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Zinalrothhorn

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Von Geoffrey Winthrop Young

Mit 1 Bild ( 117Übersetzt von Alexander Perrig ( Luzern ) Wie immer es sich bei Menschen verhalten mag, die freigewollt aus grosser Höhe abspringen und die ihr geistiges Uhrwerk zuvor derart einstellen können, dass sie während des Fallens bestimmte Handlungen zu vollziehen vermögen — etwa die Fallschirmleine, nach Ablauf einer vorausbestimmten Zeitspanne, ziehen —, so bin ich doch auf Grund von mancherlei Erfahrung überzeugt, dass jedermann, der unerwartet oder im Bemühen, sich zu retten, stürzt, aus der Sphäre aller physischen Empfindungen und allen Vollbewusstseins herausgeworfen wird. Zugleich gleitet er in einen Traumzustand, ähnlich jenem, der bei Betäubung der Bewusstlosigkeit vorausgeht. Ein Teil seines Ichs scheint dieses selbst von aussen her zu beobachten; ein anderer Teil nimmt wahr, wie es durch Ewigkeiten erdrückenden Dunkels hinabsinkt. Doch hat er keine klare Vorstellung von allem, keine zusammenhängenden Gedanken mehr und keinen Sinn für Schmerzen. Zwischen meinem 20. und 60. Lebensjahr bin ich sechsmal im Fels von grosser Höhe abgestürzt, viermal seit dem Verluste meines Beines. Irgendeiner katzenartigen Beschaffenheit habe ich es zu verdanken, dass ich jedesmal nur leicht verletzt davonkam. So wusste ich und weiss es weiterhin, was ich empfand, was nicht. Für meinen Sonderfall mag noch folgendes angefügt werden: Auf Grund der zahlreichen, mir bekannten Unfälle, die Bergsteigern im Alter von ungefähr 60 Jahren zugestossen sind, ergibt sich wohl mit hinreichender Sicherheit, dass die korrekte Reaktion auf ein unerwartetes Ausgleiten oder auf einen unvorhergesehenen Schock in Die Alpen - 1952 - Les Alpes25 diesem Alter nicht mehr spontan und augenblicklich erfolgt, mögen Beweglichkeit und Kraftreserven sich scheinbar kaum vermindert haben.

Etwas in mir verzeigt den Anblick bräunlich-grauer Felsen, die, aufwärts-schiessend, nicht zu Flächen, sondern zu böswilligen Fratzen zerfliessen — feindselig, hasserfüllt — und nun verschwommen doch nur Einzelheiten des Gef eis... stürze ich?... wirklich?... ist dies ein Traum?... ist es der Tod?... ringsum war ich von lauter Hohn umhüllt, von einem grauen, hohn-erfüllten Nebel; ich war nur Zuschauer, nur zum Teil mit dem verquickt, was vorging... und trotzdem mir bewusst, völlig verquickt zu sein mit seinem Ausgang... Ich war noch am Leben... und nun doch tot?... wahrhaftig tot... wie unvernünftig... ungeheuerlich... unausweichlich...

Ich hegte keinerlei Gedanken mehr. Ich war nur noch formlose Empfindung, wie sie dem Denken nachzufolgen pflegt. Welch niederdrückender Hohn — dass die meinem Herzen Teuersten weiterleben — dass ich selbst — nicht glaublich — jetzt an meinem Ende angelangt. Welch Aufbäumen — gegen den grausig lauernden Bergtod. Immer wieder dieser bittere, graue, hohnerfüllte Nebel... heisst das Stürzen?... heisst es träumen?... bin ich wirklich tot?... ich?... unwiderruflich?... Ich? In meiner ganzen Drangsal rang eine ungeheure Anstrengung nach Erkenntnis, nach Gewissheit mit, gleich wie ein Mensch in wüstem Nachtmahr ringt, um wach zu werden. Jede Empfindung, verletzt zu werden, aufzuschlagen oder mit irgend etwas in Berührung zu kommen, war vollkommen ausgeschaltet. Und doch beschreibt Markus — der weiter unten auf dem Kamm des Grates stand, auf das Geräusch hin sich herumriss und, aufwärts blickend, meinen Sturz gewahrte — den Sturz als ein « Herunterwirbeln über jene Platten in einem Klirren von Metall und Steinen ». Kein Zweifel, dass der Eisenpflock der losen Stelze bei jedem Überkollern auf den Felsen eindrosch.

Urplötzlich riss die Nebelhülle, und unter mir, in schauerlichen Tiefen, glomm das verschwommene Bild von Gletschern auf... wahrhaft ich stürze... das ist wahrhaftiglich der Tod. Dies muss in eben jenem Augenblick geschehen sein, als sich das Seil zum ersten Male straffte und mich, wie ich gerade über den Überhang hinausschoss, mitten in einer Kollerbewegung aufhielt. Denn gleich darauf Schloss sich die graue hohnerfüllte Nebelhülle wieder... um schliesslich einem jähen Wiedereinbruch des Bewusstseins zu weichen, als mich das Seil endgültig auffing und ich mich, über dem Abgrund hangend, gleich einem Wirbel drehte. Zeit meines ganzen Lebens bin ich immer augenblicklich aus dem Schlafe zum vollen Bewusstsein aufgewacht. So war ich mir auch jetzt, unmittelbar bevor die physische Empfindung in den Körper zurückkehrte, voll bewusst, dass ich aus grosser Höhe abgestürzt sei und dass ein solcher Fall schwere oder doch verhängnisvolle Verletzungen zur Folge haben müsste. In einem Nu hatte ich Kopf, Arme und Schenkel bewegt — nichts war gebrochen. Jetzt strömte physisches Empfinden neuerdings zurück — ein Schmerz und Brennen am rechten Ellenbogen und an der rechten Körperseite. Gleichzeitig blickte ich aufwärts: hoch über meinem Haupt verschwand das straffgespannte, dünne Seil ob einem Zackenrand — es musste wohl beschädigt sein — mochte in jedem Augenblicke reissen. Im gleichen Atemzuge wog ich die Chancen ab, die mir verblieben: keine Macht vermöchte mich mit einem einzigen Seil über den vorspringenden Überhang heraufzuziehen, zumal wenn ich bewusstlos werden sollte — das von dem andern Paar benutzte zweite Seil sei viel zu kurz, als dass es mich erreichen oder einem andern erlauben könnte, zu mir herabzuklettern — die letzte Seilschaft seien wir am Berg — innert der kommenden 12 Stunden würde jede Hilfe ausgeschlossen sein — wenn ich nur schwingend mich bewegen sollte, könnte mein eigenes Seil schon reissen. Welch Einbruch düstern Grolls! Nur wenige Sekunden ward dem Tode Aufschub eingeräumt. Nun wäre alles schon vorbei. Doch wenn es jetzt einträfe, dann würde es mit der bittern Zugabe sein, dass ich um sein Kommen wusste und mir über das Geschehen Rechenschaft gab. Aber keinesfalls wollte ich mir noch eine Hoffnung vorgaukeln lassen. Ich fasste den Entschluss, jedwedes Hoffen aufzugeben. Hier möchte ich eine Jugenderinnerung wiedergeben: Den schlimmsten Abscheu über meine Rückkehr in die Schule empfand ich jeweils dann, wenn ich am ersten Morgen beim Erwachen, daheim zu sein vermeinte. Deshalb erzwang ich es — und jeweils mit Erfolg — sogar im Schlaf nie zu vergessen, dass ich nun wieder in der Schule weilte. Jetzt machte ich mir diese Zwangskraft neuerdings zu Nutzen.

All dies geschah beim ersten Aufflackern wiederkehrender sinnlicher Empfindung. Zugleich mit dieser brach — erzeugt durch die Erfahrung vieler Jahre — die Gewissheit durch, ich würde, aufgehängt an diesem Seil, das meine Brust zusammenschnürte, nur noch ein paar Minuten bei Bewusstsein bleiben. Das Seil versengte meine rechte Seite da, wo der Knotenruck mein Hemd durchscheuert hatte. Ich musste unbedingt einen Halt finden. Ich hing gerade unter einem Überhang, dem Felssturz zugekehrt, der von mir weg einwärts und abwärts schoss. Nachträglich ward mir klar, dass dies die Wiederholung meiner Lage am Täschhorn war. Mit meinen Augen durchwühlte ich den Fels vor mir; einzig rechts droben unter dem Überhang befand sich eine winzig kleine, mit Quarzkristallen eingefasste Kerbe. Bis dahin hatte ich vermieden, nach meinem rechten Arm zu sehen; er war, wie ich verspürte, beim Ellenbogen verwundet und auch empfindungslos und steif, doch nicht gebrochen. Nun hob ich ihn, verkrallte zwei Finger unlöslich in die Kerbe — halte was halten mag — und hämmerte sie dann mit meiner linken Faust zwischen die Quarzitfassung, damit sie nicht herausglitten, falls der Arm absterben sollte. Der Zug des eingekeilten Fihgergriffes verminderte für 's erste den Druck des Seiles. Ich musste unbedingt noch einen Fusshalt finden. Der Fels war aber ganz verzweifelt glatt und neigte sich von meinem baumelnden Fusse weg nach einwärts in die Tiefe. Doch konnte ich auf seiner dunklen Glätte da und dort die Züge schwacher Runzeln — flüchtig wie Spuren einer Wasserfliege — entdecken. In meiner hangenden Lage hob ich den Schuh und streckte seine Sohle tastend abwärts gegen den ausweichenden Felsen. Nur einem Wunder war es zuzuschreiben, dass ein Nagel der Schuhspitze gerade in die Kreuzung zweier Runzeln griff, die ich ob ihrer Feinheit nicht bemerken konnte. Mit grösster Vorsicht drückte ich nun auf den Fuss herunter, zog mich um ein Geringes an den eingekrallten Fingergliedern hoch — und mächtig lockerte ich so den Seilzug.

Dies alles spielte sich, so will mich dünken, in einer einzigen Minute ab? Nun blieb mir, meine Freunde droben zu verständigen, dass ich bei Bewusstsein sei und unverletzt, da dies ihr Eingreifen vereinfachte. Aber immer noch weigerte ich mich, der Hoffnung Raum zu geben; zu viele Jahre Bergerfahrung stöhnten immerzu in meinem düstern Sinn, wie dürftig jede Aussicht sei. Und dann befiel mich eine ungeheure Hemmung — es war wohl zweifelsohne eine Lähmung, als Folge meiner heftigen Erschütterung. So musste ich mich denn — buchstäblich mit jeder Fiber noch verbliebener Willenskraft — zwingen, zu rufen oder überhaupt etwas zu tun. Eine überwältigende, innere Stimme schien mir einzureden, dass alles schon entschieden und der Tod doch unvermeidlich sei, dass jeder Eingriff meinerseits nur dazu führen könnte, ein Geschick, mit dem ich mich schon abgefunden hatte, zu verwirren und es nur um so quälender zu machen. Tatsächlich brachte ich mich nur dazu, sehr langsamjedes Wort war eine schwerfällige Anstrengung — zu rufen, ich wäre unverletzt und könnte mich noch etwa weitere zehn Minuten halten.

Ich war in Wirklichkeit ungefähr 80 Fuss gefallen. Droben von Knubels Standort aus, war nicht zu sehen, wie ich hier unter den auskragenden Klippen hing. Markus hingegen stand etwas tiefer auf der Südgratschneide; er konnte deshalb, als er, weit vorgebeugt quer durch die Wand herunterspähte, gerade noch das Flattern meiner grauen Haare sehen. Angesichts meines Falles nahm er, bis ich hinaufrief, an, ich wäre bestenfalls bewusstlos. Nun aber — just zusammentreffend mit meinem ersten Ruf — brach plötzlich über unserer Krisis der ungelegenste Anachronismus los: eines jener seltenen Flugzeuge, die damals schon begonnen hatten, in die Hochalpen einzudringen, um schlappe Touristen zu theatralischen Rundflügen zu entführen, zog durch das Zinaltal, über den Gletschern und zwischen den schweigenden, abendlichen Gipfeln herauf und rief mit seinem Grunzen alle Echos wach. Ratternd und qualmend donnerte es über die Gletscher unter uns dahin, um hernach langsam gegen Süden übers Triftjoch wegzusurren — natürlich ohne die geringste Ahnung vom unscheinbaren, menschlichen Ringen, das sich in diesem grandiosen Panorama abspielte, und ebenso natürlich mit der Wirkung, den Sinn all meines Ruf ens in unserem verzweifelten Wettlauf mit der Zeit im Keime zu ersticken. So wie mich nämlich Markus'Gegenruf erreichte, rang ich mich durch, ihm auch noch zuzurufen: es wäre müssiges Beginnen, mich direkt den Überhang heraufziehen zu wollen; nur darin sähe ich eine Chance, wenn es gelingen würde, mir ein Seil von oben links in schiefer Richtung zuzuwerfen, da wo der Felsenüberhang von einer flachen Rinne unterbrochen scheine. Allein für Markus gingen alle diese Worte im Explosionsgebrüll und seinen langgezogenen, infernalen Echos unter.

Knubel hingegen hatte sich über die ganze Lage genau gleich Rechenschaft gegeben wie ich selbst. So kann ich mich nunmehr glücklichen Herzens dazu wenden, die staunenswerte Reihe seiner Taten zu erzählen. Auf meinen Ruf hin: « Alles gut! » musste er angenommen haben, ich würde auf meinem Simse sicher stehen. Behend begann er denn, auswärts gekehrt, herabzusteigen und holte kletternd noch die losen Schlingen unseres langen Seiles ein. Mit jener ewig regen Wachsamkeit, die selbst unter den grössten Bergsteigern nur aus- nahmsweise einer während eines ganzen Menschenlebens erlernt, muss er den Blick nie von mir abgewendet haben, selbst dann nicht, wenn er Griff oder Stand fasste. Er sah, wie ich nach auswärts schwankte, wie ich stürzte. Die freie Länge Seiles zwischen uns mass an die hundertfünfzig Fuss. Es war eines jener starken Seile, wie er sie eigens für sich anfertigen lässt. Augenblicks ward ihm klar, dass, würde ich um jene volle Länge stürzen, der Ruck sein Haltvermögen überschreiten und ihn von seinem Stand herunterschleudern müsste. Er federte in seinem Stand, raffte an losen Schlingen ein, was er nur konnte, und passte zugleich auf, wie ich gleich einem Katarakt die Plattenflucht hinabschoss. Er verkrallte sich mit der rechten Hand am Felsen, verankerte sich und klemmte mit der linken Eisenfaust das auslaufende Seil fest. Knubel ist im Winter Maurer und Steinbrecher. Von der übermenschlichen Kraft seines schmächtigen Körpers habe ich schon früher berichtet: sein Händedruck hat etwas von der packenden Art eines stählernen Schraubstockes. An die 70 Fuss losen Seiles waren schon ausgelaufen, so dass der Ruck fürchterlich gewesen sein muss. Tief schnitt das Seil ihm in die Handfläche. Er fühlte, dass solch einem Druck nicht standzuhalten war. In Anwendung der Technik, die wir in früherer Zeit so manches Mal besprochen und im Schneecouloir der Isolée schon ausprobiert hatten, liess er darum das Seil, nachdem er meinen Fall gebremst, nun wieder gleiten, verankerte sich neuerdings in seinen Halten, und presste seine Faust dann abermals zusammen — diesmal, um nicht mehr loszulassen. Unzweifelhaft war es sein erstes Bremsen, das meinem Überkollern ein Ende setzte und das verschwommene Bild von Gletschern in der Tiefe und die Gewissheit, dass ich stürze, mir zum Bewusstsein brachte.

Die Wunder folgten sich an diesem Tage rasch: er hielt sich selbst am Felsen fest mit seiner rechten Hand; mich aber, der ich seiner Sicht entzogen, unter dem Überhang frei schwebend hing, hielt er allein mit der verletzten Linken. Wahrhaftig eine Kraftanspannung, die nicht gar lange auszuhalten war! Der ganze Plattenschuss weist nur ein einziges Felszäcklein auf. Die gütige Vorsehung liess ihn dieses entdecken, ganz nahe, nur wenig unter seiner linken Hand, die das Seil hielt. Mit einem übermenschlichen Unterarmshub des unter meiner Last gestrafften Seiles schnellte er dieses hinter die Zacke, löste die rechte Hand vom Felsen, sicherte das Seil mit einem Blitzknoten, band sich los, liess mich an dem Belege in der Schwebe hangen und jagte den Quergang hinunter zum Südgrat, um das Seil der andern Seilschaft heraufzuholen. Er sah, dass es nicht zu mir reichen würde. Er kletterte deshalb nach seiner Rückkehr die abschüssigen Platten herab zum obern Ausgang jener Rinne, hoch über meiner Linken, die ich als einzige Bresche im Überhang bezeichnet hatte.Von der untersten Stelle aus, die noch einen brauchbaren Stand aufwies, begann er jetzt, das zweite Seil herabzuwerfen, und zwar mit einwärts schwingendem Effekt, damit sein Ende direkt von oben her über den Rand hinweg dahin gelange, wo ich nach dem Verlauf des andern Seiles hangen musste.

Trotz aller Raschheit seines Handelns brauchte dies alles Zeit. Das Dröhnen des infernalen Flugzeugs war schon längst erstorben. Markus hatte seinen Ruf nicht wiederholt. Einsam, in Grabesschweigen hing ich da am Ende meines Spinnenfadens; noch immer hielt der Haken meiner klammen Finger fest — ich sah ihn mehr, als ich ihn fühlte — und immer noch entlastete der Druck der Zehen gegen den ausweichenden Felsen den Seilzug. Untätig hing ich da ohne jeden Wunsch, mich zu bewegen oder neuerdings zu rufen; aber auch so knirschte das Seil am Felsen über mir das eine oder andere Mal wie eine überspannte Saite. Beharrlich Schloss ich mich von jedem Hoffnungsschimmer ab und hatte jedes Denken aufgegeben.

Jetzt war der Ton des zweiten Seils zu hören, wie es den rauhen Fels weit droben streifend herunterzischte. Das Ende wurde sichtbar; an einem Vorsprungsbuckel glitt es aus und baumelte fernab zu meiner Linken in der Luft. Es wurde langsam eingeholt und verschwand wieder. Beim dritten Versuche aber schlängelte es sich ruckweise über den Überhang herunter, gerade auf mich zu. Es war schon mit einer Schlinge versehen. Neuerdings musste ich gegen das Gesetz der Trägheit ankämpfen. Immer noch empfand ich eine krankhafte Scheu davor, etwas zu unternehmen und meinem Schicksal Trotz zu bieten. Mich selbst bezwingend streifte ich die offene Schlaufe um meinen linken Arm und herauf unter die Achsel; doch brachte ich mich nicht dazu, den Krallengriff der Finger meiner rechten Hand zu lösen, um so die Schlaufe auch um den andern Arm und unter seine Achsel und damit in der einzig sichern Art um meinen Leib zu schieben. Irgendwie packte mich jetzt der Gedanke, ich würde völlig von jenem rechten Armgriff abhängen, von ihm allein und von der Pressung meiner Zehen, obschon doch nach wie vor das Seil um meine Brust den weitaus grössten Teil meines Gewichtes aufnahm. Ich konnte diesen Griff schlechthin nicht fahren lassen. Die andern mussten einfach trachten, mich mit der Schlaufe um den linken Arm und um die linke Hand heraufzuhissen. Plötzlich entsann ich mich einer eigenen, früheren Äusserung: es wäre Torheit, anzunehmen, es könne jemand, der mit einer Hand allein an einer Schlinge oder einem Seile hänge, sicher emporgezogen werden. Ich zwang meine Linke, die eingehakten Finger meiner rechten Hand vom Griffe weg-zuzerren und schob im gleichen Nu die Schlaufe über meinen rechten Arm herunter um den Leib. Ich war verblüfft: nichts war mir zugestossen, da ich dies vollführte. Ich sackte auch nicht ab hinunter in den Abgrund. Das Werk ward wahrlich leicht vollbracht. Jetzt hatte ich zwei Seile um den Leib geschlungen. Und doch verschloss ich meinen Sinn noch weiterhin vor jeglichem Gedanken, dem Schicksal zu entrinnen — und zwar auch dann noch, als ich die Klippen über mir durchforschte und den gewagten Absprung in Erwägung zog.

( Schluss folgt )

Von der Balata

Von A. Tschopp ( Basel ) Ein Besuch der Ausstellung « Wintersport einst und jetzt » hat in mir mancherlei Erinnerungen wachgerufen und Freuden und Leiden aufleben lassen, die ich als Skifahrer durchkosten durfte und musste. Die verschiedenen Schlittenmodelle vom eisenringrasselnden Drucklischlitten bis zum eleganten Davoser erinnerten mich an die tollen, oft halsbrecherischen Fahrten auf abschüssigen Bergwegen und dachsteilen Hügeln, die in jugendlichem Übermut, vom Schutzengel der Kinder behütet, trotz elterlichem Verbot unternommen wurden und heil an Schlitten und Leib endeten.

Tiefer und nachhaltiger aber schürften in meinen Erinnerungen die ausgestellten Skibindungen. Da hingen in beschämter Bescheidenheit die Meerrohrbindung, die Balata, die Glarona neben den glänzenden, modernen Bindungen. Sie heimelten mich an, und ich freute mich, die alten Bekannten wieder zu sehen. Meine stille Freude des Wiedersehens wurde aber getrübt durch eine Schulklasse von Buben, die verächtlich über das, was mir lieb und teuer war, die Achseln zuckten und höhnisch grinsten. Sie interessierten sich nur noch für die Nefrakta und wie die neuesten Schöpfungen an Skibindungen heissen. Und wie einige der Buben sich äusserten, sie hätten eine Kandahar-Diagonalzug-Bindung, musterte ich die Bürschchen etwas genauer: Bleichgesichter, ärmlich gekleidet, aber Diagonalzug. Verärgert verliess ich die Ausstellung mit der Überzeugung, dass die Fürsorge für die Jugend in Sachen Sport über das Ziel: Erziehung zur Bescheidenheit und Einfachheit, hinausschiesst. Auf meinem Heimweg beschäftigte mich dieses Erziehungsproblem. Ich wälzte es hin und wälzte es her. Doch mein Unvermögen, daran etwas ändern zu können, kam mir immer mehr zum Bewusstsein, und als ich verzagen wollte, schienen die alten Bindungen mir zuzurufen: « Sei vernünftig; lass dich nicht verdriessen und freue dich fürderhin an uns, obwohl wir verachtet werden. Das Bewusstsein, dass du uns, der du uns kennst, nicht vergessen hast, lässt uns die Verachtung mit Gleichmut ertragen. Darum mache es wie wir: Kopf hoch und fort mit dem zehrenden Ärger. Der Glanz unserer jüngsten Schwestern blendet auch unsere alten Augen; aber wir schliessen sie oft und träumen vom alten, vergangenen Glück im stäubenden Schnee, in den wir die erste Spur legen durften. Wohl hören wir ihr überhebendes Prahlen über rassige Pisten, über Schnellig-keitsrekorde und über mühelose Aufstiege mit Skilift und Raupenschlepper.

zur Kandahar

Doch gemessen an unseren Erinnerungen an beschauliche Fahrten durch den geheimnisvoll stillen, tief verschneiten Bergwald sind das Worte ohne Gehalt. Der Mensch lebt heute zu viel nach aussen; unser Leben war mehr nach innen gerichtet. Es hatte einen tieferen Gehalt und schuf Erinnerungen fürs Leben. Darum nochmals: Kopf hoch! » — Die Aufmunterung verhallte nicht ungehört; eine Erinnerung löste die andere ab, und wess'das Herz voll ist, dess'geht der Mund über. So lasst uns denn hören, was die Skibindungen zu erzählen wissen.

Mein Début als Skifahrer erfolgte in den letzten Jahren des vorigen Jahrhunderts. Die langen Hölzer, welche als seltene Erscheinung an schönen Wintersonntagen erschienen, erregten die Neugier der Jungmannschaft von Waldenburg. Da ich das Fassdaubenalter überschritten hatte, schnitt mir der Schreiner, in dessen Werkstatt ich viel freie Zeit verbrachte, ein Paar längere Hölzer zu. Sie waren fast auf der ganzen Länge gleich dick und hatten von Federung kaum eine Spur. Die Bindung verursachte einiges Kopfzerbrechen. Doch die Entlassung meines Schwagers aus der Wehrpflicht löste blitzartig das Problem. Die Tragriemen des Tornisters eigneten sich vorzüglich für eine Riemenbindung. Sie wurden abgetrennt, zugeschnitten und auf die Hölzer montiert. Mit sichtlicher Freude bewunderte der Schreiner sein Produkt. Die Fahrt konnte beginnen. Die Fassdaubenbuben schauten neidisch auf meine langen Hölzer und freuten sich, wie sich nur Schadenfreude freuen kann, höllisch über meine anfänglich häufigen Purzelbäume. Der Winter ging seinem Ende entgegen, als ein für meine Ski verhängnisvolles Ereignis eintrat. Ein Brief vom Kreiskommando Baselland brachte die niederschmetternde Nachricht, dass mein Schwager weiterhin die Inspektion zu absolvieren habe, und zwar mit Gewehr, Lederzeug und Tornister. Mein Schwager befand sich in ziemlicher Verlegenheit. Er konnte doch nicht wohl den seiner Tragriemen beraubten Tornister unter dem Arm zur Inspektion tragen. Doch als alter Troupier liess er sich nicht ins Bockshorn jagen und hatte bald einen Ausweg gefunden. Die Milizen von Langenbruck absolvierten die Inspektion vor denen von Waldenburg, und so bestand ein Langenbrucker Tornister die Feuerprobe zweimal. Einmal durfte mein Schwager sogar das schmeichelhafte Lob einheimsen, als alter Troupier einen vorbildlichen Tornister zu haben. Er hatte ihn von einem Auszügler entlehnt. Der riemenlose Tornister diente auf dem Estrich den Katzen als Nachtlager, und mehrere Generationen erblickten in ihm das Licht der Welt, sofern die Neugeborenen nicht schon vor dem Sehend-werden ihre behaarte Wiege verliessen. Auch die Tragriemen des Tornisters würden einige Generationen durchgehalten haben, wenn nicht ein Prospekt der Skifabrik Jakober in Glarus sie in die Rumpelkammer verdammt hätte.

Es war ein grosser Moment für mich, als der Paketträger ein Paar fabrik-mässige Ski mit einer Baiatabindung ins Haus brachte. Stellt man sich eine dicke Schuhsohle mit der hinteren Kappe vor, so hat man ein Bild der Balata-bindung. Am Zehenende war die Sohle aufgeschraubt; ein Rist- und ein Zehenriemen bildeten die Verbindung von Schuh und Ski. Metallbacken waren nicht vorhanden; eine sichere Führung der Hölzer war daher ziemlich illusorisch. Wären dazumal schon Fremdwörter zur Benennung der Bindungen üblich gewesen, hätte man diese als « Frakta » bezeichnen können, und manch einer ver- dankte ihr eine Fraktur. Mir blieben schwerere Verletzungen erspart, obwohl ich oft an einem oder beiden Beinen hinkend nach Hause kam. Bis zum folgenden Sonntag war der Schaden behoben, so dass der Betrieb wieder aufgenommen werden konnte. Und was für ein Betrieb! Ein Üben nach irgendeinem System gab es nicht. Wir fuhren einfach die Hänge, auch die steilsten, hinunter. Willkürlich die Abfahrt stoppen konnten wir nicht. Entweder überschlug es uns vor Erreichung des Zieles, oder aber wir suchten am Hang wieder aufwärts zu fahren. Im schlimmsten Fall setzten wir uns auf die Hölzer und bremsten mit unserem hinteren Ende.

Einen tiefgreifenden Umschwung in unserem Betrieb brachte das Auftauchen eines fremden Skifahrers. Erstaunt und mit nicht geringem Neid stellten wir fest, dass dieser seine Fahrt jederzeit stoppen konnte, und wie elegant. Wir pirschten uns an den Skikünstler heran, um ihm seine Kunst ab-zuschnappen. Den einen Ski stellte er vor, den anderen zurück, ging " dabei tief in die Knie, und schon stand er still. Sein Spurende hatte die Form einer Tabakpfeife. Wir versuchten es ihm gleichzutun. Stellten wir das äussere Bein vor, überschlug es uns; stellten wir das innere Bein vor, überschlug es uns wenn möglich noch ärger. Durch die Misserfolge liessen wir uns nicht entmutigen; was der Fremde konnte, mussten wir auch fertigbringen. Ab und zu gelang einem von uns der Stopp, wie wir das willkürliche Anhalten tauften; diese Einzelerfolge gaben uns neuen Auftrieb zum Üben. Eine gewisse Sicherheit erlangten wir erst, als das Büchlein von Paulcke erschien: Wie lerne ich Skifahren. Jetzt ging es besser, und mit jedem Sonntag kamen wir einem guten Telemark näher. Die Purzelbäume wurden seltener, aber um so ärger. So musste ich eine tolle Schussfahrt vom Kellenköpfli hinunter mit einer Skispitze bezahlen. Diese ging mir zu Herzen; aber der Schreiner, der mir gewogen war, verscheuchte allen Kummer mit der Bemerkung, dass er den Schaden heilen könne. Mit sichtlichem Stolz und dem Blick des Fachmannes gab er mir nach einigen Tagen den Ski zurück mit der Bemerkung: « So da hebt jetz. » Ich zweifelte nicht an seiner Behauptung; denn er hatte ohne Rücksicht auf die Spitzen-federung ein 1 y2 cm dickes Brett über den Bruch geleimt. Der Ski hat denn auch bei schärfster Beanspruchung gehalten, sogar beim Springen.

Auch in dieser Kunst übten wir. Unter der Leitung des Jünglings mit dem Bart bauten wir auf der Waldweide die erste Sprungschanze: Höhe 1 m, maximale Sprungweite 15 m. Wir waren stolz auf Werk und Leistung, um so mehr, da eine Zeitung von Mut, Entschlossenheit und Selbstbeherrschung schrieb, als am 2. Skirennen des Skiklubs Basel ein Springer einen 22-m-Sprung mit anhängendem Gepurzel von ebensolcher Weite ausführte. Unser Sprunghügel lag zu weit ab vom Verkehr, so dass Zeitungsreporter uns nicht behelligten. Aber es waren trotzdem herrliche Sonntage droben auf der Waldweide. Gelegentlich hatten wir Fussgänger als Zuschauer, wodurch unser Wagemut gesteigert wurde mit dem Erfolg, dass durch den grösseren Kraftaufwand die Sturzlöcher tiefer und die Verstauchungen schlimmer wurden. Einmal wollte ein Basler Kunstturner es uns im Springen gleich tun. Zu seinem Glück nahm er den Anlauf nicht voll. Denn auf der Kante der Schanze machte er einen regelrechten Kunstturnersprung, so dass er einen halben Die Alpen - 1952 - Les Alpes26 VON DER BALATA ZUR KANDAHAR Salto nach vorn vollführte und bäuchlings den Hang hinunterrutschte. Für Spott und Hohn hatte er nicht zu sorgen; klein und hässlich räumte er den Schauplatz seiner Tat.

Noch ein fröhliches Ereignis, das sich bei unserem Sprunghügel abgespielt hat, ist in meiner Erinnerung. Ein älterer Basler Herr begleitete zu Fuss Sohn und Tochter auf Ski. Offenbar durch unseren fröhlichen Betrieb angespornt, wollte er auch skifahren. Der Sohn stellte, wie es sich ziemt, seine Hölzer zur Verfügung. Diese wurden in der Abfahrtsrichtung zurechtgestellt und von der Tochter an den Spitzen gehalten. Der Herr Papa stellte sich in die Bindung, die der Sohn Schloss. Die Equipe war startbereit: die Tochter liess die Spitzen los; der Sohn schob an den hinteren Skienden, aber offenbar etwas zu stark. Der alte Herr schlug seine erste Badewanne. Seine während der Vorbereitung 10 Minuten nach 10 zeigenden Mundwinkel hatten sich durch den Sturz auf 20 Minuten nach 8 umgestellt. Der Hut drückte die in die Höhe strebenden Augenbrauen nieder und verdeckte die sich vor Ärger sträubenden Haare. Da der Schnee tief lag, war die Wanne ganz respektabel, und darinnen « sass ein Greis, der sich nicht zu helfen weiss ». Mit vereinten Kräften versuchten die Kinder, den gefallenen Vater aus der Versenkung zu heben. Sohn hinten, Tochter vorn, Vater wütend in der Mitte. Der Sohn fasste den Vater unter den Armen, und ho-hop schnellte der Papa in die Höhe. Sei es, dass Vaters Mithilfe an der Auferstehung zu intensiv war, sei es, dass die jugendlichen Biceps des Sohnes sich zu rasch kontrahierten; kurz und gut: der alte Herr fiel vornüber bäuchlings in den Schnee. Der Hut entzog sich durch Flucht dem schnaubenden Menschenknäuel; auf dem hartgetretenen Hang beschrieb er einen eleganten Bogen, legte sich aufs Dach und starrte hilfesuchend in den blauen Himmel hinein. Wer nun glaubt, dass die Haare des Vaters sich gesträubt hätten, irrt sich. Sie fehlten, und flaumiger Schnee bedeckte den Kopf, der mit der Neubeflaumung dem hintern Ende eines eben dem Ei entschlüpften Kückleins nicht unähnlich sah. Die Tochter bemühte sich, das Gesicht des Vaters freizumachen. Jetzt war der letzte Geduldsfaden gerissen. « So jetz ziehn mer diä Ghaibe ab; i ha gnuä Ski gfahre! » So geschah es, und nachdem die Kinder ihren zürnenden Vater liebevoll und zärtlich vom Schnee gereinigt hatten, verschwand das Familientrio im nahen Tann.

Mit dem Können nahm auch unsere Frechheit im Fahren zu, und es ist kein Zufall, dass mein ungeflickter Ski auch noch auf der Strecke blieb. In einem Maushaufen blieb die Spitze stecken, während der Fahrer auf dem fast aperen Boden die Abfahrt bäuchlings fortsetzte. Damit war das Schicksal der Baiatabindung besiegelt. Die nächste Skisaison eröffnete ich mit Jakober-ski mit Huitfeldbindung. Am 2. Skirennen des Skiklubs Basel sollten sie die Feuerprobe im Langlauf bestehen. Start: Kellenköpfli, Ziel: Langenbruck. Lang ist es her; aber noch fühle ich das Herz pochen, als mir die Startnummer 7 umgebunden wurde. Ein gutes Omen murmelte diesmal das Volk. Es war ein schöner Skisonntag, der Schnee pulverig und reichlich. Bei den Instruktionen wurden die Fahrer mit Nachdruck darauf aufmerksam gemacht, dass beim Überholen der Vorangehende aus der Spur zu treten habe. Jede Minute ging ein Fahrer auf die Strecke; die sieben Minuten Wartezeit schienen mir eine Ewigkeit. Endlich kam die Erlösung, und in flotter Fahrt gings zum Kellenberg hinunter. Das erste Opfer, das ich überholte, wälzte sich in einem grossen Schneeloch. Beim Aufstieg zum hinteren Hauberg näherte ich mich immer mehr dem 2. Opfer, das ich unbedingt zur Strecke bringen musste. Es war Startnummer 2, ein Basler Nationalturner und wohlgenährter Wirtssohn, der vor dem Start grosse Töne von sich gab und uns Waldenburger verächtlich musterte. Wohl trugen wir nicht ein so feines Norwegerkostüm, und unsern Kittel zierten keine Klubzeichen. Aber unter ihm steckte ein eisener Wille und jugendlicher Tatendrang. Meinen Ruf: Bahn frei, missachtete er gänzlich; für ihn schienen keine Regeln und Vorschriften zu bestehen. Da alles Rufen, ja sogar Brüllen nichts fruchtete, ging ich zum Angriff über. Ich pirschte mich an mein Opfer heran, trat ihm quer auf die hinteren Skienden, und schon war die Bahn frei. Mit gesteigertem Tempo machte ich mich davon, dem Kulminationspunkt der Rennstrecke entgegen. Auf steilem Weg ging die Fahrt den Wald hinunter. Der Doppelstock trat als wirksame Bremse in Funktion. Nachdem ich auf diesem tückischen Waldweg noch zwei Fahrer überholt hatte, glaubte ich schon, ungeschlagen durchzukommen. « Kaum gedacht, ward der Lust ein End gemacht. » Ein Baum stand mir im Weg, und schon hatte ich ihn zwischen meinen Hölzern. Nur ein Gedanke beschäftigte mich: wenn nur der Nationalturner meine verzwickte Situation nicht sieht. Diese Angst beschleunigte meine Befreiungsversuche. Mit Ziehen, Stossen, Wälzen kam ich wieder auf die Beine, und als ich flott war, erschien ein Verfolger. Meine Hölzer zogen an; die Stockbremse wurde ausgeschaltet, und in zügiger Fahrt ging es aus dem Wald hinaus aufs offene Feld. Bei einer Gegensteigung hielt ich nach meinen Verfolgern Umschau. Ich war allein auf offener Fahrt; der Waldweg war auch andern zum Verhängnis geworden. Eine Meldung eines Kontrollpostens, dass noch kein Fahrer vorbeigegangen sei, war Öl ins Feuer. Ich zog die letzten Register; taktatmend nahm ich die letzte Gegensteigung; das Ziel kam in Sicht. Nach einer Schussfahrt durchfuhr ich das mit bunten Wimpeln geschmückte Ziel. Meine Huitfeldbindung hatte sich bewährt, oder war es das « Puntenöri »?

Mehrere Jahre fuhr ich mit Huitfeldbindung, und mit ihr habe ich an einer Fastnacht die erste Tour ins Gebirge unternommen, nämlich in das Spitzmeilengebiet. Am Samstagnachmittag hofften wir durch das Schilz-bachtal über Matossa die Hütte zu erreichen. Doch erstens kommt es anders und zweitens als man 's denkt. Als wir den Steilhang nach Matossa-Alp hinanstiegen, zogen verdächtige Wolken auf. Ein bald einsetzendes Schneegestöber ging rasch in einen intensiven Schneefall über. Zuerst leicht, dann immer stärker begann der Neuschnee zu kleben. Heute würde man Wachs Nr. xyz zu Hilfe nehmen. Wir hatten nur Bienenwachs zur Verfügung. Alle Mühe, die Hölzer zum Gleiten zu bringen, war vergeblich. Felle hatten wir noch nicht; eine auf einem Streifen Drilch in schlangenartigen Windungen auf-genähte Reepschnur unter die Bindung gebunden war unser Steigemittel. Immer ärger wurde das Kleben. Mit dem verflixten Schnee machte auch noch der Nebel gemeinsame Sache; in dicken Schwaden überfiel uns der Unhold. Wir tappten in dem undurchdringlichen Grau herum. Dass zu beiden Seiten unserer Anstiegsroute gefährliche Lawinenhänge lauerten, wussten wir. Es war uns nicht mehr recht wohl, um so weniger, als auch noch die Dämmerung hereinbrach. Dass wir unter diesen Umständen die Spitzmeilenhütte an jenem Abend nicht mehr erreichen würden, war uns klar. Aber wo die Nacht zubringen? Umkehren und ins Tal absteigen wurde erwogen. Wir tappten hin, wir tappten her in dem eintönigen, dämmerigen Grau. Wir hofften, eine Hütte auf Matossa zu finden. Mancher Steinblock narrte uns; mancher pfeifende Windstoss liess uns menschliche Stimmen hören. Enttäuschung folgte auf Enttäuschung. Immer noch wirbelte der Schnee; immer mehr nahm die Dunkelheit zu; da endlich stiessen wir auf ein Hüttendach. Mit einiger Mühe erreichten wir das Innere des Stalles. Er war total leer; nur ein Brunnentrog, den die Sennen hier verstaut hatten, lag in einer Ecke. Eine flackernde Kerze erhellte unsern Unterschlupf, der einen intensiven Erdgeruch atmete. Nach einer leiblichen Stärkung stapften wir in unserem Boudoir herum, und das Aroma unserer Stumpen neutralisierte den Duft der alpwirtschaftlichen Neben-produkte. Das Schlafproblem machte einiges Kopfzerbrechen. Da weder Heu noch Streue vorhanden war, kam nur der Brunnentrog als Schlafstätte in Frage. Wir schoben ihn in die Mitte des Raumes, zogen die Reservewäsche an und setzten uns alle drei wie in einen Bobsleigh hinein. Der Hauch des Atems, vom gedämpften Licht der Kerze beleuchtet, stieg, allmählich verschwindend, ins rauchschwarze Gebälk. Ab und zu sank der Kopf meines Vorsitzenden vornüber, erhob sich zögernd, um alsbald wieder auf die Brust zu sinken. In regelmässigem Rhythmus bewegte sich das wollenumhüllte Haupt. An der Hüttenwand schien eine grosse Kugel zu pendeln. Diesem Schatten folgte mein Blick bei seinem Auf und Ab, und ich weiss nicht, wie lange es gedauert hat, bis auch mein Kopf mitpendelte. Es muss ein unterhaltendes Schauspiel gewesen sein, als auch der dritte Brunnentrögler mit entsprechender Begleitmusik mittickte. Wegen der verschiedenen Temperamente der Schläfer werden die Phasen der Amplituden nicht sonderlich harmoniert haben, schlafend noch eher als wachend. Die zunehmende Kälte weckte mich, und beim Bestreben, die Beine freizubekommen, erwachte auch mein Vordermann. Die Tagwacht ging durch die ganze Kolonne, und der Brunnentrog leerte sich langsam. Es kam Bewegung in die Bude; ein Stampfen der Beine, ein Schlagen der Arme hub an. Die abwesenden, vierbeinigen Insassen des nun zum Turnsaal gewordenen Stalles hätten wohl ihr gehörntes Haupt geschüttelt, wenn sie die drei Schulmeister hätten sehen können, und sie hätten sicher an ihrem Verstand gezweifelt. Als das Gefühl von Wärme wieder gewonnen war, ging man wieder gemeinsam zu « Bett » und döste dem Morgen entgegen, und was für einem Morgen! Wolkenlos wölbte sich der Himmel über den Bergen, deren oberste Zinnen im Sonnengold glühten. Die intensive Kälte hatte den Schnee pulverig gemacht, drum ohne Zögern dem warmen Morgenkaffee in der Hütte entgegen. Von hoher Warte grüsste sie zu uns hernieder, und ihr Anblick spornte uns zu grösserer Eile an. Am frühen Vormittag hielten wir in ihr Einzug, und bald durchzog herrlicher Kaffeedurft den behaglichen Raum.

Nach mehreren prächtigen Sonnentagen rief uns die Pflicht wieder heim. Ein Skifahrer aus Zürich, der nach uns eingetroffen war, stellte am Vorabend der gemeinsamen Abreise seine durchnässten Schuhe unter den Kochherd. Wir kochten viel und lang und assen im Schweisse des Angesichtes lang und viel. Auch die Schuhe unter dem Ofen hatten die Wärme verspürt. Einem von ihnen war sie nicht gut bekommen. Am Morgen war die Sohle nach oben und, was noch schlimmer war, nach der Seite verbogen. Er sah bedenklich aus mit seiner Stromlinienform; aber auch das Gesicht des Besitzers verzerrte sich, als er probierte, ihn anzuziehen. Trotz intensivster Mithilfe war es nicht möglich, den Fuss in sein Futteral hineinzubringen. Was an Werkzeugen in der Hütte vorhanden war, vom Feuerhaken bis zum Holzbeil, wurde verwendet, um dem Schuh normale Gestalt zu geben. Jeder Kraftaufwand war vergebens. Da kam einer der Helfer auf die einfache Idee, dem Schuh das zu geben, was er verloren hatte, nämlich Wasser. Der lederne Krüppel wurde ins warme Wasser gestellt, und nach einigen Minuten war es möglich, den Fuss hinein zu bringen. Die Heimfahrt konnte beginnen, eine herrliche Fahrt aus dem Winter auf Spitzmeilen in den Frühling bei Flums. Je tiefer wir kamen, um so spärlicher wurde der Schnee. Bald glitten unsere Hölzer an weissen und violetten Krokus vorbei; bald trugen wir sie über frisch gedüngte, nach Landwirtschaft riechende Matten. Mit Huitfeldbindung war der ständige Wechsel einfach.

Zu Beginn der nächsten Skisaison war ich glücklicher Besitzer von zwei Paar Ski. Das kam so: Einer meiner Begleiter auf den Sommertouren war Schreiner und arbeitete als solcher in der Skifabrik Harald Smith in St. Moritz. Als Gegenleistung für die ihm geschenkten Stereobilder von unseren gemeinsamen Fahrten schickte er mir ein Paar Ski. Es waren wunderbare Hikory-hölzer mit Langriemenbindung, mit der Bindung, die der Spender als die beste bezeichnete. Und wer weiss, ob nicht gerade diese Bindung schuld daran war, dass er wenige Jahre später im Val Tuoi in einer Lawine den Tod fand. Als ich mit diesen Hölzern zum erstenmal auszog, meinte eine Dame: « Diä Schi sehn us wiä ne vornähme Sarg. » Trotz dieses ominösen Vergleiches ist mir mit ihnen kein Unfall zugestossen. Allerdings am Blindenhorn hätte sie fast das Schicksal erreicht. Vor dem steilen Gipfelanstieg steckten wir die Ski in den Schnee und stiegen auf dem Grat zu Fuss auf den Gipfel. Kaum oben angelangt erschreckte uns ein dumpfer Knall, und schon rutschte der Gipfelhang langsam als Schneebrett ab. Ängstlich betrachteten wir unser Skidepot. Einzelne Blöcke rollten an ihm vorbei. Ob das Brett vor ihm zum Stehen kam? Immer noch rutschte die Schneemasse; immer näher kam sie dem Depot, und zu unserem nicht geringen Entsetzen mussten wir zusehen, wie die Hölzer umgedrückt und von dem Schnee zugedeckt wurden. Der Gipfelaufenthalt wurde unverzüglich abgebrochen; denn das Ungewisse Geschick unserer Ski, mit dem auch das unserige verknüpft war, zwang uns zum Abstieg. Allerlei Gedanken gingen mir durch den Kopf, und wir atmeten sichtlich auf, als wir die Hölzer unversehrt wieder fanden. Meine Langriemenbindung, die aus dem Schnee herausschaute, erleichterte das Finden. Mit der Freude vom Geschick begünstigter Menschen traten wir die genussreiche Abfahrt an. Schön war sie allerdings nur bis unterhalb der Cornohütte. An den Hängen nach All' Acqua hinunter stellte ein perfider Bruchharsch unsere Geduld auf eine harte Probe.Von Schwung oder Stemmbogen war keine Rede. Seitwärts abrutschen konnte man auch nicht, und so buckelten wir, im Schnee fast versinkend, die Ski die steilsten Hänge hinunter. Meine Begeisterung für die Langriemenbindung machte langsam, aber um so deutlicher einer Verärgerung Platz. Das stetige An und Ab der Hölzer war mühsam und zeitraubend zugleich. So war ich immer am Schluss der Partie, und wenn ich den Rückstand einholen wollte, folgten Stürze, die nicht spurlos an mir vorübergingen. Es war schon dunkel, als wir in All' Acqua ankamen. Das Schicksal meiner Langriemenbindung für Skihochtouren war besiegelt. Nie wieder, tönte es in mir, als ich die Spaghetti à la Napolitaine auf die Gabel spulte. Auch der gut temperierte Veltliner, der reichlich floss, vermochte mich nicht umzustimmen. Sollte ich zur Huitfeldbindung zurück? Kommt Zeit, kommt Rat. Der Winter war im Tiefland zu Ende; die Matten grünten, die Vögel zwitscherten, als wir heimfuhren. Doch bevor ich die Ski ihrem sommerlichen Schlaf übergab, montierte ich auf meine Hikoryhölzer eine Beetschenbindung, das Non plus ultra an Schnelligkeit beim An- und Abziehen der Ski.

Wie immer folgte der ersten Begeisterung über die neue Bindung ein Dämpfer. Bei einer Abfahrt vom Hühnerspiel nach Saanenmöser benützte nach einem heftigen Sturz ein Ski meine momentane Geistesabwesenheit zur Flucht. Schnurgerade fuhr er in ungezügeltem Tempo den Steilhang hinunter dem Rand eines steilen Bergwaldes entgegen, in dem ich ihn kaum mehr gefunden hätte. Doch das Glück war mir hold. Durch eine Bodenwelle überschlug es den Flüchtling; er kam auf die Bindung zu liegen und war gerettet. Dieses Ereignis gab mir zu denken, und ich war froh, als durch die Amstutz-feder eine gewisse Sicherung geboten wurde.Verschiedene Unfälle und Frakturen bei einigen Bekannten, die mit dieser Bindung fuhren, brachte mein durch den Ausreisser schon beeinträchtigtes günstige Urteil ins Wanken, und schon nach einer Skisaison wechselte ich zur Alpina-Bindung von Attenhofer hinüber. Diese Aufschraubbindung schien mir die nicht mehr zu überbietende Skibindung zu sein. Viele genussreiche Fahrten habe ich mit ihr ausgeführt. Da begann die Wissenschaft sich mit dem Skifahren zu befassen. Mit den Gesetzen der Mechanik wurde die Technik analysiert. Die mehr beschauliche alte Schule musste einer neuen weichen. Die Poesie eines Telemarkschwunges wurde durch den prosaischen Stemmkristiania verdrängt. Wörter und Begriffe wie Diagonalzug, Fahren mit Vorlage wurden geboren. Neue Bindungen schössen wie Pilze aus -dem Boden, und die Schweizer Skischule wurde ins Leben gerufen. Wer nicht eine lächerliche Figur am Skihang machen wollte, musste umlernen. Wenn der Pulverschnee heute zu einem Telemark reizt, muss man sich erst vergewissern, dass man keine Zuschauer hat. Früher hat Gian einen Fahrer bewundert, der seine 20 Telemarkschwünge in rhythmisch, fast tänzelnder Bewegung in den unberührten Hang legte. Heute zuckt man die Achseln über den Zurückgebliebenen. Und doch war und ist es immer noch ein, ich möchte fast sagen, geistiger Genuss, mit wohl abgewogenen Telemarkschwüngen einen Hang sanft hinunterzugleiten. Dieser Genuss entgeht den heutigen Fahrern. Auf der glattgeschabten Piste sausen sie spurlos zu Tal; abseits von ihr wird im Ski- und Sesselilift die Höhe wieder gewonnen. Ja, es ist wahr: das ganze Volk fährt Ski; aber eben es fährt, und zwar nicht nur abwärts, sondern auch aufwärts. Die herrlichen Genüsse an landschaftlichen Schönheiten, die der Aufstieg vermittelt, entgehen den Fahrern von heute. Ihr Genuss wird mit Minuten, ja sogar mit Sekunden gemessen.

Jene eingangs erwähnte Äusserung des Schulbuben wegen der Kandahar-Diagonalzug-Bindung hat mich nicht geärgert wegen des Neides der besitz-losen Klasse. Seit Jahren bin ich glücklicher Besitzer einer solchen. Ich bin ein viel zu wenig routinierter Sportfahrer, als dass ich mich sachgemäss über ihre Vor- und Nachteile äussern könnte. Auch sie hat mir gute Dienste geleistet und mir Erinnerungen an genussreiche Fahrten vermittelt, Erinnerungen mehr ideeller Natur. Mit zunehmendem Alter schwindet der Hang zur Romantik; man geht Unebenheiten, die man als jung gesucht hat, aus dem Weg. Man wird allmählich zu einer bescheidenen Welt für sich, in der das eigene Ich eine immer bescheidenere Rolle spielt. Die Zeiten, in denen man die erste Geige zu spielen meinte, gehören der Vergangenheit an. « Das Leben macht so fürchterlich bescheiden », und die am lautesten gewettert, die sitzen so fromm und still. Man meidet bevölkerte Skigebiete; man sucht vom grossen Strom gemiedene Gegenden auf, wo man, ohne kontrolliert und kritisiert zu werden, nach Herzenslust skifahren und wo man mit der winterlichen Bergwelt still und andächtig Zwiesprache halten kann.

Mit Worten lässt sich 's erschildern nicht, Und nicht mit Farben ermalen. Mich dünkt, so purpur getempert und licht Muss das heilige Land erstrahlen. ( Scheffel. ) Solche Gedanken und Stimmungen bewegen und erfreuen den besinnlichen Skifahrer und erfüllen ihn mit Gefühlen des Dankes gegenüber dem Schicksal. In seinem Innersten verankern sich Erinnerungen, die vielleicht verblassen, aber nie auslöschen. Unter der Schwelle des Bewusstseins liegen und warten sie, und es bedarf nur eines bescheidenen Anstosses, um sie im alten Glanz und in voller Klarheit erstehen zu lassen. Ein Strahl der sinkenden Sonne, der das gegenüberliegende Dach aufleuchten lässt, zaubert Sonnentage im glitzernden Schnee hervor. Ein plötzlich auftretender Windstoss, der die Fensterladen energisch rüttelt, vermag Erinnerungen wachzurufen an schwere Stunden, wo man für sich und seine Kameraden sich sorgen musste. Doch diese düsteren Gedanken vermögen nur für kurze Zeit die freudvollen Erinnerungen zu überschatten. Diese sind zu licht und zu hell, als dass sie sich verdunkeln liessen. Wie der glühende Sonnenball den schleichenden Herbstnebel durchbricht und restlos aufsaugt, so verklären sie den Alltag mit seinen Lasten und Widerwärtigkeiten.

Erscheint Dir das Leben nicht lebenswert, Voll Sorgen und voller Plage: Schau auf zu den Bergen, wo unbeschwert Verlebt hast Du sonnige Tage.

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