen unsern Einzug in dieses « Mekka » der Bergsteiger, das, von missfarbigen Nebeln eingehüllt, nichts von seiner Bergumrahmung ahnen liess. Das mekkaartige Zermatt ist mir damals nicht nur durch das massenhafte Zusammenströmen von Turisten aller Grade und Länder sinnfällig, sondern vor allem beim Betreten der Strasse, die den Ort der Länge nach durchzieht, augenscheinlich geworden. Beidseits Kaufladen an Kaufladen gereiht und unter ausgespannten Piachen, offen wie in Auslagefenstern, alle erdenklichen Waren kunterbunt dargeboten— wahrlich: ich glaubte mich in eine orientalische Basargasse versetzt, aber nicht in einem Schweizeralpendorf in 1620 Meter Seehöhe zu wandeln!

Dazu war bei dem schlechten Wetter Zermatt derart von Fremden überfüllt, dass wir kein Nachtlager gefunden hätten, wären nicht die Betten von Freunden freigeblieben, die, auf der Suche nach einem Vermissten, diese Nacht nicht zurückkehrten. All diese Eindrücke wirkten zusammen, dass ich Widerwillen gegen diese gepriesene Stätte empfand.

Der nächste Tag, wieder trübselig und regenfeucht, verging mit der Suche nach Quartier, wobei wir die entlegensten und verstecktesten Winkel Zermatts kennen lernten. Das brachte die sympathische Entdeckung, dass Ortschaft wie Bewohner, trotz des gesteigerten Fremdenverkehrs, wunderbarerweise sich ihre Eigenart bewahrt haben. Die grossen Hotels fielen selbstverständlich aus dem Rahmen des Volkstümlichen, just wie zumeist diejenigen, die sie beherbergten. Aber die heimische Bevölkerung baut ihre Behausungen nach wie vor in der alten Walliser Bauart, an der das Einschalten von Felsplatten zwischen Grundfesten und Geschoss bezeichnend ist. Dies ist durchaus bei allen Stadeln ( Scheunen ) der Fall, die aussehen, als wären sie auf Steinteller gestellt, oder als hätten sie gewissermassen um die Knöchel grosse, breitrandige Schwämme ( Pilze ) angesetzt.

Diese Beharrlichkeit am Althergebrachten nimmt nicht wunder, wenn man bedenkt, dass der Fremdenbesuch und alles, was damit zusammenhängt, höchstens drei Monate dauert und Dreiviertel des Jahres Zermatt wieder das entlegene, stille Hochgebirgsdorf ist. Es geht ihm wie einem gutgedüngten Feld, das wohl die Fermente der Grossstadt aufnimmt, aber dennoch fruchtbarer Acker bleibt. Deshalb können auch die Zermatter mit Gelassenheit das raffinierteste Modetreiben ohne Neid oder Nachahmungsbedürfnis hinnehmen. Ihre Fremdenfreundlichkeit hat nichts Sklavisches, da sie ja die längere Zeit des Jahres schollentreue Bauern sind.

Diese gute Mischung, die den Verkehr so angenehm gestaltet, kommt besonders bei den Führern deutlich zum Ausdruck. Schon ihr Äusseres ist oft « heimischer » als das ihrer « Herren », die sie führen. Trotzdem, sie wissen Distanz zu halten in jeder Richtung und sind sich ihres Wertes und seiner Grenzen wohlbewusst. Jedem « Führerlosen » erteilen sie gern und verlässlich Auskunft und Rat, ohne sich aufzudrängen, wenn sie darum ersucht werden, was z.B. auf dem Jungfraujoch nicht der Fall ist.

Als Gegenstück zum männlichen Hauptberuf in der « Saison », Bergführer oder Schuster zu sein, besorgt die Weiblichkeit das Zimmervermieten und Wäschewaschen. Auch wir fanden in einer Villa am ungebärdigen Triftbach bei Fräulein Julen mitten im Ort ein Obdach, zwar mehr als einfach, kahl und dürftig. Aber wir waren einquartiert, und die Belagerung des Matterhorns konnte beginnen.

Erster Anblick.

Bei dem durch das schlechte Wetter erzwungenen Nichtstun hatte man durch das ausgiebige Frühstück und üppige Mittagessen mehr als gründlich sich gegen das Verhungern geschützt, und es genügte, zum Abendessen, statt an der Table d' hôte teilzunehmen, in einer der gut versorgten « Epi-cerien » sich ein billiges kaltes Nachtmahl zu kaufen, was die Tagesausgaben ganz beträchtlich verringerte, so dass man sich dafür zur Belohnung für seine Sparsamkeit nachmittags den Besuch der Konditorei und abends von 9 bis 11 Uhr den der Seilerschen Tanzbar im grossen Hotel, in der aber auch Bier verzapft wurde, gestatten konnte, wobei man gute Musik hörte, an entr zückenden oder entsetzlichen Shimmypaaren sich ergötzte und alte Bekannte begrüsste oder neue aus aller Welt kennen lernte.

Es war also in Zermatt gesorgt, dass man trotz schlechtem Wetter und andauerndem Entzug des Matterhorn-Anblicks nicht in dumpfe Verzweiflung verfiel.

Als wir am 2. oder 3. Abend um die behördlich festgesetzte Sperrstunde den braun getäfelten Tanzsaal verliessen, in dem Bergsteigerkleidung neben der mondänsten Eleganz gleichberechtigt ist, da wölbte sich überraschend endlich ein klarer Nachthimmel über den tiefen Talgrund, der Zermatt birgt.

Und alles strebte nach dem Anblick, den jeder sucht, ob er nun Neuling oder Stammgast in Zermatt ist, das Matterhorn!

Und beim Gittertor des Hotelgartens sah ich es zum erstenmal, mond-beschienen, im Sternenraum stehen, eine überirdische Erscheinung, die mich auf die Knie gezwungen hätte, wäre ich allein gewesen. Heilig erschauernd, blickte ich wortlos empor. Wie ein Weihezeichen prägte sich sein Umriss in meine Erinnerung, meine Entzückung quoll empor wie ein heisses, stummes Gebet.

Des Berges Gestalt war mir nicht fremd von vielen, vielen Bildern her. Aber da es jetzt plötzlich vor mir stand, scheinbar auf leuchtendem Nebel-sockel schwebend, im Neuschneetalar, wunderbar, berauschend und dräuend, Wirklichkeit und doch wie ein überirdisches Phantom erscheinend, wirkte das Matterhorn wie eine Offenbarung auf mich.

Voll heisser Sehnsucht und banger Scheu fühlte ich mich in seinen Bann geschlagen, und wieder war eine Bergsteigerseele seinem Zauber unentrinnbar verfallen.

Mochte ich es noch so heiss begehren, unter den damaligen Verhältnissen liess Vernunft nicht an seine Besteigung denken. Nur die Augen, der Geist, sie klommen immer wieder an dem Berg aller Berge empor, und ich flehte still, ein gütiges Schicksal möge mir die Verwirklichung dieses Wunsches gewähren. Es war 1924 vergebens!

Die bei Tag an Kairos Rue Moneki erinnernde Strassenenge war zur Nachtzeit wieder zur schmalen, schlichten Dorfstrasse geworden, in der nur beim einsamen Lichtlein ein unermüdlicher Walliser Hans Sachs an bedürftigen Bergschuhen herumdokterte und über der hoch droben, mondverklärt, das Symbol der Alpen stand.

Von den Arkaden des Portals der neuen Kirche bot sich mir der letzte Blick in dieser gebenedeiten Nacht auf das Matterhorn. Und mit seinem un-verlöschlichen Bild im Herzen, betrat ich unser jederzeit unversperrt zugängliches Quartier — o, ehrliches Zermattund schlief ein, vom steten Rauschen des Triftbaches eingelullt, glücklich wie ein Kind nach reicher Weihnachtsbescherung.

Dreitausender-Bummel.

Am nächsten schönen Morgen, da Neuschnee andere Ziele versagte, beschloss ich zum « Eingehen » das Mettelhorn zu besteigen, einen leicht zugänglichen Aussichtsgipfel von 3410 Meter Seehöhe.

Wir waren zu fünf, darunter eine Dame. Der strahlend schöne Tag liess uns kühne Pläne schmieden, denn nun käme sicher Schönwetter und damit die Möglichkeit grosser Bergfahrten. Gleich unter dem Bahnhof von der Strasse nordwärts abzweigend, an den Hütten von Egg vorbei, ging 's an den kahlen Steilhängen der Ostflanke der Plattenhörner auf langen, bequemen Serpentinen hinan, so dass man die Steigung kaum merkt bei der immer prächtiger sich entfaltenden Rundschau.

Zuerst ist es im Osten drüben die Mischabelgruppe, die mit ihren in der Morgensonne scharf umrissenen Graten und Gipfeln fesselt. Dann taucht im Süden über dem Riffelberg die weisse Prozession des Firnenzuges vom Monte Rosa bis zum Breithorn auf, das mit seiner gleissenden Nordwand prunkt. Doch alles verdrängend und alle Bewunderung heischend, reckt sich das Matterhorn unmittelbar im Südwesten gegenüber in den blauen Himmel, das ich nun bei Tag zum erstenmal in seinem beispiellosen Linien- schwung und seiner ganzen Grosse und Majestät erblickte. All mein Staunen und Betrachten war eine einzige, endlose Huldigung. Immer wieder umfingen meine Augen diesen Berg, der, vom Hörnligrat und Zmuttgrat umrissen, all meine Vorstellungen zuschanden machte.

0, wie freute ich mich, vom Mettelhorngipfel in diese Rundschau andächtig mich versenken zu könnenUm die Südflanke des von den Plattenhörnern ausstrahlenden Kammes herum, wo wir vor lauter Schauen und Bewundern auf dem Weg zum Trifthotel abgekommen waren, aber bald den Irrtum erkennend, den richtigen Weg zurückgewannen, führt der Pfad, sanfter werdend, in die Ostseite des Kammes, wo unmittelbar gegenüber der Gipfelkranz vom Obergabelhorn bis zum Weisshorn sich zeigen — sollte. Aber — böse Enttäuschung — Nebelschwaden wälzten sich von dort heran. Wir hofften zwar als unverbesserliche Optimisten, dass sie nur vor-überschwebende Nachzügler des abziehenden Schlechtwetters seien, und gingen weiter, wenn auch einer der Gesellschaft sich missmutig, gewissermassen « als Flinte ins Gras » warf und zurückblieb.

Aus bachdurchrauschter Mulde kamen wir in ein wüstes Kar, wo bereits die ersten Vorposten des frischen Augustschnees uns zu umschliessen begannen. Höhe des Neuschnees und Dichte des Nebels steigerten sich rasch, und bald war es ganz angenehm, dass unser hier ortskundiger Papa Krempel, der mitgehalten hatte, die Richtung wies, und Dr. Kaulich das Amt des Vortretens sich sicherte, indem er stets auf Sehweite vorausstapfte.Von Spuren einer Gesellschaft gegen die Plattenhörner abgelockt, querten wir am Gehänge zum richtigen Sattel nordwärts hinüber, wobei wir beobachten konnten, wie lawinenreif die Schneelage selbst hier schon war. Den Sattel erkannten wir hauptsächlich an den im kalten Winde fliessenden Schwaden, da sonst die Welt versunken schien im Nebelgrau. Wie herrlich müsste von hier der Anblick des unmittelbar gegenüber stehenden Weisshorns sein!

Noch immer ein plötzliches Aufreissen des Nebels erhoffend, pflügten wir uns durch das Firnfeld gegen Nordost aufwärts, bis überraschend vor uns ein steiles Schneehorn auftauchte, das durch die Verschleierung ganz kühn aussah und Krempel als Mettelhorn bezeichnete. Zügigen Anstieges, hier und dort den aper geblasenen, dafür vereisten Steig spürend, stapften wir zum Gipfel hinan, der uns, statt den erhofften Prachtsblick auf das nahe Weisshorn, seiner Rundschau Glanzstück, zu zeigen, zum frostigen Nebelgrab unserer sonnigen Erwartungen wurde. Nachdem wir jedes Zuwarten für aussichtslos erkannten, stiegen wir, verärgert über das tückische Wetter, enttäuscht im Regen zum Trifthotel hinab, wo wir uns bei heissem Kaffee und mit der Erinnerung an die schönen Morgenstunden trösten mussten.

Dann im Sturmschritt auf dem guten Reitweg längs dem wilden Triftbach hinunter nach Zermatt, wo es abends wieder aufklarte.

Ein Angriff auf den Monte Rosa.

So ein unvermutetes Aufklaren nach trostlosem Tag verlockte uns auch im Anschlüsse an einen improvisierten Alpenklubabend, bei dem sich wohl an hundert Klubbrüder aus allen deutschen Gauen, sogar aus Holland, zusammengefunden hatten, den Monte Rosa anzugehen. Die Rucksäcke waren ja stets « geladen », sie brauchten nur geschultert zu werden, der Pickel stand auch zur Hand, und schon konnte mit einem der Frühzüge der Gornergratbahn wirklich die « Bergfahrt » begonnen werden. Nur flink musste man sein, denn bei dem überraschend schön gewordenen Morgen wurden die Züge förmlich gestürmt, waren alle Plätze im Nu besetzt.

Man mag sonst ein noch so erbitterter Gegner von Bergbahnen sein, die Gornergratbahn benutzt man als Bergsteiger doch gern, um bei schwer-lastendem Sack und Pack die Mühe des Zuganges zur Betempshüite sich zu erleichtern, indem man bis zur Haltestelle auf dem « Roten Boden » hinauffährt, wo der Weg zum Monte Rosa mit einem Abstieg zum Gornergletscher beginnt.

Die Zahnstrecke der Gornergratbahn steigt sogleich nach Verlassen der luftigen Bahnhofhalle und Überbrückung der Visp, am östlichen Talhang gegen Süden liegend, scharf bergan. Es ist ein eigenartiger Eindruck, den die Fahrt vermittelt: man weiss, dass man im fahrenden Zug sitzt, man fährt bewusst auf hoher Brücke über die wilde Schlucht des Findelenbaches, in die mit mächtigem Strahl das Überfallwasser des Bahnkraft-werkes springt — und dennoch hat man den Eindruck, alles, was uns umgibt, das Tal von Zermatt, das man bereits überblickt, versänke unaufhaltsam, langsam in die Tiefe und rings wüchsen und stiegen die sich aneinanderreihenden Berge höher, immer höher empor. Das vom Tal aus tückisch verkürzt dräuende Matterhorn weist immer adliger werdende Umrisslinien und däucht, der gigantische Knauf der Weltachse zu sein. Und von der Dent Blanche, hinten im Zmutt-Tal aufstehend, bis zum Weisshorn, dann vom Breithorn über die Zwillinge bis zum Lyskamm, scheinen die scharfprofi-lierten Gipfel zum Reigen anzutreten, den zu bewundern zwei Augen schier nicht ausreichen!

Und wenn die Berückung dieses Schwellens und Wanderns der Berge schon fast verwirrend wirkt, macht die Bahn eine Schleife ins Findelental hinein, und der Zug windet sich durch einen Hain goldgrüner Zirbelkiefern, die bei der Fahrt zur Station Riffelalp hinan malerischen Vordergrund oder Rahmen für die schimmernden Berge dahinter schaffen.

Nun wieder westwärts gewendet, gegen die vom Bodengletscher erfüllte Mündungsschlucht des Gorner Eisstromes zu, wendet sich noch vor deren Erreichen die Trasse im Bogen am nördlichen Alphang zur Station Riffelberg empor, wo man sich bereits ausser der Baumgrenze befindet. Unverkürzt steht gegenüber das Matterhorn, gewaltig, stolz und schön. Rechts vom Zmuttgrat, links vom Furggengrat scharf profiliert, weist es zwischen den beiden, durch die gerade Draufsicht abschreckend steil erscheinend, den gegen Osten herstreichenden Hörnligrat, über den der übliche Aufstieg führt.

Noch eine kurze Steigung an den freien Alphängen hat die Bahn zu überwinden, und dann hält sie ihre letzte Rast vor dem Ziel, die Haltestelle « Roter Boden » ist erreicht, wo die Monte Rosa-Pilger aussteigen.

Bevor man aber — wie schon erwähnt — den Abstieg zum Gornergletscher antritt, wird wohl jeder, der Sinn für Landschaftsreize hat, den weltbekannten und dennoch wunderschönen Anblick bewundern, den, im Riffelsee sich spiegelnd, links vom schwarzen Riffelhorn flankiert, das Matterhorn darbietet. Und wenn man in der sanften Einsattlung südöstlich des Riffelsees den Beginn des Pfades erreicht, der sich am Südhang des Gornergrates etwa 3 km lang sanft fallend hinzieht, steht plötzlich eine neue gepriesene Zierde der Natur, der Monte Rosa, vor den staunenden Augen.

Vom schroff gestuften Nordend bis zum Lyspass, in der Mitte vom höchsten Gipfel der Dufourspitze gekrönt, steht der spärlich von Fels durchsetzte Wunderbau aus Firn und schillerndem Eis wie eine Feenburg da.

Ein Leuchten und Blinken geht von der weissen Pracht aus, das ehrfürchtige Scheu und dennoch Verlangen erregt, die richtige Zauberstimmung für ein hermelinverhängtes Märchenschloss, zu dem schon der nüchterne Zugangsweg, den wir nun hinabschritten, stilvoll eingepasst erschien, denn er gleisste wie aus eitel Silber mit seinem Bodenbelag und den Böschungen aus glänzendem Glimmer.

Über der zerschrundeten, blankeisigen Gletscherfläche unten, zu der man auf der Silberrampe allmählich niedersteigt, blenden und schatten am jenseitigen Ufer hochragend die Wogen und Staffeln der Nordwand des Breithorns, die Zwillingsgipfel von Castor und Pollux und der weisse Wall des Lyskammes mit seinem langen, wächtenverschanzten First. Und zu Füssen des Monte Rosa-Aufbaues, wo zwischen dessen sanftem Firnfluss und den eisigen Stromschnellen und Wirbeln des Grenz- und Zwillingsgletschers die Felsinsel des « Plattje » wie eine dunkle Tatze dem Schneesaum entschlüpft, da entdeckt man klein winzig in dieser Riesenwelt — ist 's ein braunes Käfer-leindas heutige Ziel: die Betempshütte.

In der Schottermulde von Gadmen steht man am Gornergletscher, der nun südwärts zu überqueren ist. Über gerilltes Eis, grössere Spalten umgehend, kleinere überspringend, strebt man vorerst der Mittelmoräne zu. Trittspuren und Steinmannli weisen die Richtung. Jenseits der Moräne wandert man wieder über den zerklüfteten Gletscher, wobei starke Bäche zwischen weit klaffenden Eisufern zu überschreiten sind, bis man — nach etwa ¾ Stunden — dem Plattje sich nähert und auf die gelbe Moräne hinaufsteigt, auf der ein Steiglein zur nahen Hütte leitet. An der Vorderseite bildet eine abschüssige Steinplatte eine geräumige Schwelle, von der ein altanartiger Vorbau zum Eingang bringt. Im Untergeschoss Küche und zwei Sitzräume enthaltend, die auch etliche Pritschenlager mit spärlicher Strohaufschüttung bergen, und von denen ein Raum den Mitgliedern des Schweizer Alpenclubs vorbehalten ist, sind in den Dachräumen darüber weitere, gleichfalls mit Strohbelag versorgte Schlafstellen angeordnet. Ein Wächter, der aber keine Wirtschaft führt, nur warmes Wasser abgibt und mitgebrachte Speisen gegen Trinkgeld kocht, sorgt für Ordnung und nimmt die Gebühren entgegen. Bei dem starken Besuch der Hütte — auch von Nicht-Bergsteigern — ist dies kaum eine glückliche Lösung, weil der Zweck, Hüttenbummler fernzuhalten, damit doch nicht erreicht wird und die Bergsteiger nur mehr an Verpflegung mittragen müssen. Wir waren unser sieben, aber noch immer kamen Gruppen nach, so dass bis zum Abend die geräumige Hütte ziemlich gefüllt war. Aber alle fanden Platz, und keiner störte das gute Einvernehmen.

Das Glanzstück der Aussicht von der Hütte ist die Schau gegen Westen, wo am Ende der kulissenartig vom Breithorn absinkenden Seitengletscher, die in den fast eben zu Tal ziehenden Eisstrom des Gornergletschers münden, das Matterhorn allbeherrschend in die Lüfte sticht. Dahinter steht die Kette der Zermatter Zinnen von der Dent Blanche bis zum Weisshorn wie der Chor hinter dem Heldentenor. Und auf dieser Bühne der Natur schauten wir dann einen Sonnenuntergang von glühender Farbenpracht, deren Schönheit uns ganz vergessen liess, dass sie für das morgige Wetter just nicht vielversprechend sei. Sie war auf Rotorange und Blauviolett abgestimmt und durchlief die ganze Farbenskala zwischen diesen zwei purpurnen Ekstasen.

Schon wob in den Tälern die Dämmerung am Samt der Nacht, da flammten noch die höchsten Gipfel der stolzen Runde, nur das Matterhorn war dunkel und in Wolken gehüllt, die, von Süden her versprengt, herangezogen kamen. Als aber auch die letzten Fackeln erloschen waren, da wurde der Berg der Berge frei und stand in seinem dämonischen Linienschwung blauschwarz vor dem gelbgrünen Westhimmel, scharf und spitz, wie ein gigantisch-satanischer Schattenriss.

Wir legten uns das Freiwerden des Matterhorns als gutes Wettervorzeichen aus und gingen hoffnungsvoll zur Ruhe. Und als mich nach Mitternacht mein Taschenwecker und die allgemeine Auferstehung aus gutem Schlaf weckten, sah ich beim ersten Blick durch die Dachlucke wirklich einen sternklaren Himmel über mir. Solche Feststellung trägt viel dazu bei, die unangenehmste Stunde im bergsteigerischen Tagwerk flotter zu überwinden, und bald sassen die zusammengehörigen Gruppen unten beim Frühstück beisammen, um dann in die schwach vom abnehmenden Mond erhellte Nacht hinauszutreten und den Aufstieg ohne Laterne zu beginnen.

Es ward recht lebendig in dem Plattje-Blockwerk über der Betempshütte. Während ich dem Moränensteiglein treu bleiben wollte, liessen sich meine Gefährten von abkürzenden Führerpartien links ablocken, und ich musste ihnen folgen als überstimmte Minderheit. Damit kamen wir in den Schatten und polterten, bald fluchend, jeder auf eigene Faust, durch das Trümmerchaos hinan, bis wir uns droben, auf einer verfirnten Verflachung heiss-gelaufen, wieder zusammenfanden. Wer zum Grenzgletscher will, muss hier rechts abschwenken, was vier unserer Kameraden taten. Wir andern vier stiegen nun gleich etlichen andern Gruppen von Monte Rosa-Strebern die Felsen des oberen Plattje hinan, über denen dann das zusammenhängende Firnreich des Monte Rosa-Gletschers beginnt, durch das der übliche Weg zum zweithöchsten Alpengipfel führt, der als deutliche Trasse sichtbar ward. Steigeisenbewehrt stiegen wir den untersten, harten Steilhang hinauf und kamen dann auf flacheres Gelände. Da wir nur den alten tiefen Stapfen zu folgen brauchten, war es ein ziemlich stumpfsinniges Aufwärtsstreben, bis wir bei den ersten Spalten überrascht merkten, dass es zu tagen begonnen hatte. Ein prachtvoller Morgen brach an und liess mich staunend in die Runde schauen: Ein Meer von Gipfeln war der entweichenden Dämmerung entsprungen, und einer nach dem andern begannen sie allmählich zu schimmern und zu leuchten. Firnwoge um Firnwoge sank hinab, bei der stundenlangen Stapferei nur zweimal von leichten Spaltenquerungen unterbrochen. Mit dem Höherkommen musste ich immer wieder einen Jüngern Gefährten zügeln, um nicht in ein mir zu schnelles Zeitmass zu kommen. Um die zwei Leichtfüssigen nicht zu behindern, teilten wir uns schliesslich in zwei Seil-gruppen, denn bei meinem gewohnten Schritt wurde mir die dünne Luft nicht hinderlich. Je heller es geworden, desto bewegter wurde die Luft, und je steifer die Brise, desto frischer die Temperatur, und als die Sonne anschlug droben auf unserm Berg und die Gipfelkämme golden leuchtende Ränder bekamen, da blies bereits ein scharfer Wind. Statt wärmer, wurde es immer kälter, und die Grate begannen zu rauchen.

Als wir dem Sattel im westlichen Gipfelgrat zusteuerten, war der Sturm da, der über die Höhen fegte, dass die Schneefahnen flatterten. Von den Führerpartien hinter uns kehrte eine nach der andern um, und vor uns auf dem Gipfelgrat stockten die Vorgänger. Nun wollte ich mir einen Schluck Tee genehmigen und setzte die wohlverwahrte Aluminiumflasche an den Mund —-kein Tropfen floss heraus. Überrascht entdeckte ich, dass der Tee im Rucksack gefroren war! Nun verstand ich auch, warum mich in meiner sonst bewährten Kleidung so fror und der Monte Rosa als « kalter Berg » verrufen ist. Aber vorwärts! das macht warm. Bald sahen wir droben auf dem Grat, wie die Vordersten mit dem Sturm kämpften. Man wusste nicht, warfen sie die Windstösse oder legten sie sich selbst schutzsuchend zu Boden. Dazu wirbelte der Flugschnee in dichten Schwaden, und selbst bei uns hier in der geschützten Mulde begannen sich Wirbel zu bilden. Da nun auch oben umgekehrt wurde, hätte es keinen Zweck gehabt, noch über die Randkluft auf den Sattel hinaufzusteigen und dann doch den Rückzug antreten zu müssen. Also wurde der Entschluss gefasst: Kehrt Euch! und wir stiegen ab. Die begreifliche Verstimmung wich aber bald, da wir nun den Tiefblick auf Zermatt und seine Umrahmung stets vor uns hatten und weit nach Westen und Norden hinaussahen. Dennoch blickten wir oft zurück nach dem ersehnten, nichterreichten Ziel. Und da sahen wir auf einmal unsere zwei Ausreisser hinter uns; auch sie hatten 20 Minuten vom Gipfel entfernt umkehren müssen, der Sturm hätte sie glatt umgeblasen!

Und wie er blies, das sahen wir nun an den Kämmen, über dem Grat des Lyskammes, wo er zerfetzte Wolken von Süden her emporriss, die zu phantastischen Gebilden sich ballten, wie ich sie noch nie gesehen. Da gab es exotische Fische mit Schleierschwänzen und Glotzaugen, rätselhafte Gebilde wie aus der Tiefsee, Kristallformen, teuflische Fratzen, gräuliche Unholde, lächerliche Kobolde und alles in riesenhaften Ausdehnungen, in Regenbogenfarben irisierend. Es war wie ein wirrer Fiebertraum, der Ausgeburten überreizter Phantasie in den dunkelblauen Himmel warf. Ich be- ruhigte mich aber, als auch die andern zugaben, diese Wolkengespenster zu sehen, da ich schon glaubte, an Wahnvorstellungen zu leiden.

Durch die Kälte war der Firn von günstigster Beschaffenheit, und wir kamen rasch hinab. Je tiefer, desto ruhiger und wärmer wurde es, und als wir durch die Blöcke des Plattje zur Hütte abstiegen, war es windstill und heiss, dass man am liebsten hüllenlos gegangen wäre.

In der Hütte trafen mittags auch wieder unsere Freunde ein, die im Lysjoch gleichfalls umkehren mussten, und das versöhnte mich mit meinem missglückten Besteigungsversuch des Monte Rosa; denn wenn diese Kämpen den Rückzug für richtig fanden, brauchte ich mir keinen Vorwurf zu machen.

Und gemeinsam bummelten wir nachmittags bei schönstem und warmem Wetter nach Zermatt zurück.

Ans Tal gebannt.

Es war ein fortwährendes Harren und Sehnen, ob endlich nicht doch das Matterhorn mit gutem Gewissen berannt werden dürfe. Aber immer, wenn es überhaupt sichtbar wurde, war es weiss vom Scheitel bis zum Sockel, stand blendend da im Neuschneetalar wie eine stolzhöhnende, böse Fee, den starren Felsleib nur an den Graten ahnen lassend, die im Föhnsturm rauchten und in der Sonne flimmerten, beides wohl zu beachtende Mahnungen vor Lawinengefahr und Vereisung.

Immer wieder ging die Kunde von Ungeduldigen, die — im Augustmit schweren Frostschäden an den Gliedmassen von Führerrettungsmann-schaften aus der Solvay-Hütte herabgeholt werden mussten. Trotzdem hofften wir unerschütterlichen Glaubens auf des Matterhorns endliche Gunst und irrten inzwischen in Zermatt umher wie Leute, die wohl wussten, aber nicht konnten, was sie wollten. 0, wie wahr sind die Sprüche vom Müssiggang, vom Hoffen und Harren usw.!

Denn allmählich lähmte die ewige Enttäuschung den Idealismus und liess Betäubung suchen im schnöden Materialismus, so dass die Tage etwa folgenden Verlauf nahmen: Aus Verzweiflung spät heimgekommen, sah man dennoch frühmorgens, wenn man nicht verschlief, pflichtgetreu nach dem Wetter und legte sich bei trübverhängtem Himmel oder plätschernder Dachtraufe entsagungsvoll, aber nicht ungern, wieder ins gute, warme Bett. Justament liess man sich dann bedächtig das späte, ausgiebige Frühstück gut schmecken und ging hierauf, scheinheiligen, versprengt herumirrenden, wässerigen Sonnenstrahlen zum Trotz, in das Frühschoppenkonzert zu Seiler, um orphisch sein alpines Weh besänftigen zu lassen. Wenn die Stunde gekommen war, schlenderte man den Basar-Korso entlang, wo das Bergsteigergewissen häufig aufgescheucht wurde beim Anblick von hochalpin Gerüsteten, die aber « voll reinster Freude » gleich als neuangekommene Verstärkung der hartnäckigen Turistenbesatzung Zermatts oder als hoffnungs-müde, zum abfahrtbereiten Zug Eilende erkannt wurden, so dass man sich, innerlich gerechtfertigt, mit Appetit zum mittäglichen, üppigen Lunch be- gab. Hernach kam die Zuckerbäckerjause ( o köstlicher « noir avec crème » !) mit Musik. Sogar « Partien » wurden gemacht, wo es « Türme » und « Gerolle » gab, nämlich: Schach- und Kegelbahnturniere! Nach dem Studium der neuausgehängten Wettervorhersage, von der man sich stets erst durch das Datum überzeugen musste, ob es nicht die alte sei, weil sie nur Variation ein- und desselben trostlosen Themas zu sein schien, da brauchte man wieder Stärkung und Trost. Daher ging man willig zum noch üppigeren Diner aus dem Seilerschen Kochkunstatelier.

Unweigerlich pünktlich — man hätte ja eine wichtige Kunde oder einen guten Witz versäumen könnenfand man sich nach dem Abendessen beim feuchtfröhlichen Alpenklubstammtisch in der Seilerschen Bar ein, wo ab 9 Uhr mondäner Tanztrubel herrschte und köstliche Gesellschaftstypen beobachtet werden konnten, die, soweit sie jung und weiblichen Geschlechts waren, meist entzückend, sonst erheiternd wirkten.

Zwischen den Pausen der Mahlzeiten pflegte man durch Zermatts Basarstrasse und seine nächste Umgebung zu bummeln, um die Wasserdichtigkeit der Regenschutzmittel auszuproben, oder mit den Berufsbergsteigern auf der Führerbörse am Seilerschen Parkgitter die gemeinsame Arbeitslosigkeit zu beklagen und über den greulichen Sommer zu schimpfen. Denn weiter weg oder nach andern Zielen zu streben, getraute sich keiner, weil man befürchtete, den günstigen Augenblick für das Matterhorn zu versäumen. Auch volkskundliche Studien, Hausbau und Lebensweise der Einheimischen betreffend, war eine beliebte Ablenkung, wobei eine malerisch verräucherte Walliser Weinstube entdeckt wurde, die für « angebrochene Abende » sehr günstig war, in der sich sogar intime Gelage bis zu jenen Morgenstunden ausdehnen liessen, um die man sonst zur Besteigung von Viertausendern aufzubrechen pflegt. Also blieb man auch in dieser Beziehung in Übung!

Doch alles dies konnte die Matterhornsucht nicht verdrängen. Aber auch nicht Erlebnisse wie die folgenden:

Geradezu rührend war das Mitgefühl der Einheimischen über unser Wetterpech. Meine Hausmutter — nein, dazu war sie zu jung und ledig, das Haus/räutein —nein, passt auch nicht gut, also: mein Haustanlchen gab mir sogar mit Hilfe des Wettergesprächs ihr genaues Lebensalter zu verstehen ( was bei « Frauenzimmerchen » immer verdächtig ist ), indem sie mir, beim einsamen, späten Frühstück Gesellschaft leistend, versicherte, dass sie 26 Lenze in Zermatt erlebt habe, aber noch keinen solch schlechten Sommer wie den diesjährigen. Zum Kuckuck! Und just an dem musste ich dorthin kommen!

Um meinen sichtlichen Unmut zu beschwichtigen und mich bei guter Laune zu erhalten, erzählte sie nun geschwind in ihrer netten Weise von wunderbaren meteorologischen Wandlungen, dabei immer geschäftig um mich sich zu schaffen machend, wenn ich mich auch blind stellte gegen diese offenbaren Annäherungsbemühungen. Ich kam mir bald wie der ägyptische Josef vor. Dazu hing mein Mantel oben im Zimmer! Ich fühlte immer deutlicher die nahende Explosion und sah eher bang als geschmeichelt dem entscheidenden Augenblick entgegen. Und im Haus alles still, ganz Zermatt schien verlassen, denn es regnete in Strömen, von nirgends eine Störung zu erwarten!

Ich erzählte ihr begeistert, dass ich glücklich verheiratet, Vater mehrerer Kinder sei und dergleichen Abschreckendes mehr. Es nützte nichts. Sie wich nicht, sondern umkreiste mich nah und näher. Ja, sie wurde sichtlich nur erregter durch meine Ablenkungsversuche.

Da ermannte ich mich und wollte brüsk die peinliche Lage durch eine höfliche Flucht beenden. Doch im letzten Augenblick, da ich schon die Türklinke erfasst hatte, trat sie rasch an mich heran, errötete züchtig bis unter die Haarwurzeln, und mit holdem Augenaufschlag kam es fast leidenschaftlich von ihren Lippen: « Herr, die Wochenrechnung ist noch nicht bezahlt! » — Trotz des Eitelkeitsknackses zahlte ich gerne das geforderte Lösegeld, wenn ich auch heimlich seufzte: « Potiphar, der Mantel wäre billiger gewesen! » Eines Morgens schämte ich mich als Bergsteiger, da ich beim Rasieren vor meinem Zimmerfenster eine entzückende Dame der Gesellschaft vor-überreiten sah, begleitet von einem eleganten jungen Mann, gleichfalls hoch zu Ross hinter ihr, wie ein Page, denen ein rauher Sohn der Berge zu Fuss folgte. Die nützten die spärlichen Sonnenblitze, um wenigstens zu Berge zu reiten ( 1 ), während wir Bergsteiger erst aus dem weichen Pfühl gekrochen waren. Wahrlich, wenn ich schon wanderfertig gewesen wäre, ich hätte mir dasselbe Ziel gewählt — nur um mein bergsteigerisches Gewissen zu beruhigen! Und wie anmutig die Amazone im Sattel sass. Mit dem breitkrempigen, wallenden Federhut und der stolzen Büste unter dem wehenden Schal — wie eine Ritterdame anzuschauen, wenn auch diesem Bilde das moderne, kurze, noch dazu hochgeraffte Röckchen widerstrebte.

Ich habe dem holden Wandelbild noch lange nachgeguckt, bis mich das Schneien der auf Kinn und Wangen eingetrockneten Rasierseife zu meinem Vorhaben zurückrief. Aber tagsüber musste ich noch oft und oft der verführerischen Reiterin gedenken, und als es mittags zu tröpfeln begann, bedauerte ich sie, als es nachmittags regnete, sorgte ich mich, als es gegen Abend goss, ängstigte ich mich um sie. Da ich ihr Hotel, aber nicht ihr Ziel erfragt hatte, lauerte ich auf ihre Rückkehr und wollte just mit einem aus-geborgten Schirm den Ritter spielen, da kam die Kavalkade die Basarstrasse herab.

Unbekümmert, in seinen Wetterkragen gehüllt, schritt der Säumer neben dem von ihm am Zügel geführten Reittier, auf dem die Huldin sass. Eine alte Sage verkündet die Märe, dass einst einer ins Gebirge gezogen ist, der bei seiner Rückkehr ein Greis war, den niemand kannte, da wunderbarlich inzwischen mehr als 100 Jahre verflossen waren. Diese Sage erlebte ich jetzt etwas variiert. Noch immer schwankte im Takte die Feder, aber schwer und nass, ruppig wie ein alter Weihwedel über der schlappen Krempe. Und die holde Amazone, patschnass, gebeugt, in anklebenden Kleidern, wies noch immer ihre Beine. Aber achder Ausritt schien sie zur Matrone gewandelt zu haben. Und der Page hintendrein passte stilvoll zu seiner Herrin.

Die rosigflaumigen Wangen, die Purpurlippen, die kühn geschwungenen Brauen, die Lockenflut, die adlige Haltung — alles war dahin. Nur die Beine und der kleine Fuss bewiesen, dass sie die einzige Dauerschönheit des Weibes sind.

Alles lachte bei diesem Anblick eines gestrandeten weiblichen Don Quichottes, was eigentlich unrecht war, denn tapfer war sie doch, weil sie nicht früher eingekehrt war und am Ziel festgehalten hatte. Oder wollte sie vielleicht nur den Führerlohn nicht umsonst zahlenJedenfalls war sie abends beim Tanz wieder zauberhaft verjüngt, das entzückende Frauenbild, wie ich es frühmorgens geschaut, nur jetzt im duftigen Festkleid. Ich nannte sie seitdem: Die Rose von — Jericho!

Während der Verdammnis zur alpinen Tatenlosigkeit kam ich einmal im Seilerschen Hotelgarten zum Zwinger der Murmeltiere. Die sonst so scheuen Geschöpfe, die ich zumeist im Geklüft pfeifen gehört oder wie Gnomen hocken und verschwinden gesehen hatte, sah ich nun zutraulich hinter dem Käfiggitter und konnte mich an ihrem drolligen Gehaben ergötzen. Sie kamen mir vor, als wären sie die Äffchen der Alpen. Sie sassen aufrecht wie ein aufwartender Hund und hielten zierlich mit den handartigen Krallen-pfoten das gereichte Futter. Es war kein Fressen, sondern ein artiges Essen, so wie Äffchen oder Eichhörnchen knabbern. Dabei guckten sie mit dunklen Äuglein, die schwarzen Kugelknöpfchen gleichen, munter umher.

Bei diesem Betrachten fiel mir ein, dass ich ja einst auch in der Natur ein « Murmelti » ganz nahe gesehen hatte. Es war im Frühsommer im Rätikon, beim Übergang vom Lünersee zur Lindauerhütte, zur Zeit der beginnenden Ausaperung. Da waren überall an den Hängen diese Tiere in Menge zu beobachten, die sich sichtlich der Sonne und frischen Nahrung freuten. Nur waren sie hellfarbigeren Felles und zottelig, weil sie vielleicht noch den Winterpelz hatten. Die Zermatter Tiere waren dunkler in der Färbung, glatter behaart, daher schlanker von Gestalt. Sie kamen mir fast geschniegelt vor. Wahrscheinlich gibt 's verschiedene Arten von Murmeltieren. Oder sollte man sie hier für die « Fremden » zivilisiert haben?

Bei der damaligen Wanderung war ich einem Murmeltier überraschend nahe gekommen, das sich mit den Jungen unter den nächsten Felsblock flüchtete, der aber nur einen seichten Bodenspalt bot. Rasch sprang ich mit meinem Gefährten hin, und wir sahen nun das scheue Tier, aufopfernd seine Jungen deckend, in nächster Nähe vor uns. Voll Angst blickte uns das opfermutige Tierlein an, wie nur eine um ihre Kinder besorgte Mutter schauen kann. Wir waren pickelbewehrt, sie hätte nichts als ihre Nagezähne gehabt; aber die hätten sicher fest zugebissen, wenn wir nach ihr gegriffen hätten. Das Tier fletschte weder das Gebiss, noch gab es einen Laut von sich, schaute uns jedoch so bittend an, dass wir es rasch von seiner unnötigen Angst befreiten und weitergingen. Um so aufmerksamer betrachtete ich mir nun diese gar nicht menschenscheuen Gefangenen, die sofort ans Gitter kamen, die gereichten Gaben, Brot, Früchte und dergleichen annahmen und sitzend verzehrten. Sie schienen über ihr Käfigdasein nicht betrübt zu sein.

Ich weiss nicht, was mit ihnen geschieht, wenn die Fremden aus dem Tale fort sind? Aber zwei bis drei Monate leben auch sie von den Gästen aus aller Welt, um dann Dreiviertel des Jahres wieder unbeachtet Murmeltiere zu sein. Und fast will es mir scheinen, die Murmeltiere könnten die Wappentiere Zermatts sein.

Abzug.

Schliesslich gingen Urlaub und Fränkli zur Neige, und ich musste notgedrungen an die Abreise denken.

Nach einem Morgen, der viel zu schön war, um im August 1924 vor dem Abend gelobt zu werden, und den ich nur benützte, um wenigstens einige schöne, wohlgelungene Bildnisse des Symbols der Alpen, des leider vergeblich belagerten Matterhorns, heimzubringen, bestieg ich mittags den Zug und fuhr talaus. Es war mir zumute wie einem abgewiesenen Freier, der trotzdem seiner Liebe nicht entsagen kann.

Wieder verhüllten dichte Wolken die Walliser Riesen, aber ich wusste nun, hinter dem Grau steht das leuchtende Ziel meiner Sehnsucht: der gelobte Berg, der ein Rarissimum der ganzen Welt bedeutet, den ich wohl schauen, aber nicht besteigen durfte.

Ob es mir noch beschieden sein wird — wer weiss es? Und wenn ich nochmals 50 Jahre alt werden sollte: ich wünsche und hoffe es! Und das war mein Trost, als ich abzog, und ist es, bis ich — vielleicht wiederkehre.

Hanns Barth.

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