Sisha Pangma - Bemerkungen zu einer Tibet-Reise | Club Alpino Svizzero CAS
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Sisha Pangma - Bemerkungen zu einer Tibet-Reise

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Für die Römer bedeutete eine Expedition ein Feldzug in ein unbekanntes, wildes Land. Livius und Vergil gaben dem Wort cexpedire> den erweiterten Sinn des Ausfindigmachens und Enträtseins unter schwierigen Umständen. Die Reisen Sven Hedins, jene von Shipton und Tilman sowie die britische Expedition, anlässlich welcher 1953 der Mount Everest erstmals bestiegen wurde, um nur einige zu nennen, entsprachen diesem Begriff. Auch die erste Besteigung des Mount Everest ohne Flaschensauerstoff durch Reinhold Messner und Peter Habeler 1978 oder die Erstbegehung des Annapurna-Ostgrates durch Norbert Joos und Erhard Loretan 1984 waren Reisen ins Ungewisse. Expeditionen, die einen aussereuropäischen hohen Berg über eine längst bekannte Route versuchen, fehlt demgegenüber das Unbekannte. Sie sollten eigentlich als Ferienreisen mit erhöhtem Risiko apostrophiert werden. Diese Gedanken von Andreas Kubin, 1981 in der damals sehr lesbaren Zeitschrift (Alpinismus) formuliert, haben bei den (Expeditionsbergsteigern) kein Echo gefunden. Wieviel prestigereicher ist es doch, auf eine Expedition als auf eine Ferienreise zu fahren! Auch für die Anbieter von kommerziell durchgeführten Achttausender-Besteigungen ist eine sprachliche Abwertung ihrer angebotenen Ware umsatzschädigend, weil Bergsteiger ihre Tourenliste lieber im Rahmen einer Expedition als einer Ferienreise mit einem Achttausender garnieren wollen.

Die schweizerische Shisha-Pangma-Expedition, eine Ferienreise von wohlbestallten, berufstätigen Schweizer Bergsteigern - andere könnten sie sich gar nicht leisten - war keine kommerzielle Expedition und basierte auf der Initiative und Organisation von Markus Itten, einem Notar. Die übrigen Herren mittleren Alters waren drei Unternehmer, zwei Ärzte und zwei höhere Angestellte. Nur ein junger Walliser Bergführer fiel etwas aus diesem Rahmen.

Bergbesteigungen in China können nur mit Genehmigung und Organisation der Chinese Mountaineering Association (CMA) durchgeführt werden. Diese staatliche Organisation ist laut Selbstdarstellung um die Freundschaft mit Bergsteigern anderer Länder sowie um die Organisation des Unternehmens in China besorgt. Spätestens im Verlauf der Reise aber merkt man, dass es sich um eine recht erfolgreiche Institution zur höchstmöglichen finanziellen Ausbeutung nichtchinesischer Bergsteiger handelt. Dies fällt z.B. in Lhasa auf, wenn man als Gast des CMA für eine Übernachtung in einem drittklassigen Zimmer 240 Yuan ( 1 Yuan ist ca. 80 Rappen ) aufzuwenden hat, während Nichtbergsteiger, die ohne Hilfe des CMA reisen dürfen, für die gleiche Übernachtungsmöglichkeit 5 Yuan bezahlen. Diese Art von Gebührenordnung gilt auch für Fortbewegungsmittel, Löhne von chinesischen oder tibetischen Begleitpersonen, Besteigungsgebühren usw.

Wir verliessen Zürich am 20. August 1985 mit dem Ziel, den Shisha Pangma in Tibet zu besteigen. Der Shisha Pangma ist einer der niedrigsten oder der niedrigste der 14 Achttausender, je nachdem, welcher Vermessung man glaubt. Seine Höhe wurde bislang mit 8013 m angegeben, eine neuere chinesische Angabe lautet auf 8046 m. Der Shisha Pangma liegt als einziger Achttausender gänzlich in Tibet, ca. 10 km nördlich der tibetisch-nepalesischen Grenze. Der Gipfel wurde 1964 erstmals von einer chinesischen Grossexpedition erreicht und ist seither mehrfach bestiegen worden. Die Normalroute auf den Shisha Pangma gilt als leicht und wurde schon zumindest teilweise mit Ski begangen. Fritz Luchsinger, der Erstbesteiger des Lhotse, der noch 1980 im Alter von 59 Jahren auf den Dhaulagiri kletterte, ist 1982 am Shisha Pangma an einem Höhenödem verstorben. Doug Scott, der bedeutendste britische Höhenbergsteiger der letzten zehn Jahre und einer der ganz wenigen Briten, die dieses Spiel überlebt haben, hat 1982 mit Alex Maclntyre und Roger Baxter-Jones, welche beide inzwischen tödlich verunglückt sind, an der Südwand des Shisha Pangma im Alpinstil eine kühne und schwierige Route eröffnet.

Wir kamen am 29. August in Lhasa an. Auffallend waren die Anstrengungen der Chinesen, den Fremdenverkehr zu fördern: Viele Ruinen der in der Kulturrevolution zerstörten Klöster sind weggeräumt worden, im besonderen in Ganden, Gyantse, Shigatse und natürlich in Lhasa, den Hauptzentren des noch spärlichen Fremdenstroms. Neue Hotels werden gebaut, und das Warenangebot ist etwas freier. Der Reisende ärgert sich allerdings, wenn ihm der Zutritt zum Potala oder zum Stadttempel Yo-kang mit der Begründung verwehrt wird, man dürfe die Mönche nicht stören, während in Wirklichkeit chinesische Delegationen dort ungestört ihre Besichtigung durchführen wollen.

Die tibetische Landschaft entschädigte dann mit ihrer Weite des Raums und ihren Farben für alle Ärgerlichkeiten und auch für die strapaziöse Reise in klappernden, staubigen Bussen bzw. Jeeps über 800 km von Lhasa zum 5100 m hohen Basislager am Shisha Pangma. Dies ist eine Bequemlichkeit, die sonst nur noch am Mount Everest ebenfalls von Tibet her möglich ist. Zu allen andern Achttausendern muss mehrere Tage bis Wochen anmarschiert werden. Dieser Anreisemodus ist aber mit dem Nachteil ungenügender Höhenakklimatisierung behaftet, weshalb wir bei Tingri in 4000 m Höhe einen dreitägigen Zwischenhalt einschalteten und für Akklimatisationswanderungen bis 5000 m nützten. Tingri war bekanntlich der Durchgangsort der britischen Mount-Everest-Expeditionen der Zwischenkriegszeit und war ferner ein wichtiger Haltepunkt für die Yak-Karawanen, die Salz aus Tibet über den Nang Pala nach Nepal brachten und umgekehrt Reis und andere Handelswaren aus Nepal und Indien. Dort, wie an vielen anderen strategisch bedeutungsvollen Plätzen, findet sich heute ein starkes chinesisches Militärlager, wie überhaupt die Präsenz des chinesischen Militärs in grösseren tibetischen Siedlungen allgegenwärtig ist. Auch 20 Jahre nach Ausrufung der autonomen Region Tibet erhält der Reisende den Eindruck eines besetzten Landes.

Am 7. September langten wir schliesslich im Basislager auf 5100 m an. Zwei Tage später trafen Yaks mit ihren Treibern ein und transportierten das nötige Gepäck ins vorgeschobene Basislager auf 5900 m, welches nach einer zweitägigen Wanderung über weite Steppen und schliesslich Moränen eingerichtet wurde. Hier entschlossen sich Marcel Rüedi, Diego Wellig und ich sofort, einen Besteigungsversuch im reinen Alpinstil zu unternehmen. Natürlich waren seit dem Erreichen Lhasas und damit der Höhe von 3800 m, welche bereits eine gewisse Akklimatisation ermöglichte, erst 14 Tagen vergangen und damit die Akklimatisationsdauer für die Besteigung eines Achttausenders völlig ungenügend. Wir hatten jedoch einen gewissen Akklimatisationsvorteil durch Höhenaufenthalte vor der Tibetreise: Rüedi hatte im Frühsommer den zweithöchsten Berg der Welt, den K-2, bestiegen, Wellig, ein Berufsbergführer, war während des ganzen Sommers auf den Walliser Viertausendern tätig gewesen, und ich hatte während vier Wochen ein medizinisch-wissenschaftliches Programm in der Capanna Margherita auf 4600 m Höhe im Monte-Rosa-Massiv durchgeführt. Ob solche vorangegangene Höhenaufenthalte den Akklimatisationsprozess beschleunigen, ist zwar wissenschaftlich nicht schlüssig untersucht und dokumentiert, wird aber von den meisten Experten als sicher angenommen.

Besteigung im Alpinstil bedeutet Übertragen der in den Alpen üblichen Taktik auf den Himalaya, also Aufstieg in einem Zug ohne vorher errichtete Lager oder Fixseile und ohne einheimische Träger. Selbstverständlich wird dabei auch auf die Mitnahme von Sauerstoffgeräten verzichtet. Dieser Stil wird heute mehr und mehr von mobilen kleinen Bergsteigerteams praktiziert, obwohl Ansätze dafür schon bei der ersten Besteigung des Cho Oyu 1954 durch Herbert Tichys Gruppe sowie 1957 am Broad Peak durch Hermann Buhl und seine drei Kameraden feststellbar waren. In reiner Form wurde der Alpinstil an den Achttausendern erstmals durch Messner und Habeler 1975 bei der Besteigung des Gasherbrum I in Karakorum praktiziert. Die Vorteile dieses Stils sind Eleganz, Schnelligkeit, Mobilität, Fairness, geringe Kosten und wenig Umweltbelastung. Den zusätzlichen Risiken der nicht bestehenden Lagerkette, der knappen Ausrüstung und der fehlenden Sauerstoffgeräte stehen dabei geringere objektive Gefahren wie Eislawinen, Wetterumsturz usw. infolge kürzeren Verweilens in der Gefahrenzone gegenüber.

Am 11. und 12. September stiegen wir mit Ski und schweren Rucksäcken durch einige Spaltenzonen bis 6500 m auf. Das mitgeführte Zelt wurde im Schutze einiger Seraks aufgestellt und dort biwakiert. In der Nacht fiel wenig Schnee, und der Sturm zerrte an unserem Zelt. Stundenlang lag ich wach und fürchtete einen Wettersturz und damit das Ende unseres Versuches. Am nächsten Tag klarte es aber überraschend schnell auf. Nach einem Aufstieg durch einen langen, in der Mittagshitze sehr heissen Korridor, immer noch mit Ski, erreichten wir die Höhe von 7100 m und errichteten zum letzten Mal ein Biwak. Ich war finster entschlossen, jetzt bis zum Gipfel zu gehen, da dieser Aufstieg schon 1981 bei meinem ersten Besteigungsversuch eine wüste Schinderei gewesen war und ich ihn unter keinen Umständen noch ein drittes Mal machen wollte. Für den nächsten Tag planten wir die Gipfelbesteigung. Die Vorbereitungen bestanden in erster Linie in stundenlangem Schmelzen von Schnee zur Gewinnung von Trinkwasser. Dies ist nötig, da der Flüssigkeitsbedarf in diesen Höhen durch die verstärkte und vertiefte Atmung auf mehrere Liter pro 24 Stunden gesteigert ist. Die Einatmungsluft ist nämlich sehr trocken und wird in den Lungenbläschen mit Wasserdampf gesättigt, welcher dann bei der Ausatmung verlorengeht. Bergsteiger haben dementsprechend gelernt, ihren Flüssigkeitshaushalt in der Höhe trotz mangelndem Durstgefühl und mühsamer Zubereitung von Trinkwaser einigermassen im Gleichgewicht zu halten. Unsere übrige Diät war sehr einfach: Schwarzbrot, Speck und rohe Knoblauchzehen, eine von Marcel Rüedi kreierte kulinarische Mischung.

Der Aufbruch am 14. September erfolgte noch in der Dunkelheit um 5.30 Uhr morgens. Alles irgendwie entbehrliche Gepäck blieb zwecks Gewichtsersparnis auf den letzten 950 Höhenmetern zurück. Auch die Ski wurden beim Zelt steckengelassen, da das Gipfelgelände zu lawinengefährlich erschien. Nach zwei Stunden Aufstieg in hartem Lawinenschnee erreichten wir auf 7400 m jenen Platz, an dem die meisten früheren Expeditionen ihr letztes Hochlager eingerichtet hatten, um die letzte Etappe zu verkürzen. 950 m Aufstieg bedeuten in diesen extremen Höhen eine sehr lange und schwierig zu bewältigende Etappe. Hier hatte 1981 für mich der Gipfelgang im Monsunsturm geendet. In der Morgensonne weitete sich der Blick über das tibetische Hügelhochland wie auch nach Osten ins Sherpaland mit den Bergriesen Mount Everest, Lhotse, Makalu und Cho Oyu. Das weitere Terrain bis zu einer Höhe von 7800 m war klettertechnisch wenig anspruchsvoll und führte links (östlich) von einem Grat über triebschneebeladene, lawinengefährliche Flanken. Diese Hänge waren uns von Beschreibungen früherer Besteiger her bekannt, und deswegen wurde nach Möglichkeit auf die Felsen des erwähnten Grates ausgewichen. Trotzdem mussten wir während vieler Stunden knietief bis hüfttief und manchmal sogar brusttief spuren. Hier wurde das Höhenbergsteigen zum Spiel der Leiden mit quälend langsamem Fortkommen. Nur gelegentlich wanderte der Blick noch über den immer weiter werdenden Horizont hinauf zum Grat.

Ungetrübt aber war die Freude der Zurückgebliebenen nicht, da ihnen selbst der Aufstieg noch bevorstand und drei leistungsstarke Kameraden fehlen würden. So entwickelte sich eine Diskussion über die Taktik des weiteren Vorgehens, Marcels und meine Abreise, sowie den späteren Gesamtabreisetermin. Diese Diskussion wurde am nächsten Tag durch Schneefälle beendet, welche die gesamte Gruppe zum Abstieg ins Basislager veranlasste. Hier verliessen Marcel und ich die anderen, um nach Europa zurückzukehren. Nach drei Tagen Schneefall stieg die verbliebene Gruppe erneut ins vorgeschobene Basislager und dann innert zweier weiterer Tage zum obersten Lager auf. Der starke Schneefall und einige Lawinen hatten das zurückgelassene Zelt zugedeckt, so dass es unmöglich war, Zelt, Schlafsäcke und weitere Ausrüstungsgegenstände zu finden. Deswegen kehrte die Spitzengruppe um. In der folgenden Diskussion im vorgeschobenen Basislager wurde beschlossen, die Expedition abzubrechen.

Ich habe seit 1972 zehn Himalayareisen unternommen, von denen einige Expeditionen im besten Sinne des Wortes waren. In diesen Jahren habe ich eine Änderung im Stil dieser Unternehmungen erlebt, und dies nicht nur in bezug auf die alpinistische Taktik. Die Tiroler Manaslu-Expedition 1972, welche die Südwand des 8156 m hohen Manaslu erstmals erkundete und durchstieg, war eine Reise ins Ungewisse: Der Anmarsch führte durch ein unbekanntes Hochtal, niemand wusste, wie die Wand aussah und ob sie überhaupt erkletterbar war - die Expeditionsmannschaft erforschte somit das Gebiet ihrer Tätigkeit. Die Gruppe war eine echte Gruppe, die harmonisch funktionierte, nicht zuletzt, weil sie sich aus jungen Bergsteigern zusammensetzte, die schon zuvor miteinander geklettert waren. Im Gegensatz dazu war die Route auf den Shisha Pangma aus Beschreibungen und Photos bestens bekannt. Die Bergsteiger einschliesslich mir waren nicht mehr die unbedachten jungen Abenteurer, sondern etablierte Herren, die ihre Tourenliste um einen oder einen weiteren Achttausender ergänzen wollten. Es war, wie dies auch bei andern Unternehmen der letzten Jahre auffällt, eine eher zusammengewürfelte Gruppe von Einzelwesen, deren individuelles Hauptziel das persönliche Erreichen des Gipfels war. Trotz der grossen Freude über den perfekten Tag des Gipfelgangs stimmen mich diese Feststellungen etwas wehmütig. Der Himalaya ist weitgehend erforscht, echte Expeditionen sind nur noch in kleinen, gut funktionierenden, schlagkräftigen Gruppen in den von Bonatti angedeuteten und von Messner und anderen betretenen Grenzbereichen möglich. Diese werden auch in Zukunft für die meisten Bergsteiger unerreichbar und unbetretbar bleiben.

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