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In Korsika

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Von

Dr. med. et phil. With. Schibier ( Sektion Davos ).

Als die neue unteilbare helvetische Republik, ein Eintags-gebilde der Revolution, von den Eidgenossen unverstanden und gehaßt, in sich selber zusammenzubrechen drohte, berief der Protektor, der gewaltige Napoleon, die Schweizer zu sich nach Paris, um aus seiner Hand den Frieden zu empfangen. „ Ich bin selber das Kind eines Berglandes und Bergvolkes, und so kann ich eure Wünsche und Bedürfnisse verstehen — sagte er zu den Gesandten und gab ihnen in der Mediationsakte einen leidlichen Frieden mit auf den Heimweg. So hat der größte Korse einst sein Land und Volk den Schweizern selber vorgestellt und mit dem ihren in Parallele gesetzt. Seitdem sind 100 Jahre ins Land gegangen und der große Korse, gestürzt wie ein Titane, ist fast zum Mythos geworden; die helvetische Republik aber, über deren Sein oder Nichtsein er einst entschied, lebt immer noch und aus eigener Kraft, und mehr und mehr ziehen Schweizer, friedliche Touristen und Naturforscher, nach jener Insel, die einen Napoleon geboren, um ein Land kennen zu lernen, das ihre Bewohner selber anfangen „ une petite Suisse " zu nennen.

Der Tourist fand auf Korsika ein Bergland, im Innern sogar ein Hochgebirge, das vollauf seinen Ehrgeiz befriedigen, eine Menge jungfräulicher Gipfel und Spitzen, an denen er als erster seine Kletterkünste erproben konnte. Er fand noch weite Einsamkeiten am Meer, in der Macchie, im Hochwald des Gebirges und auf den Bergen; überall einfache, ursprüngliche Verhältnisse. Keine Hotels winken von allen Seiten mit goldenem Schild und befrackten Kellnern unter der Türe; noch sind keine Clubhütten übers Gebirge gestreut wie bei uns. Das Nachtlager muß im einfachsten Dorfwirtshaus bezogen werden oder in elenden „ bergeries ", wenn der Fremdling es nicht vorzieht, im Freien zu biwakieren und in den mitgebrachten Schlafsack zu schlüpfen. Liegt vielleicht nicht gerade darin noch der größte Keiz des neuen Landes, wird es wohl immer so bleiben?

Fast noch mehr findet der Naturfreund und der Naturforscher, der gewohnt ist, mit sehendem und vergleichendem Auge auf die Reise zu gehen. Kaum gelandet, findet er schon am Meeresstrand und den begleitenden Hügeln die alte, mediterrane Natur, die längs den Rivieren des Kontinentes der Mensch schon längst bekämpft und zurückgedrängt hat. Stadt drängt sich dort an Stadt und Dorf an Dorf und die Kultur hat jedes geeignete Plätzchen in Beschlag genommen. Da muß der Fremdling erst durch lange, gewundene, enge Gäßchen und Treppchen, zwischen hohen Mauern und Hecken, die jeden Ausblick hemmen, sich hindurchwinden, um das Freie zu erkämpfen, eine Anhöhe ob den grauen Oliven oder unten am Meer ein felsiges Kap, das noch den alten Boden trägt und dem der Mensch die Urspi'ünglichkeit nicht hat rauben können. Von da siehst du dann in Paradiese hinein, an denen du zwischen den hohen Mauern bergansteigend unbewußt vorübergegangen bist, prangend mit Pflanzen aller Zonen, die hier im Laufe vieler Jahrhunderte zusammengetragen wurden. Doch magst du auch einen Blick in diese Gärten tun und sogar unter Palmen darin wandeln, und in Orangenhainen, die der Mensch sorgsam hegt und die alle Fremdlinge auch sind im Lande, wie alle andern vielen Formen und Farben, die hier dich umgeben, die alte freie Natur können sie dir auf die Dauer nicht ersetzen.

Anders noch in Korsika! Ein Sprung macht dich frei wie den Banditen! Ein Sprung'vor die Stadt oder das Dorf, und die Macchie nimmt dich auf, der alte mediterrane Buschwald mit seinen tausend Blüten und Wohlgerüchen; höher oben die Kastanienselven, der Föhrenwald und Buchenwalddunkel, und endlich Fels und Schnee, und brauchst keinem Menschen nachzufragen, bist frei wie ein Korse, der die Natur seines Landes treu bewahrt.

Wohl überzieht das Silbergrau der Oliven weite Hügel am Meer und in innern Landschaften; schattet da und dort an bedeutsamen Punkten der Fächer einer Pinie; streben vielerorts an Wegen und Stegen die Zypressen wie Fackeln gen Himmel, die Grabstätte eines Korsen bezeichnend, der auch im Tode nicht beim gemeinen Haufen liegen mag-; mag auch dort unten am Meer die Agave ganze Felder mit ihren Stachel-hecken umziehen und riesengroß ihren Blütenkandelaber entfalten und der Kaktus ganze steile Abhänge wie in Sizilien in undurchdringliches Dickicht hüllen — ein amerikanisches Bild; und erscheint auch in Städten die Palme und an einzelnen Orten die Agrumen, Pomeranze, Orange, Zitrone und die Rebe im Kulturland; und bezeichnet der Eukalyptus den Unterlauf und die sumpfige Mündung der Flüßchen — sie verschwinden alle in der Macchie, dem einheimischen, immergrünen Buschwald der Cistrosen, Myrten, Heiden, Ginster, Lentisken, Erdbeerbäume. Wohl ist diese Macchie in ihrer jetzigen Ausdehnung bis hoch hinauf ins Gebirge erst auf dem Grabe alter Wälder von Seestrandföhren, Kork- und Steineichen erstanden und stellt so selber eine „ Kulturruine " dar, aber sie enthält doch nur altes Landesgut, und alles Neue, Fremde hat der Insel nicht wie den Rivieren einen falschen Firnis aufzudrängen vermocht. Wer daher die alte Natur der mediterranen Landschaft, so wie sie vielleicht einst der Römer geschaut hat, sehen und studieren will, wird in Korsika sein Ziel finden. Aber alles ist denn doch nicht „ Macchie " dort: Dicht daneben steht oft der reichste Fruchtgarten, so um Bastia an der korsischen Riviera des Cap Corse, um Ajaccio und anderwärts; und wenn Seneca in der Verbannung über die korsische Wildnis klagt und sich nach dem Gartenland Italien sehnt, so war dies wohl damals schon eine arge Übertreibung und dem Heimweh des Verbannten entsprungen.

Und noch ein höchstes Interesse gewährt dem Naturfreund Korsikas Inselnatur: Das Auftreten einer Menge nur ihm ( und dem benachbarten Sardinien ) allein eigener Arten und Formen in seiner einheimischen Pflanzen- und Tierwelt, Die Macchie zwar erfreut erst und ermüdet zuletzt fast durch stets dieselben Blüten und dieselben Farben, mag auch das Blütengewimmel ein unerhörtes sein; auch der Kastanienwald der Bergregion läßt seine gedämpften Lichter oft nur auf eintönige Adler-farnfluren fallen, und noch höher verdeckt der geschlossene Buchenwald, ein einziges grünes Wipfelmeer, einen toten, nur mit raschelndem Buchenlaub bedeckten Boden; und selbst der heitere, sonnige Laricio-Kieferwald erscheint verarmt gegenüber unsern kontinentalen, reicher zusammengesetzten Laub- und Nadelholzwäldern, und endlich über Buchen und Föhren scheint in Korsika der rote Fels ganz nackt in den blauen Himmel zu starren: Aber über diese Felsen jagt das Moufflon, das korsische Wildschaf, das einzige Europas, an diesen Felsen klebt so manche Blume, daran nippt so mancher Schmetterling, so mancher Käfer, die nur Korsika eigen sind, und solchen Erscheinungen begegnest du überall bis hinunter zum Meere. Wer interessiert sich heutzutage nicht für das Variieren der Tiere und Pflanzen, seit Darwin von seiner Weltreise auf dem Beagle, auf der er nicht zum wenigsten durch die eigentümliche Flora und Fauna oft ganz benachbarter Inseln zu seinen Ideen angeregt worden war, heimgekehrt, sein Buch über die Entstehung der Arten geschrieben hat. Und Korsika zeigt diese Er- In Korsika.

scheinung des Variierens in seiner Tier- und Pflanzenwelt in hohem Maße: Wem würde dort auf den Bergen der korsische Schwalbenschwanz ( Papilio Hospiton ) nicht auffallen, düster, fast schwarz, dem unsrigen zwar ganz ähnlich, aber die schwarzen Zeichnungen unbestimmt, wie auf Fließpapier geschrieben und zerflossen; und so unser gemeine „ kleine Fuchs " ( V. urticse v. Ichnusa ) ist in Korsika feurigrot, mit weniger schwarzen Flecken auf den Vorderflügeln, wenig aber konstant und bestimmt von dem unsrigen unterschieden; der gemeine Mauerfuchs ist Phot. A. Rzewnski.

dort kleiner, zierlicher ( Pararge megaera v. Tigelius ), reiner in Farbe und Zeichnung; und die herrliche Argynnis Elisa, ein ganz originelles Tier der „ Tyrrhenis ", ist dort wohl aus unserm Perlmutterfalter hervorgegangen. Solche Beispiele ließen sich auch aus der Flora häufen. Mit Recht bemerkt auch Rickli in seinen botanischen Reisestudien auf einer Frühlingsfahrt in Korsika, daß vielen dieser Pflanzen auch eine besondere Zierlichkeit innewohne, und so will ich hier nur an die reizende Saponaria ocymoides erinnern, die auch bei uns in Davos im Schiatobel die Waldgrenze bei 2000 m. fast erreicht, in Korsika aber in der zierlichsten, feinsten Form ( v. gracilior. Bert .) noch die Schutthalden der Bergregion bewohnt, und an die lilafarbenen Rasen der Veronica repens, die in Gedrängtheit der Blumenfülle und Zierlichkeit des Pflanzenleibes, mit unserer Silène acaulis rivalisiert.

Am Nachmittag des 24. Mai 1905 standen drei Gesellen auf dem Deck des Dampfers, der nach dem Verlassen des Hafens von Livorno-den Kurs nach Südwesten nahm. Sie waren mit sich und der Welt zufrieden, wie ein jeder es ist, der eben von einer guten Mahlzeit aufgestanden ist und überdies noch eine herrlich lachende Ferienzeit und ein lockendes, unbekanntes Ziel vor sich hat. Noch eben vom lauten Lärm eines großen Hafens umtost, umgibt uns schon die große Meeres-einsamkeit, und die große Stille erinnert uns an heimatliche, fast noch winterliche Gefilde. Sonst alles anders: Ringsum blaues Meer, dahinten die versinkende weiße Stadt, allmählich verschwimmend mit der dunkeln Strandlinie, vor uns unendliche Ferne, von der wir schon einen ganzen Winter lang geträumt. Endlich findet das Auge zwischen Himmel und Wasser einen Euhepunkt; klein und dunkel wird er allmählich höher, steigt an zum Berge und ergrünt vom Gipfel bis zum Fuße.

Wir fahren an der Insel Gorgona vorüber. Doch wo ist Rzewuski,. unser Photograph, er soll uns das Bild zum Andenken fixieren? Er bleibt verschwunden und opfert dem Meergott. Aber auch mein Blick wird immer starrer, bleibt immer unverwandter nach Westen gerichtet,, und immer ersehnter wird das rettende Gestade. Nur der dritte, von uns bald Carabus geheißen, weil er allen Käfern Korsikas den Tod geschworen hatte, genießt mit vollen Zügen die Meerfahrt, folgt mit stets neuer Lust dem graziösen Flug der weißen Möwen, die uns begleiten,, sieht mit neuem Interesse nun zur Linken neue Berge aus den Fluten steigen. Da endlich — es geht schon gegen Abend - taucht im Westen eine starre, weiße Wolkenbank auf und hebt sich höher und höher aus-dem Meere; Bergspitzen scheinen darüber zu stehen, darunter ein Gestade zu dunkeln. Allmählich wird das dunkle Land höher, weiße Punkte tauchen dort auf, Häuser, Dörfer, eine Stadt an felsigen Ufern. Nach Norden endigt Wolkenband und Gestade plötzlich, ein steiles Kap stürzt ins Meer; nach Süden verschwimmen endlich Ufer, Berge, Wolke« ineinander: Das ist Korsika!

Endlich sind wir geborgen und haben den Kampf mit all dem Gesindel, das überall eine Ausschiffung zu begleiten pflegt, überstanden. Wir sind in Bastia, einer Stadt, die uns nach Größe und Lage etwas-an unser Neuenburg erinnert, wenn auch lange nicht so nett und sauber wie dieses, aber in Handel und Wandel vielleicht die bedeutendste in. Korsika. Einige weite und breite, dem neuen Hafen, wo wir gelandet sind, parallele Straßen sind mit hohen 5 — Gstöckigen Mietskasernen bestanden:, In Korsika.

aber die Querstraßen dazu münden gegen den Berg hinauf in die Wildnis, und nach Süden verlieren sie sich in das Häusergewirr der Altstadt auf dem Felsen ob dem alten Hafen. Und doch wie reizend ist dieses Bastia! Wie gut lebt 's sich hier! Wie schmecken wieder nach langer Entbehrung frische Meerfische, und alle die frischen Gemüse frisch aus dem Garten jetzt im Monat Mai. In milder und lauer Luft sitzest du nun am Abend draußen vor dem großen Café, vor dir der weite Platz am Hafen, der mit seiner hohen Häusereinrahmung, der eleganten, großen, bei Musik promenierenden Menge dich ganz großstädtisch anmutet, vor dir auch das gewaltige Marmorbild Napoleons in römischer Cäsarentracht, wie er hinüberschaut auf den Hafen, aufs Meer, auf Capraja, auf Elba! Welch ein Vergnügen den formen- und farbentrunkenen Augen, vom alten, verfallenen Hafen aufzusteigen in die Genuesenstadt mit ihren himmelhohen grauen Mauern voller Risse und Vorsprünge, ihren Gassen und Gäßchen, Durchlässen und Passagen, Treppen und Treppchen, Höfen, Zinnen und Dächern, und belebt mit allen möglichen Fahnen und Fähnchen, Lumpen und Fetzen in allen Farben, Männern, Frauen, Kindern, Fischern, Händlern, Hunden, Katzen, Hühnern — wo alles ruft und schreit und feilscht, und bastelt in den Gängen, Buden, in den Straßen! Da ist alles Leben, Bewegung, Farbe, und hinter uns liegt wie ein düsterer Traum der düstere Norden.

Am nächsten Morgen zogen wir los in die Berge. Freilich winken um Bastia dem Bergsteiger noch nicht die Gipfel eines Hochgebirges, erreicht doch in der Kette des nach Norden in die schmale Halbinsel ausstrahlenden und diese ganz erfüllenden Bergzuges der höchste Punkt nur 1300 m. und ist so an Höhe etwa mit unserem südlichen Jura zu vergleichen. Aber diese Berge baden ihren Fuß im Meer, das um zahl- reiche felsige Kaps eine helle Brandungslinie zieht, sie gürtet die schönste mediterrane Kulturzone der korsischen Riviera, und ihre Gehänge kleiden Macchie und Felsenheiden. Und gerade diese wollten wir zuerst kennen lernen. Gleich hinter dem Bahnhof, der ob der Stadt in einem Felsenzirkus gelegen ist, in den der Zug von Ajaccio her nur durch einen langen Tunnel gelangt, stiegen wir in die Höhe. Wir folgten bald einem breiten Fußwege, der die Stadt in der Tiefe in weitem Bogen umziehend nur langsam an Höhe gewann, indem er allen Vorsprüngen, allen Schluchten des Bergzirkus sich anschmiegte. Wir glaubten auf dem richtigen Wege nach dem Col di Teghime zu sein, der die Meere scheidet, übersahen aber in unserem Eifer, mit dem wir uns auf alle die neuen in Tier- und Pflanzenwelt auf uns einstürmenden Erscheinungen stürzten, den richtigen Weg dorthin, die prachtvolle route nationale, die statt wie unser Weg nach Norden dorthin nach Süden abschwenkte. Nur unser Photograph, der einem Trupp zur Übung ausrückender Soldaten folgte, ward nicht getäuscht, und wir verloren ihn oder er uns, und gefunden haben wir uns erst am Abend wieder hinter dem Wirtstisch. Ob und unter unserem Wege löst ein Bild das andere ab: Kleine Kulturflecke wechseln ab mit unberührter Wildnis, mit der Macchie, und diese wuchert oft noch unter Ölbäumen und Mandeln. Kleine Wiesenflecke, dürftige Getreidefelder und Weingärten stoßen dicht an das Blütenmeer des immergrünen Buschwaldes, der alle höhern Rücken bekleidet. Halbmannshohe Sträucher der Cistrosen ( Cistus monsspe-liensis, albidus, salvifolius ) vor allem sind es, die dicht gedrängt auf steinigem, ödem Boden ihre reifen und roten Röschen in drängender Fülle entfalten; ein Tag entblättert sie und der neue Morgen sieht wieder eine größere Menge. Dazwischen steht der Erdbeerbaum, Arbutus Unedo, ein oft mannshoher Strauch mit spiegelndem, glänzendem Lorbeer-blatt; Erica arborea, die Baumheide, über und über mit weißlichen Glöckchen besetzt; Myrte und Rosmarin und Thymian schwängern die Luft mit wohlriechenden Düften. Seltsame Helichrysen, Strohblumen, weißfilzige Artemisien und Teucrien, wunderliche Orchideen entsprossen an offeneren Stellen dem toten Gestein; Lavandula Stoechas mit gewaltigem Schauapparat von Deckblättern über den kleinen unscheinbaren Blüten lockt die spärlichen Insekten; und überall raschelt es von flinken grünen Eidechsen. Hier wuchert so manche Pflanze, die daheim die Bäuerin sorgsam im Topf auf dem Fensterbrett hegt und pflegt, und wir erkennen, woher früher der Hausgarten seine Lieblinge bezog. Das konservative Land hat sie noch bis heute bewahrt, indes der anspruchsvolle Städter sie vergessen hat und schon in alle Zonen hausieren gegangen ist. Dicht neben dem vollen Süden begegnen wir wieder einem andern Bild: Wo eine Wasserader, ein Bächlein sich sein Bett, seine Schlucht gegraben, ist sie verborgen in üppigstem Grün. Kleine Wiesen, mit Fruchtbäumen, Äpfeln, Birnen, Kirschen bestanden, senken sich dahin, wo Ulmen und Eichen mit fallendem Laub, Kastaniendome gewaltige Schatten-dächer bilden. Weiden, Erlen und Pappeln schließen zum Dickicht, alles verfilzt durch unendliches Geranke von Brombeeren, Rosen, Clematis und Tamus communis, eine einzige grüne Wildnis, fast ein Stück Heimat, nur üppiger, wilder, hier mitten im mediterranen Buschwald. Und hier wie dort huscht im Laubwalddunkel derselbe Schmetterling ( Pararge Egeria ), unser Waldbrettspiel, in seiner südlichen Form, das ja noch merkwürdigerweise vereinzelt ( v. egerides ) in den Tannenwald von Davos ( 1650 m ) hinaufdringt, und hier der typische Falter des Laubwaldes sich mit alpinen Arten mengt.

So unter stetem Schauen und Entdecken steht uns die Zeit still; höher und höher ist die Sonne gestiegen, wir merken es nicht; erst Hunger und Durst lassen uns doch wieder schon hoch oben im Gebirg die ersten menschlichen Wohnungen mit Entzücken begrüßen. Und ein Blick fliegt auch wieder hinaus auf das Meer; tief liegt es unter uns und Bastia, um seine Bucht gelagert, und dort im Süden glänzt die Ebene und die Lagune von Biguglia zu uns herauf, und weit nach Norden dehnt sich die korsische Riviera; aber alles ist ihm hier Untertan und beherrscht das weite, unendliche Meer!

An malerischem Gemäuer vorüber, umrankt von Weinlaub und Feigen, umwuchert von Nesseln und Disteln und freundlichem Grün kleiner Gartenflecke, das Ganze bewohnt von Menschen und Schweinen und Hühnern, gelangen wir zur weit über Land und Meer schauenden Kirche. Eine Person in schwarzem Talar, an die wir uns um Auskunft wenden, weist uns eine noch höher am Berg gelegene Häusergruppe: dort, sagt sie, würden wir beim Krämer Speise und Trank finden, da hier oben kein Wirtshaus existiere. Wieder klettern wir eine Gratrippe auf wildem Pfade in die Höhe und finden unter Fruchtbäumen unsere uns angewiesene Krämerbutike, ein enges Gemach zu ebener Erde, vollgestopft mit allen möglichen und unmöglichen Dingen. Da freilich gibt es keinen Platz für uns, aber im Hintergemach winken Tisch und Bank, und Brot ist an der Wand auf Hürden aufgestapelt. Hierhin komplimentiert uns auch die gastliche Hausfrau, deren Anblick im hellen Lichte uns sofort darüber beruhigt, ob sie uns in Versuchung führen könnte, die Vendetta herauszufordern. Aber geschäftig trägt sie uns Brot und Wein, Eier, Käse und Schinken herbei, alles, was man nur in einem korsischen Bergdorfe unangemeldet etwa haben kann. Wir sind unersättlich, die Wirtin bald ratlos; aber als wir erst im Laden eine korsische Schinkenwurst, eine Spezialität des Landes, entdecken, sind wir geborgen, und der scharfe Pfeffer der fettigen Hülle reizt immer wieder zu froh- licheni Trinken. So herrlich haben wir noch selten getafelt wie in diesem korsischen Bergneste. Beim Kaffee angelangt, entwickelt Carabus einen Kriegsplan für den Nachmittag. Er möchte noch bis zur Höhle von Brando vorstoßen, die etwa 11/ä bis 2 Stunden von Bastia weg auf dem Wege nach dem Cap Corse, dort unten an der Küste, liegen sollte. Er hoffte, dort Höhlenkäfer zu finden, und ich würde ein mir noch unbekanntes Naturwunder kennen lernen. So nehmen wir denn Abschied von der freundlichen Wirtin, die uns eine billige Zeche machte; bald liegt auch die Kultur-Oase hinter uns, und die Wildnis hat uns wieder. Wir folgten einem Ziegenpfad, der über alle Krümmungen des Gebirges in halber Berghöhe hinführte. Heiß brannte die Sonne auf die Felsenheide, und weit war der Weg noch bis auf die Höhe von Brando. Neben Cistrosen und Erdbeerbaum tauchen allerlei Dornbüsche, wie Igelpolster, am Wege auf ( Genista Corsica, Calycotome spinosa, Astragalus ) und schmiegen sich wohlig an das brennende Gestein. Die Olive, als einheimischer, sparriger Dornstrauch, ist in Gesellschaft der Pistacia Lentiscus, der Stechginster, der Heiden und des Juniperus Oxycedrus, kaum zu erkennen. Allerlei Lianen mit hartem, spiegelndem Blatt, Asparagus acutifolius, Rosa sempervirens, Smilax aspera, Rubia peregrina, aber auch unsere einzige, einheimische Liane, der Tamus communis, laufen über diese Busch weit, bunter, reicher als die einförmige Cistusmacchie, und verfilzen sie zu einem oft undurchdringlichen Dickicht. An offenem Stellen entfaltet der Affodill ( Asphodelus spec .) aus einer Rosette mastiger Schwertblätter seine gewaltige, bis 2 m. hohe Blütentraube voller kleiner, weißlicher, braungeaderter Lilienblüten. Lupinen, Trifolium, harte Gräser entsprossen dem Gestein. Königlich schwebt einsam ein Segelfalter ob dem glänzenden Blattwerk in den warmen Lüften; Cornonympha Corinna, ein zierlichstes Erzeugnis der Tyrrhenis, kleiner, zierlicher als unser gemeiner Heufalter, hupft am Wege; der korsische Mauerfuchs ( Pararge megaera v. Tigelius ) ist hier häufig; sonst aber, außer dem Rascheln unzähliger Eidechsen, keine Bewegung, kein Ton; es brütet die Stille des Mittags. So geht es stundenlang fort in dieser Buschwildnis, bis wir uns ob einem Dorfe, nahe dem Meere gelegen, in der Nähe von Brando angelangt glauben und dahin unsern Abstieg bewerkstelligen. Wie wir wieder die Kulturzone erreichen, beginnt nun in dem terrassierten Boden ein Hin- und Herlaufen, ein Queren der kleinen Gärten und Feldstücke voller Kartoffeln, Artischoken, Saubohnen, Getreide, ein Herabspringen und Herabklettern über alle die vielen zerfallenen Mäuerchen, umrahmt von silbergrauen Oliven, rankenden Weinreben, bis wir endlich, ohne einem feindseligen Bauern zu begegnen, wieder bei menschlichen Behausungen anlangen. Hier erst erfahren wir zu unserm Leidwesen, daß wir uns immer noch nicht in Brando befinden, daß wir noch ganz an die Küste hinunter- gehen und dieser noch ein gut Stück nach Norden folgen müssen. Wieder geht es hinunter durch Olivenhaine, Felder und kleine Wiesenstücke bis ans Meer; dann folgt ein Stück Landstraße an der selten anmutigen Riviera entlang. Bei einer Häusergruppe, um eine Wallfahrtskirche geschart, hinter der ein waldiger Kücken steil in die Höhe geht, erfragen wir endlich die Höhle von Brando. Der Kustode führt uns erst zwischen hohen, klösterlichen Gartenmauern hin, über die gar verlangend reife Kirschen und Nespoli zu uns herniederlugen; dann einen gepflasterten Weg steil hinauf, immer im Schatten wundervoller Steineichen, die den Hügel zum heiligen Hain gestalten. Nahe der Berghöhe, unter einer Felsenwand, von einer tiefschattigen Terrasse aus, mit einzigem Blick aufs weite Meer, geht es in die Tiefe. Für uns beide, die wir noch nie ein solches Naturtheater gesehen haben, ist diese erste Fahrt in die Unterwelt sehr interessant, dauert uns aber viel zu kurz, schon nach wenigen Minuten, dünkt uns, sind wir am Ende. So steigen wir bald wieder die verschiedenen Treppen und Stufen in die Höhe, kreuzen die blank und weiß geputzten Korridore, Stuben und Kammern mit ihrem Hausrat von Bänken und Sesseln, Leuchtern und Lampen, und grüßen wieder mit neuer Freude das heilige Meer. Der Heimweg auf der breiten route nationale nach langem Tagewerk wird uns herzlich sauer. Öfters durchziehen wir kleinere Häusergruppen, kehren ein in einer Fuhrmannskneipe; Bauern jagen auf zweirädrigen Karren vorüber; dann sitzen wir wieder draußen auf einem felsigen, von Kaktus und Aloe umwucherten Kap und lauschen dem Schlag der Brandung, laufen da, wo ein Bach mündet, auf sandigem Strand den Wogen nach, sammeln Muscheln und Käfer, erfreuen uns der gelben Flatterblume des Hornmohns und schauen wieder aufs nimmermüde, immer bewegliche Meer. Endlich beginnt es zu vorstädteln, Villen und Gärten mehren sich, die himmelhohen Straßenwände der neuen Bastia haben uns wieder, und bald sitzen wir, mit Rzewuski vereinigt, an fröhlicher Abendtafel im Hause des Signor Paoli.

Den andern Morgen, als die Sonne wieder von einem blauen Himmel herabstrahlte, und die Wolkenbank, die am Abend zuvor sich an die Berge gelegt hatte, zerflatterte, führte uns Rzewuski nun den richtigen Weg zum Col di Teghime. In großen Bogen, langsam, gewinnt die prachtvolle Straße, wie alle andern ein Werk des zweiten Kaiserreiches, an Höhe, immer begleitet von schönen Landhäusern, Klöstern, Kirchen, Mausoleen, immer im Schatten alter Ulmen, Platanen, Steineichen. Unter uns liegt die Altstadt, daran anschließend nach Süden die größte, reichste Ebene Korsikas, und hell schimmert darüber hinaus die Lagune von Biguglia und weiter der sandige Strand und wieder das Meer. Von dort her wogt über die Ebene und zu uns herauf an den Abhang der Berge ein anderes Wipfelmeer der zahllosen Fruchtbäume in all den Gärten, der Oliven, Zedratbäume, der Feigen, Kirschen, Mispeln, rankender Weinreben, hochragender Schilfrohre; in den Bachschluchten, die wir kreuzen, steigert sich die Vegetationsfülle zu tropischer, undurchdringlicher Üppigkeit. Aber auch hier beginnt bald die Macchie mit ihren uns nun schon vertrauten Gestalten, aber über dem Buschwald erhebt sich noch ein anderer, die lichten, dünnen Kronen der Korkeichen, deren seltsamen, von dichtem Korkmantel umhüllten Stämmen wir hier zum erstenmal begegnen. Wenige hundert Meter sind wir erst gestiegen, da hört auch dieser Wald schon auf, die Macchie wird niedriger und niedriger, Felsblöcke entblößen sich, zwischen denen die weiße Lichtfülle einer herrlichen Lilie, der Pancratium illyricum, hervorschimmert. Gegen den Col zu herrscht der Wind unumschränkt und drückt alles Organische zu Boden.

Auch dem Strand von Biguglia machen wir einen Besuch. Der Weg dorthin ist freilich kein Vergnügen; zwischen hohen Gartenmauern führt er aus der Altstadt die staubige Landstraße bald eben hinaus. Carabus hat hier aber ein Jagdrevier entdeckt, und aus alten, feuchten Mauern zieht er große, dicke Käfer heraus, die er Blapse nennt und behauptet, daß sie leider sein Vaterland nicht schmückten. Auch in der flachen Land-ebene des Strandes angekommen, ist er eifrig hinter der kaum weniger schönen und dicken „ Pimelia " her und läßt uns zwei andern indes den Sand zwischen den magern Tamarisken pflügen. Den Photographen entschädigt aber der wundervolle Rückblick auf die hochragende alte Genuesenstadt und den Botaniker das einzige Vegetationsbild, das hier die Agave americana gewährt, wie sie mit riesigen, stachligen Blattrosetten in langer, langer Reihe, eine lebendige, undurchdringliche Hecke, die an die unfruchtbare Sandebene anstoßenden Kartoffelfelder einfriedet und öfters ihren gewaltigen, viele Meter hohen, nur mit einer Riesenspargel vergleichbaren Blütenstengel in die Höhe schickt.

Nun haben wir aber genug des Sandes und der Hitze; uns gelüstete nach der reinen Luft der Berge. Eines Nachmittags entführt uns der Zug nach Süden durch die Ebene zwischen der Lagune und den Bergen. Bald erscheint das Land menschenleer; einsam liegen die Stationen, umgeben von Hainen hoher Eukalypten mit lang herabhängenden Säbel-blättern, die glatten Stämme voller herab wall end er, zerzauster Rinden-fetzen. Sie künden die Malaria, und überall sind die Fenster zum Schutz gegen ihren unheimlichen Träger, die Anophèles, mit feinem Drahtgitter verschlossen. Jetzt ist freilich noch gute Zeit, und wir selber sind bei unserm bis gegen Mitte Juni auf der Insel ausgedehnten Aufenthalt nie von einer Mücke gestochen worden, wie wir auch nie ein anderes Ungeziefer, sogar in ganz primitiven Gasthäusern, angetroffen haben. Freilich soll dieses Frühjahr, wie überall im Süden, abnorm kaltes Wetter geherrscht haben und über Korsika ein 25tägiger Regen niedergegangen sein, ein Ereignis, das seit hundert Jahren nie mehr vorgekommen sei; doch diese Wettergeschichten alter Leute sind bekannt und finden immer weniger Gläubige. Heute aber war der Himmel wirklich grau und trübe; es setzte ein feiner Regen ein, und als der Bahnzug nach halbstündiger Fahrt scharf rechts in die Berge hinein abschwenkte, immer dem Laufe des Flüßchens Golo folgend, glaubte man sich alsbald dem Süden entrückt und wieder in ein anderes Land versetzt. Wild schäumte der Fluß im engen Tal, in dessen Tiefe steil die mit Busch und Laubholz bestandenen Hänge sich niedersenkten. Bei Ponte alla Leccia erweitert sich wieder der Blick und ruht auf fernen Bergen. Dann geht es südlich Corte zu, der alten Hauptstadt Korsikas entgegen, erst zwischen gerundeten, mit kurzer Macchie bewachsenen Bergrücken, dann zwischen steilen, malerischen Felspartien, oft in Windungen, Tunnels, die Höhe gewinnend, worauf sich die Bahn ins Fruchtbecken von Corte niedersenkt.

Corte ist das alte, unberührte Korsika; in seiner Lage und Größe etwas an Sion oder Bellinzona erinnernd, nur klimmt nicht bloß die Zitadelle, sondern die ganze Stadt an dem Burghügel in die Höhe, der gegen das steile, zackige Hochgebirge im Hintergrund unnahbar abfällt, dort halb umflossen von den grünen, rauschenden Bergflüßchen der Restonica und des Tavignano, die aus engen, wilden Tälern gerade hier hervorbrechen. So der Blick nach Westen; nach Osten, Norden, Süden ist das Land offener, von Hügelwellen durchzogen, reich bebaut, voller Ölbäume und begrenzt von mäßigern, mit Macchie und Wald bestandenen Bergen. Von dem tief gelegenen Bahnhof aus ( 400 m ) führt die Straße über die Tavignanobrücke, zwischen Baumgärten, in weitem Bogen, an von Kaktus überwuchertem Felsen vorbei als breites, baum-bepflanztes Boulevard, wo auch schwarze Säulein promenieren, den Berg hinauf und mündet rechtwinklig in die breite Cours Paoli, die Hauptstraße. Hohe, einfache, finstere Häuser bilden sie, noch halb verborgen hinter einer Baumallee, und sie kontrastieren seltsam — es ist heute Sonntag — mit den eleganten Toiletten der stattlichen, hübschen Landes-töchter, die jetzt nach der Messe mit dem ebenso eleganten Papa oder der Mama in der Straße auf und ab promenieren. Liegt einmal der Korso im Rücken, und steigt man weiter hinauf bis dahin, wo die Mauern der Zitadelle die letzten Felsen krönen, so sieht und erlebt man Bilder, die nur der Süden kennt. Unnennbare Straßen und Gäßchen, Winkel und Krümmungen, alles eingerahmt von altersgrauen, zerfallenen Mauern, Ruinen, Löcher, Risse, ein Pflaster, das nie eines war, wo Kinder, Schweine, Hühner, Hunde im Unrat wimmeln, Felsen, Stiegen, eine unendlich malerische Welt! Von der Bergkante steigen wir auf halsbrecherischem Pfade, fast unter den Mauern des Kastells durch, ins grüne Tavignanotal hinunter, dessen Ufer melancholische Weiden und Ölbäume beschatten, wo eine Vorstadt der Ziegen- und Schweineställe liegt neben Hausgärten. Steinhaufen, in einer Wildnis von Nesseln und Disteln. Wenn der deutsche Maler, den wir da an der Arbeit treffen, alle malerischen Qualitäten des Landes in seiner Mappe mit nach dem farbenarmen Norden mitnehmen will, muß er heute noch dort sitzen. Bald dringen wir auch auf schmalem Hirtenpfad, oft neben einer Wasserleitung, ins enge Tal des Tavignano ein, in eine üppige Wildnis voll tiefen, grünen Baumschattens, immer ob dem schäumenden, tosenden, wallenden Bergstrom. Am jenseitigen, trockenem Ufer sehen wir den ersten Lariciowald die Felsen hinaufklettern.

Da der Himmel sich immer noch nicht aufheitern will, können wir leider den Plan, mit Ordini, dem Führer und Moufflonjäger, zur Alp am Fuße des Monte Rotondo, der mit seiner Schneekrone gar verführerisch aus dem Hintergrund des Restonicatals bis nach Corte herausschaut, aufzubrechen, nicht ausführen. So gehen wir am andern Morgen nur ein Stück weit, flanierend, Käfer sammelnd, ins Restonicatal hinein. Ein ordentliches Sträuchen führt um den Burgfelsen herum erst wieder durch eine ganze Vorstadt von Schweine- und Ziegenställen, alle umzäunt von zyklopischem Mauerwerk, aus gewaltigen Kieseln, dem Bett der vorüberstürmenden Restonica entnommen, aufgebaut. Zur Rechten folgen schöne Gärten mit reichem Gemüse; Zypressen verkünden eine korsische Grabstätte, dann schließen sich wieder die Felsmauern zum Alpental. Noch zeigen sich die immergrünen Büsche der Macchienflora, Steineichen an dem steilen Gehänge, aber jenseits meldet sich im Lariciowald schon der Einfluß der Berge. Wo der Fluß eine kleine Talsohle sich ausgespart, wölben sich auch herrliche Kastaniendome über grünem Wiesenplan und grünen Fluten. Der einsetzende Regen erzwingt aber schleunige Umkehr und den Entschluß, heute noch die Reise bis zur Paßhöhe von Vizzavona, auf die Hauptwasserscheide der Insel im tiefen Süden, fortzusetzen, wo wir erst wieder längern Aufenthalt zu nehmen gedenken. Am Bahnhof erfahren wir unser Mißgeschick, daß unser Gepäck vergessen worden ist, und so bleibt Rzewuski zur Besorgvmg desselben zurück, und Carabus und ich fahren wieder einmal allein voraus und wollen Quartier machen. Noch lange winkt uns Corte und das Hügelland zum Abschied, während wir an der Bergflanke emporfahren; dann immer höher emporsteigend, lenken wir immer mehr in die Berge hinein; die Dörfer, meist in dichtem Kastaniendunkel verborgen, werden zahlreicher. Schleifen und Kurven führen auf höhere Terrassen, und es gibt Aus-und Niederblicke, die mit denen der Gotthardbahn verglichen werden.

In Korsika.

Phot. A. Bzeivnski.

Wie aber das Hochgebirge Korsikas gegenüber den Alpen an Höhe und Ausdehnung zurückstehen muß, so in demselben Maße auch seine schmalspurige Gebirgsbahn an Reiz und Variation der Szenerie gegenüber jener Bahn, die mitten durch das Herz der Alpen an einem ihrer schönsten Teile fährt. Hinter Tattone, einem grünen Wiesenplan, von waldigen Bergen umgeben, wie wir bis jetzt in Korsika noch keinen gesehen, nimmt uns im enger und enger werdenden Tal ein Hochwald von Pinus Pinaster, dann schöner Lariciowald auf, und bald hält dann der Zug in Vizzavona, der Station, einsam mitten in einem gewaltigen, ganz mit Wald erfüllten Bergkessel gelegen, auf den aus großer Höhe ernste Felsenhäupter herabschauen. Hier vor dem Ostportal des 4 km. langen Tunnels, des Gotthardtunnels von Korsika, verlassen wir die Bahn und besteigen den Hotelomnibus. Immer im Regen, schlotternd fast vor Kälte, fahren wir an einem einsamen Hotel, ein paar Forsthäusern vorüber, inStunden erst durch triefenden Nadelwald, dann durch eine lichtgrüne Dämmerung immer bergan, bis wir auf dem kleinen Plateau der Paßhöhe vor unserm Standquartier, dem ganz im Buchenwald verlornen Hotel Monte d' Oro, halten. Hier steht schon die Josephine, eine muntere Münchnerin, die ein seltsames Geschick mitten nach Korsika verschlagen, zu unserm Empfange bereit. Sie sei hier schon gepriesen, die Josephine, Jahrbuch des Schweizer Alpenclub. 41. Jahrg.

17 denn sorgsam hat sie uns die bald an den Felsen der Punta dell' Oriente und am Monte d' Oro in die Brüche gegangenen Hosen immer wieder geflickt und uns so manche schöne Forelle und den herrlichen korsischen Broggio, den süßen Ziegenkäse serviert, und heute schon führt sie uns-sogleich ans behaglich wärmende Kaminfeuer, denn obwohl wir in Korsika sind und den 28. Mai zählen, ist es hier bei 1160 m. heute empfindlich kühl. Kaum sind wir ein bißchen warm geworden, tönt eine Stimme neben uns: Sie kerne au nit us KorsikaNai, aber Sie sind vo BaselDie Stimme gehört einem kleinen, freundlichen, altern Herrn, und die Antwort kommt von mir. Der alte Herr ist, wie sich nun ergibt, zu Besuch hier oben mit Mutter und Schwester bei dem kranken Sohne, der einst auch in Davos gewesen war. Überall trifft man alte Davoser; so haben wir einst auch einen in Taormina auf Sizilien gefunden, und alle haben uns noch versichert, in Davos hätten sie nie so-frieren müssen wie so oft im viel berühmten Süden.

Ein gewaltiges Rauschen weckt uns schon früh am andern Morgen, und als wir den Laden zurückschlagen, strahlt die schönste Sonne vom blauen Himmel und flimmert auf einem weiten, im Winde wogenden Blättermeer. Gewaltig steigen die roten Felsen des Monte d' Oro über dem Walde empor und heben sich scharf, mit rundlicher Kuppe gegen den reinen Himmel ab. Noch klettern einzelne hellgrüne Buchen und dünner, dunkler Lariciowald die untern Wände hinan. An diesen Eckpfeiler im Osten schließen sich tiefer im Hintergrund nach links zackige Felsgräte, zu denen Schneefelder hinanführen; ganz zur Linken vollendet den Zirkus der gewaltige Felskoloß der Punta Migharella ( 2258 m ), der westliche Eckpfeiler, in jähen, roten Wänden, dem Monte d' Oro gerade gegenüber abstürzend zu einem niedern Grat, der langsam zur zahmen^ mit Buchen gekrönten Punta del Ceppo ( 1631 m ) und im Bogen in südlicher Umwallung des Monte d' Oro-Tälchens zum Belvedere ( 1453 m ) hinausführt. Von da fällt der Grat noch einmal ab, und bildet dann mit mäßiger Höhe, dicht mit Buchenwald besetzt, die nördliche Umrahmung des Col, während jenseits Schlucht und Bach des Monte d' Oro tiefer in den waldigen Bergkessel von Vizzavona münden. Dem Ceppo gilt heute unser erstes Streben. Wir überspringen den sumpfigen Bach der Paßhöhe, dringen rasch durch den Streifen Buchenwald und erreichen bei dem alten Genuesenfort — eher ein großes, altes Haus, mit Wall und Graben umgeben, zu nennen, mit offenen, zerfallenen Türen und Toren — den Grat und den bis zum Belvedere und Ceppo offenen Hang. Schon ganz alpin mutet uns alles in dieser geringen Höhe an: Der offene Boden, mit Steinen übersäet, dazwischen allerlei Pflanzen-filze; aber nirgends jene geschlossene Grasnarbe unserer Alpen, auf der man oft stundenweit in tausend Meter höherer Lage wie auf einem In Korsika.

Phot. A. Rzewnski.

weichen Teppich promenieren kann. In großen Büschen liegt unser hochalpine Wachholder ( Juniperus nana ) gedrückt am Boden; stachlige, niedere Büsche der Berberitze ( v. setnensis ) erheben sich allenthalben, nicht in so charakteristischer Gestalt zwar wie am Ätna, dessen Namen die Form trägt, und wie dort schmiegen sich große, kuglige Igelpolster eines Astragalus ( Ast. sirinicus ) an den Boden. Eine reizende Veronica ( Veronica repens ) bildet an feuchtem Stellen große, zollhohe Blumenpolster; neckend erhebt daneben aus trockenen Gräsern und dürren Steinen eine zierliche Hyazinthe ( Hyac. Ponzolzii ) ihre weißen Blütenträubchen; Saponaria ocymoides v. gracilior breitet weithin rote Teppiche; ja sogar Taubnessel und Vergißmeinnicht sind in alpiner Gewandung vertreten ( Lamium corsicum und Myosotis pyrenaica ). Wo ein Felsen emporragt, schmückt er sich mit den klebrigen Blütentrauben eines weißlich blühenden, großblumigen Steinbrechs der Westalpen ( Saxifrag. pedemontana all. v. cervicornis ), und aus feuchter Spalte daneben weht der alpine Farn Allosorus crispus.

Ein Grunzen in nächster Nähe schreckt mich plötzlich aus allem Schauen und Entdecken auf; drohend stehen mir unweit große, schwarze Sauen gegenüber in einer frisch aufschießenden Flur des Adlerfarns; ich habe sie offenbar beim Wühlen nach der geliebten Farnwurzel gestört. Sind es Wildschweine? Nirgends ist ein Hirte zu sehen, keine Wohnung, kein Stall; und nur unter öfterm Drohen und Wenden, Halten und Grunzen verschwindet die Schar endlich im nahen Buchenwald des Ceppo. Darauf erreiche ich unbehelligt den Grat zwischen Ceppo und Belvedere. Da liegt es nun unter mir, das Tal des Monte d' Oro, eine grüne Wildnis gewaltiger, knorriger Buchen, in denen der Wind rauscht und heult, und darüber leuchten die Schneefelder und roten Wände des Monte d' Oro und der Punta di Migharella. Ein steiniger, in Buchenlaub verborgener Pfad führt in die Tiefe des Tales; es ist wohl derselbe, den Flender einst auf dem Heimweg von seiner Monte d' Oro-Tour gesucht und nicht gefunden hatte. Ich vertraue mich ihm nur kurze Zeit an, dann folge ich dem Gelüsten, unter der Kuppe des Ceppo durchzutraversieren und den nackten, zackigen Grat zu gewinnen, der direkt unter die Felsen der Migharella führt und in gewaltigen, unnahbaren Wänden, an denen nur da und dort noch die Buche zu haften vermag, ins Monte d' Oro-Tal abfällt. Wo die Stämme lichter stehen, tritt als Unterholz unsere Alpenerle ( Alnus suaveolens ) in korsischer Um-prägung, drüsenreicher, mit zackigerem Blatt auf, ist aber dem raschen Fortkommen ebenso hinderlich wie die großen, mosigen Felsblöcke, die überall herumliegen. Miniaturgärtchen eines violetten Crocus mit zierlichster, baumförmig verzweigter Zeichnung des äußern Blumenblattes stehen hier noch in voller Blüte, während tiefer, nahe der Paßhöhe von Vizzavona, ihre zarten Blumenleiber schon tot am Boden lagen. Bald ist der Grat wieder erreicht, und nun hebt ein lustiges Wandern an, immer nahe der Grathöhe am jenseitigen, zahmem Hang; bald folge ich einem kaum angedeuteten Ziegenpfad, bald klettere ich in den Felsen auf und ab. Wie der Grat sich mählich hebt, sinkt der Ceppo im Rückblick tiefer und tiefer, rückt die Migharella näher, und endlich in einem tiefen Grateinschnitt stehe ich ihren gewaltigen, wohl 400 m. fast senkrecht aufsteigenden roten Wänden und Couloirs fast gegenüber. Jede Vegetation ist dort verschwunden; nur roter, nackter Fels starrt dort dem Problemmacher entgegen. Es ist bei dem Problem geblieben, über diese Wände den Weg zum Gipfel zu suchen: Unvermerkt war die Zeit verstrichen, die Sonne schon hoch gestiegen. Meinen Freund Carabus hatte ich ganz vergessen; er war schon tief unten am Ceppo zurückgeblieben und hatte seither wohl viele hundert Steine um und um gewendet, um die seltene mediterrane Asida lepidoptera aufzustöbern und den flinken korsischen Laufkäfern ( Perçus spec .) nachzustellen. So entschließe ich mich zur Umkehr; doch vorher noch einen Blick in die Ferne: An den Wänden der Migharella vorbei liegt im Westen tief unter mir das Tal des Gravone, in das von der Paßhöhe die weiße Straße in großen Bogen hinuntereilt. Dort tief unten muß auch das andere Mundloch des Tunnels liegen, denn deutlich führt ein Schienenweg unter der Straße im kahlen Talboden über Brücken und Viadukte In Korsika.

bis zum nächsten Dorf Bocognano, das wieder im Kastanienwald verborgen ist. Und links und rechts schieben sich blaue Bergkulissen, immer niedriger werdend, das lange Tal hinaus vor, bis sie sich endlich im nebligen Dunst verlieren, da, wo der Golf von Ajaccio wohl blauen mag. Mir gerade gegenüber aber, wieder über Buchenwald, auf der andern Seite des Col di Vizzavona erhebt sich eine andere Felsenkrone, die Punta dell' Oriente, der Eckpfeiler am Paß jenes Bergkranzes, der, von diesem ausgehend, mit schimmernden Schneefeldern im Hintergrunde eines Tälchens mit dem Monte Renoso gipfelt. Deutlich ist dort tief unten die Mündung des Tals und Baches an der weißen Paßstraße ins Haupttal des Gravone zu sehen. In diesem Momente ahne ich noch nicht, daß diesen Tag noch dort drüben ich auf meinem ersten Hochgipfel Korsikas stehen sollte. Aus der Ferne kehrt der Blick wieder in die Nähe zurück: In schwarzer, gedrungener Masse wallt der Lariciowald aus dem Bergkessel unter mir an meinen Standort hinauf; grüne Buchen mischen sich zu oberst darunter; aber noch überholen diese andere schlanke Gesellen, dringen keck zwischen und auf die Felsen und attackieren gar die Migharella, um alsbald, zersplittert, zerfetzt an den unnahbaren Wänden abzuprallen. Ei wahrhaftig, sind das nicht Tannen, unsere Edeltanne, wie die Buche ein Gruß aus der Heimat?

Ich verlasse nun meinen Grat, wo nur Graspolster und Seggenrasen in Felsritzen nisten und merkwürdigerweise eine Kresse ( Barbarea rupicola ) goldgelbe Blütentrauben und saftige Blattbüschel aus ödem Gestein treibt. Tiefer finde ich auch wieder eine Wegspur, die zum Ceppo zurückleitet. Da und dort, wo eine Wasserader unter den Gratfelsen hervor-sickert, ist sie umsäumt von gelben Kreisen des Scharbockskrautes ( Fi-caria verna ), unserer Frühlingsblume, die hier größer, saftiger, zur wahren Bergpflanze geworden ist, wie die Butterblume ( Caltha palustris ), die sie begleitet. Und weiter führt der Pfad in ein Felsenlabyrinth, das in seiner Ausstattung mich glauben macht, daß ich im heimischen Jura mich befinde: Eine gewaltige Eibe beschattet das Felsentor; zersplittert hängt eine alte Weißtanne über dem Abgrund; Buchen in knorriger Verastung beschatten dunkle Grotten, wo Arabis alpina, Saxifraga Aïzoon und rotundifolia, hohe Farne am Felsen kleben und unsere Vogelbeere ( Sorbus Aucuparia ) hereinwinkt. Als ich dann den wundervollen Buchenwald, nun auf der andern, äußern Seite des Ceppo, quere, erinnert mich noch eine edle Pflanzengestalt an den Jura: Überall entfaltet sich in großen Stöcken die korsische Nießwurz ( Helleborus lividus ), für den Buchenwald hier ebenso charakteristisch wie unser Helleborus fœtidus für den Kalkstein des Jura, aber die korsische Pflanze ist größer, stattlicher, mit schön gezahntem Blatt; auch das Waldveilchen ( Viola sylvatica ) fehlt nicht, und ein Cyclamen ( C. repandum ) belebt das tote Buchenlaub. Schauen, Vergleichen, Erinnern lassen mich des Weges nicht achten, und auf einmal sehe ich mich hoch am Abhang über dem Gravone-tal mitten in einer Felsenheide. Weit weg bin ich noch vom Col, und drüben am andern Berghang winkt erst die im Buchenschatten aufwärtsstrebende Paßstraße. Das ist noch ein harter Abstieg zur heißen Mittagszeit durch alle die hohen Erikagebüsche, die Ginster, Wachholder, über Bachrunsen, Felsen hinunter bis zum Ufer der jugendlichen Gravone; dann ein neuer, kleiner Anstieg zur Straße und nun endlich ein Heim-wärtswenden im Buchenwald zur Paßhöhe hinauf. Dort sitzen meine zwei Gefährten richtig vereint hinter geleerten Schüsseln, und mit dem letzten Schluck korsischen Weines kredenzen sie mir das Willkommen; die Josephine hat mich dann aber doch nicht vergessen, und beim Nachtisch machen wir neue Pläne. Diesmal wollen wir auf der andern Seite des Col ausbrechen, und dem Entschluß folgt die Tat.

Wieder nimmt uns zuerst der Buchenwald auf, eine dunkle, feierliche Halle, getragen von hohen Säulen. Es sind wundervolle Bäume darunter, wie wir sie bei uns infolge intensivster Holzwirtschaft kaum mehr zu sehen bekommen. Hier hat vor allem das Holz als Brennstoff keinen Wert; sofern man solches benötigt, liefert es näher die Macchie; nur die schönsten Stämme, besonders der Lariciokiefer, lohnen, als Bauholz verarbeitet, den Transport zur Küste. Steil geht es aufwärts über dicken, glatten Laubteppich, fast im Dämmerschein, und tückisch verwickelt sich oft der Fuß zwischen im Laub halb vergrabene, bemooste Felsblöcke. Carabus ist schon wieder eifrig mit Steinumwenden beschäftigt, und triumphierend hebt er da einen gelbfleckigen, korsischen Feuersalamander in die Höhe, läßt dort eine zierliche Schnecke ( Tacheo-«ampylsea ) in einem andern Sacke verschwinden. Endlich lichtet sich der Wald; wir treten ins Freie, sind auf der Alp, und erreichen bald im Hintergrund eines Bergkessels die ersten korsischen Sennhütten. Noch ist kein Mensch, kein Tier hier oben am 29. Mai; noch alles tot, verlassen, die elenden Steinhaufen des Campo di Moro allein, umwuchert von Alpenerle und beschattet von Wetterbuchen. Rechts fliegt der Blick hinaus und hinunter ins weite Gravonetal; zur Linken bleibt er hangen an einem kahlen Kamm, der höher und höher hinaufzieht und dort an hohe Berge sich kettet. Dort hinan steigen wir an nackter, mit Steinen Ubersäeter Halde; lassen bald noch eine letzte Gruppe verwitterter Buchen bei etwa 1800 m. unter uns und folgen dann dem Grat, der gemächlich aufwärtszieht. Wir erreichen das erste korsische Schneefeld: Violetter Crocus ( C. minimus ) umsäumt es und unser alpine Gelbstern {Gagea Liottardiaber noch braun und blattlos durchstechen die letzten Astenden der Alpenerle den Schnee. Wir stürmen weiter einer noch von der Sonne begrüßten Felsenkrone entgegen, bald über Schnee, bald über nur noch kniehohe Erlenbüsche, alle noch braun und tot, bald über schlüpfrige, von Schmelzwasser triefende Seggenrasen, und nur zollhohe Polster der Plantago insularis, deren Leib noch viel schmächtiger ist als selbst jener unserer schon so reduzierten Alpenwegeriche. Tief aufatmend stehen wir endlich vor einer aus einer Mauer aufragenden Reihe klotziger Granittürme still. Welches ist der höchste? Noch sind wir im Streit darüber, so greift schon Rzewuski den scheinbar höchsten zur Linken, ich den gerade vor mir stehenden mittelsten an. Doch wie ich mich in die Scharte zwischen zwei Türmen hinaufgeschwungen habe, wie wechselt nun auf einmal das Bild: In grausig jähen Wänden und Schluchten fallen hier die Felsen ins tief, tief unten liegende Renoso-tal hinunter. An kleinen Vorsprüngen und Griffen schiebe ich mich mit Händen und Füßen schräg aufwärts; nur die überall vortretenden, rauhen Quarzkörner erleichtern das Haften. Da neigt sich die glatte Platte, die ich zum letzten Turmabsatz noch queren muß, bedenklich gegen den Abgrund zur Linken. Nur ein schmaler Riß zieht darüber hin zum Gipfelblock; diesen Weg allein ohne Hülfe und Sicherung zu gehen, ist zu gefährlich, und auch in Korsika gibt der Gescheitere nach. Zu guter Letzt tönt nun noch der Ruf des Siegers herüber, daß er die höchste Spitze gefunden und errungen habe. So krieche ich wieder zurück — aber ist es Aufregung oder Müdigkeit — auf einmal gerate-ich ins Rutschen; krampfhaft klammern sich Hände und Knie an den. Felsen an, und so gelange ich doch glücklich wieder in Reitsitz in meine Scharte hinunter. Eine Weile braucht es, bis ich mich von dem Ruck und dem Schrecken erholt habe und den Schaden besehen kann: Zerrissene Hosen, die Menge von Kratz- und Rißwunden an Händen und Beinen. Noch hole ich dann den Spazierstecken, der im Couloir neben, unter mir stecken geblieben, wieder zu mir herauf, traversiere dann za Freund Rzewuski herüber, und bald sitzen wir vereint auf dem glatt gefegten Gipfel, der für zwei gerade zur Not Raum bietet, und wie sich zeigt, die höchste Spitze der Punta dell'Oriente ( 2109 m ) darstellt-Ob vor uns schon jemand, außer einem Geißbuben etwa, von unserm ersten korsischen Hochgipfel die Aussicht genossen hat und seinen Blick bewundernd über das weite Bergland hat schweifen lassen und ruhen auf dem weißen Rund der Renosokette, die von unserm Standpunkt ausgeht und ein ganzes Tal umfaßt hält, und weiter auf den Monte Incudine, dem Amboß und letzten Schneegipfel nach Süden hin, und wieder zurückkehren lassen hinüber auf die stolzen Felsen des Monte d' Oro-und weiter irren nach Norden in das Berggewimmel des Monte Rotondo, des Monte Cinto und seiner Trabanten, verschwimmend im Rot des-Abendhimmels — wir wissen es heute noch nicht. Hier oben war und ist kein Platz und auch kein Material, ein Merkmal zu bauen; jeder nächste Sturm würde es auch in den Abgrund fegen, und so lassen wir zum Zeichen unseres Bergheils ein Soustück in eine Ritze fallen. Zum Andenken rupfe ich mir aus einer Spalte ein paar noch nicht zum Frühling erwachte Pflanzenpolster, die einer Saxifraga, einer Myosotis und Potentilla angehören müssen. Noch einen letzten Blick verlieren wir ins-dämmernde, weite Tal nach Bocognano hinunter und hinaus bis ans Meer und zur Rechten in den schwarzen, walderfüllten Kessel bis hinunter nach Vizzavona und Tattone. Und Carabus — er war unten geblieben und hatte weiter Steine umgewendet. Bei sinkendem Abend rennen wir den Kamm, den wir heraufgekommen, wieder hinunter, tasten uns durch den dunkelnden Wald, und bald erzählen wir Carabus die Geschichte-unserer ersten Hochtour auf Korsika. Josephine sitzt dabei und flickt eifrig an Hosen, die auch etwas davon wissen.

Der 30. Mai bricht mit einem wundervollen Morgen an, er soll der Ruhe gewidmet sein und kleinen Spaziergängen. Alle drei zusammen brechen wir auf, um nach Vizzavona hinunterzugehen — ob wir alle drei wieder zusammen heimkehren, ist jetzt schon die Frage. Der eine will photographieren, der andere Käfer suchen, der dritte Schmetterlinge fangen, alle wollen wir aber einmal den Wald von Pinus Laricio bewundern, der dort steht. Wir gehen am Wegerhaus vorüber, dem zweiter » In Korsika.

Haus, das auf dem einsamen Col zu finden ist, und erfreuen uns dort im Gärtchen der vollen Pracht des eben erblühten Apfel- und Birnbau-mes; nur der Kirschbaum hat schon verblüht und zeigt junge Frucht-ansätze.Von dort führt uns der alte Weg von der route nationale weg schnell den Buchenwald hinunter und hinüber gegen die Felsen des Monte d' Oro, dahin, wo der Bach munter und klar aus der Waldschlucht heraustritt in den weiten Bergkessel von Vizzavona. Diesen erfüllt nun unter der Buchengrenze ein weiter Forst großen und feierlichen Stiles ganz. Astlos und rein streben die gewaltigen Phot. A. Rzewnski.

Stämme in große Höhe, verbreiten dort ihre dünnen, schwarzen Kronen, durch die doch die Lichter fallen und auf dem Boden spielen, und durch die der blaue Himmel blickt und die roten Wände des Monte d' Oro. Adlerfarn deckt weithin den Waldboden und die Baumheide; Asphodeloswiesen bilden kleine Lichtungen. Unzählige Generationen von Föhrenzapfen liegen umher, größer zwar und mit glänzenderm Schild als jene unserer Föhre; mit dieser ist denn auch der Baum, die südliche Form ( Pinus Laricio v. Poiretiana ) der bis nach Österreich ausstrahlenden Schwarzkiefer am nächsten verwandt. Er gehört, majestätisch wie kaum eines unserer Nadelhölzer, zum Vegetationsbilde Korsikas wie die Arve und Lärche zu demjenigen der Alpen. Nur dem Bach entlang zieht sich noch ein schmaler Streif nordisch anmutender Weiden ( S. purpurea, nigricans, cinerea ) und Grauerlen, aber auch die korsische Alnus cordata mischt sich darunter. Aber gegenüber den Alpen muß der korsische Bergwald, mag er mit seinem geschlossenen Buchen- und Kiefernwald noch so sehr imponieren, an Reichtum zurückstehen. Erinnern wir uns nur an jenen einzigen Winkel, der in etwa gleicher Höhenlage von Klosters im Prättigau nach Serneus der Landquart nach sich hinunterzieht. Auch hier gibt es noch kraftvolle Buchen und Bergahorne bilden Gruppen und Laubdome, die in nichts den korsischen nachstehen. Spitzahorn, Ulmen, Eschen, Birke und Pappel, Weiden und Erlen fügen sich, in großen Massen vereinigt, ins Landschaftsbild, das dominiert wird vom stolzen Fichtenwald darüber, düster, schwarz, und nur, wo die Edeltanne auftritt und Lärchengruppen, leuchtet ein hellerer Schimmer daraus auf. Fichte, Lärche, Arve fehlen Korsika. Auch die Tierwelt ist noch spärlich vertreten; eine erste, ärmliche Frtthlingsfauna. War auf dem Plateau des Col noch alles tot, so beleben hier unten trotz Sonnenschein und Wärme nur ein paar Weißlinge ( Leucophasia Sinapis, Pieris Rapse, Napi ), einige gemeine Bläulinge ( Ly-caena Icarus, minima ) den stillen Wald und das Bachufer; einmal blitzt ein gelber Zitronenvogel auf ( Rhodocera Rhamniunser Perlmutterfalter ( Argynnis Latonia ) und wieder der Fuchs und das Waldbrettspiel spielen auf Blößen und am Waldrande. In den Alpen, in dem 400 bis 500 m. höher gelegenen Davos, mag da auch im holden Mai Schnee und Kälte den Winter noch so lange festhalten wollen, ist um diese Jahreszeit doch schon ein viel regeres Leben erwacht; da fliegen Ende Mai leicht schon ein paar Dutzend Schmetterlinge, um nur an diese Zeugen des Frühlings zu erinnern. Wie öde muß es hier noch vor wenig Wochen ausgesehen haben, als der Buchenwald noch nackt dastand; und gerne haben wir unserm Wirte geglaubt, der uns erzählte, daß im Winter der Schnee auf dem Col meterhoch liege, und daß er öfters genötigt worden sei, wenn er im April sein Haus habe beziehen wollen, erst große Schneemassen fortzuschaffen. Überall herrscht Stille, Schweigen im Walde, nicht einmal ein Eichhorn raschelt; auch dies fehlt Korsika. Doch hören wir nicht ein deutliches Grunzen, grunzt es da nicht drohend in nächster Nähe? raschelt es nicht im Laubwahrhaftig auch hier steht eine schwarze Sau dort unter den Lariciokiefern mit struppigem Borstenhaar und äugt zu uns hinüber und um sie wimmelt es von niedlichen, schwarzen Kobolden. Schnell hierher, Rzewuski, hier gilt es, eine Wildsau zu photographieren, eine korsische mit Familie; das gibt ein famoses Kabinettstück, ein Seitenstück zu Eggers Gemsen im Welschtobel. Und eifrig stürmt der Lichtbildner herbei, den Apparat immer schußbereit vorn in beiden Händen, und wo, wo, ist die stete Frage, und ein Grunzen die Antwort. Scharf wird sie und ihre Brut aufs Korn genommen — da wieder ein Rascheln, ein Grunzen, und fort eilt die Schaar und verschwindet. Darauf geht auch jeder von uns wieder seinen Geschäften nach; immer tiefer verlieren wir uns im Walde, und bald hat jeder des andern Spur verloren. Gegen Mittag ziehe ich wieder die Straße herauf, auf der wir einst in Regen gekommen waren. Es ist ein herrliches Wandern im frühlingsfrischen Walde; die Kiefern flüstern in den Wipfeln, leise duften die Cyclamen. Nun wieder im Buchenwald, alles still; Waldmeister steht am Wege, graziös nickt die Blütentraube des rundblattigen Steinbrech vom Felsen; grüne, moosüberpolsterte Blöcke liegen zwischen den Stämmen, doch hundert weiße Sternchen an fädlichem Stengel schweben darüber, ein reizender Teppich, gesponnen von der Arenaria balearica, zierlicher noch als jene unserer nordischen Linnaia borealis. Und dicht daneben ein stolzes Bild: Ein Baum, 6 bis 8 m. hoch, steht die Stechpalme im Unterholz; nach unten dicht verastet, weit ausladend wie eine vornehme Dame im Reifrock, und das dichte, grüne Hochzeitskleid übersäet mit einer Menge weißlich-rötlicher Blütentrauben, kennt man unser bescheidenes Sträuchlein nicht mehr. Brombeeren und Rosengehege sind noch grün; grün strebt am Waldrand der Attich, der Zwergholunder ( Sambucus Ebulus ) in dichten Scharen empor. In wenigen Wochen mag hier ein einziger Blütenjubel herrschen und das große Leben einziehen: Der Kaisermantel schwebt majestätisch über den Blutendolden; stolz wechselt die edle Pandora ( Argynnis Pandora ) über den Col herüber und hinüber und lockt die feurige Korsikanerin, die Argynnis Elisa; und belebt der korsische Satyrus Neomiris und Hospiton, der Papilier die Schutthalden. Heute schläft Pan und die Dryaden alle; heute läßt sich einsam träumen und wandern.

Die Mittagstafel vereinigt uns alle wieder. Rzewuski erzählt den aufhorchenden Gästen die Geschichte unserer Wildschweinjagd, und daß er ihnen die Alte samt den Jungen beinahe auf der Platte serviert hätte. Lächelnd steht der Wirt neben uns und meinte nur leise nebenbei, daß diese Schweinchen im Herbste, wenn sie erst hübsch dick geworden seien, von den Bauern wieder eingetrieben würden und vortreffliche Schinken lieferten. Es war mir aber auch aufgefallen, daß die Ferkelchen so schwarz und nicht, wie sie uns sonst von den Wildschweinen geschildert werden, so hübsch hellgestreift, gewesen waren — oder sollten die Babys der Sus scrofa meridionalis eine Ausnahme vom Naturgesetz machen? Die Naturgeschichte der Wildsau in Korsika ist uns ein dunkler Punkt geblieben.Fortsetzung folgt im nächsten Jahrbuch.

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