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Warum gehen wir in die Berge ?

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H. Frick-Lochmann ( Sektion Uto ).

Von Wenn wir alljährlich, sobald der Sommer ins Land kommt, die ungezählten und von Jahr zu Jahr wachsenden Scharen sehen, die sich aufmachen, ihren Beruf, ihre Sorgen abwerfen und in die Berge pilgern, wenn wir bemerken, wie sich dieselben zusammensetzen aus Reichen und Armen, aus Hohen und Niedrigen, aus Gebildeten und Ungebildeten, so drängen sich uns wohl unwillkürlich*die Fragen auf: Was ist es, das Leute von den verschiedensten Ständen, Berufsarten und Charakteren, von den divergierendsten Lebensanschauungen und Gewohnheiten nach diesem gleichen Ziele hinzieht? Was ist es, das diese Menschen bestimmt, die Bequemlichkeiten ihres alltäglichen Lebens zu verlassen und sich sogar Entbehrungen und Strapazen aufzuerlegen? Was läßt sie auch die Furcht vor Unglücksfällen, wie sie ja leider jedes Jahr in den Alpen vorkommen, hintansetzen? Mit einem Wort: Was suchen diese Leute in den Bergen? Und was finden sie daselbst? Auf den ersten Blick mag es wohl scheinen, das seien gar einfache Fragen und die Antwort darauf mit ein paar Worten zu geben, und doch glaube ich, es möge sich wohl lohnen, etwas näher auf dieselben einzutreten, sie etwas einläßlicher zu erörtern.

Wenn wir die Frage: Warum gehen wir in die Berge? an ein Dutzend verschiedene Personen richten, so erhalten wir wohl ebenso viele verschiedene Antworten. Für die Wissenschaft, entgegnet uns der kühne Forscher, der im Hochgebirge eine Werkstätte der ewig schaffenden Natur oder ein aufgeschlagenes Buch über längst vergangene Jahrtausende unseres Erdballes erkennt. Fürs Vaterland, wird uns der Militär sagen, der alle die Pässe, alle die Schlupfwinkel aufsucht, deren genaue Kenntnis uns einst bei der Verteidigung unserer Freiheit zu gute kommen soll. Zur Erholung, sprechen alle diejenigen, deren Nervensystem vom geräuschvollen Treiben der Großstädte erschüttert ist, oder deren Gesundheit im harten Kampfe ums Dasein oder auch durch Genußsucht und unver- nünftigen Lebenswandel gelitten hat. Als Sportsmann, antwortet uns der Bergfex, dessen höchster Ehrgeiz es ist, in möglichst kurzer Zeit die denkbar „ strengsteil " und gefahrvollsten Gipfel und Pässe „ gemacht " zu haben. Den Maler, dessen Pinsel uns die schäumenden Wogen eines Bergbaches, dio blumigen Triften einer lauschigen Alp, oder den im Abendscheine leuchtenden Firn vor Augen zaubert, zieht seine Kunst hinauf in die Berge. Und unsere Führer und Träger? Sie gehen fürs tägliche Brot, sie führt ihr Beruf in jene unwirtlichen Höhen, und harte Arbeit ist es wohl meistens, die sie da leisten müssen. Geraten wir aber mit unserer Frage an einen Skeptiker, so wird er uns antworten: Aus Mode pilgert die Menschheit heutzutage ins Gebirge, aus einer Mode, die wieder vergehen wird, wie sie gekommen ist.

Alle diese Antworten, und es gäbe deren noch viele, haben unzweifelhaft ihre Berechtigung. Welch enorme Schätze hat nicht die Wissenschaft aus den Bergen zu Tage gefördert! Aus den Faltungen der Gebirge erschloß sich ihr der Bau unserer Erdrinde, die Einschnitte der Thäler und die Becken der Seen zeigten ihr die Jahrtausende erfordernde, aber stetig fortschreitende Arbeit der Gewässer, die in den Felsen gefundenen versteinerten Pflanzen und Tiere erlaubten ihr die weitgehendsten Schlüsse über Zeiten, aSs denen wir sonst keinerlei Kunde besitzen. Und wie manche Entdeckung über atmosphärische und meteorologische Verhältnisse haben wir nicht zu verzeichnen, seit wir auf den Höhen der Berge Beobachtungsstationen einrichten können. Auch der Geschichtsforscher und der Ethnologe finden in den Bergen reiche Gelegenheit zum Studium. Die Geschichte der Bergvölker und ihr ganzes Dasein zeigen in reichem Maße den Einfluß der klimatischen und sonstigen besondern Verhältnisse, welche ihre Entwicklung bedingt haben. Nirgends auch finden wir einen größern Schatz von Mythen und Sagen, als bei den Bewohnern der Gebirge, weil eben hier die Natur und ihr Wirken mehr als anderswo den Sinn des Mensehen auf das Geheimnisvolle, Wunderbare hinlenken. Für den Botaniker sind die Alpen ebenfalls von höchstem Interesse. Sie illustrieren aufs glänzendste den Satz, daß veränderten Lebensbedingungen auch veränderte Lebenserscheinungen entsprechen, sie beweisen aufs schlagendste die Lehre vom Anpassungsvermögen der Pflanzen. Wahrlich, es muß ein herrliches Gefühl sein für unsere Männer der Wissenschaft, wenn sie hinausziehen mit ihren Schülern, hinauf in die Berge, um ihnen das im Hörsaal Gesagte am ewig schaffenden Webstuhle der Natur ad oculos zu demonstrieren. Gewiß, das so Gelernte wird nie wieder vergessen und spornt Lehrer und Schüler zu fernerem freudigen Schaffen an!

Und der Offizier, der berufen ist, in schwerer Zeit sich an die Spitze seiner Mitbürger zu stellen und dieselben zum Kampfe zu führen für die Unabhängigkeit des Vaterlandes, was bieten ihm unsere Berge?

Warum gehen wir in die Berge22,r> Ihn wird jeder Paß, den er rekognosziert, an die Kämpfe bei Morgarten, bei Giornico, und an jenen denkwürdigen Zug Suworows erinnern, jeder See, dessen Gestade er betritt, jeder Hügel, den er besteigt, an die Thaten unserer Vorfahren bei Sempach, Grandson, Murten u. s. w. mahnen, und wenn er von einer Höhe hinabschaut auf lachende Fluren und grüne Gelände, auf friedliche Dörfer und freundliche Städte, so wird sein Herz höher schlagen und es werden jener Mut und jene Heimatliebe seine Brust schwellen, welche unsere Väter beseelten und sie so Großes vollbringen ließen. Ja, auch im Dienste des Vaterlandes ist es schön, in die Berge zu ziehen.

Die Zahl derjenigen, die im Gebirge Genesung und Erholung suehen, ist ungemein groß, sind ja auch die mannigfachen wirklichen und eingebildeten Leiden unserer Generation geradezu Legion. Wer möchte sie alle nennen, die heilkräftigen Quellen, deren innerlicher oder äußerlicher oder gar beidseitiger Gebrauch auf die verschiedensten Gebrechen von wohlthätigem Einflüsse ist oder wenigstens sein soll? Wer ist im stände, alle die unzähligen Kurorte im Gedächtnisse zu behalten, wo frische Alpenluft, gepaart mit entsprechender Diät und Bewegung, eingefallene blasse Wangen voll und rot, sieche Körper wieder kräftig und abgespannte Geister wieder lebensfroh machen sollen? Wie mancher erinnert sich zeitlebens dankbar des Aufenthaltes im stillen Alpenthale, der ihm die durch schwere Krankheit zerrütteten Körper- oder Geisteskräfte neu geschenkt hat. Wie mancher verdankt seine Gesundheit, ja sein Leben jenen geheimnisvollen Kräften, welche die allgütige Mutter Natur, welche der Schöpfer in das Wasser einer Quelle gelegt hat. Wohl nur derjenige vermag das alles nach Verdienst zu schätzen, der selbst einmal in herrlicher Gebirgsnatur von schwerem Leiden Genesung gefunden hat.

Eine Art, in die Berge zu gehen, welche häufig dem heftigsten Widerspruch begegnet, ist der eigentliche Bergsport, die sogenannte Pexerei; und doch, wer wollte es mit gutem Gewissen wagen, den Stab darüber zu brechen? Der Sport im allgemeinen hat seinen tieferen Grund teils im Verlangen nach einem Gegengewicht zu einseitiger entnervender Berufsarbeit, teils in dem in jedem Menschen schlummernden Gefühl des Ehrgeizes. Er ersetzt in dieser Hinsicht der Gegenwart die Waffenspiele des Altertums und des Mittelalters und kann deshalb, wenn vernünftig betrieben, von keinem Verständigen verdammt werden. Wir finden allerlei Sport, hauptsächlich in Städten und großen gewerbe- und industriereichen Ortschaften, wo eben das Bedürfnis nach einem solchen Gegengewicht viel stärker ist als auf dem Lande. Was nun den Bergsport im speciellen betrifft, so ist er unbedingt von allen Sportarten der edelste, förderndste und genußreichste; denn er befriedigt Körper und Geist zugleich, indem er beide zugleich in Anspruch nimmt. Einen ganz besondern Vorzug hat das Bergsteigen vor andern Sportarten dadurch, daß es seinen Lohn in sich selbst trägt, und nicht wie das Turnen, Schießen, Radfahren, Reiten, Rudern u. s. w. des Wettbewerbes mit Siegern und Besiegten, mit Diplomen und Preisen bedarf, um seine Anhänger sich zu erhalten und deren neue zu gewinnen. Kein Sport aber erfährt, wie schon bemerkt, mehr Anfechtung, als eben der Bergsport, und zwar namentlich unter Hinweis auf die vielen Unglücksfälle im Gebirge mit einer gewissen Berechtigung. Wenn wir aber die ungeheure Zahl der Bergsteiger mit der Zahl der jährlichen Katastrophen vergleichen, wenn wir bedenken, daß Unglücksfälle im Gebirge von den Zeitungen unter einer besondern Rubrik sorgfältig registriert werden, was sonst bei keinem andern Sport geschieht, wenn wir ferner diejenigen Fälle in Abzug bringen, wo total Ungeübte sich in unverantwortlichster Weise in Gefahr begeben, so werden wir finden, daß die Opfer des Bergsports verhältnismäßig zur Menge der Bergreisenden ganz minime sind und kaum in Betracht kommen können. Für den bildenden Künstler sind die Alpen eine geradezu unerschöpfliche Fundgrube, und zwar nicht nur für den Landschafter, sondern auch für die Portrait-, Genre-, Tier- und Blumenmalerei. Wer kennt sie nicht, die urwüchsigen, aus dem frischen, vollen Leben gegriffenen Bilder eines Defregger? Wessen Herz hätte sich nicht schon erfreut an dem köstlichen Humor seines „ Salontirolers ", an dem trauten Stillleben des „ Besuchs auf der Alm ", an der kecken, fröhlichen „ Aufforderung zum TanzWer hat sie nicht schon bewundert, die herrlichen Gebirgslandschaften eines Stephan, eines Calarne, die gemütvollen Volksscenen eines Rafaël Ritz! und die Tierstücke unseres Koller, vor allem seine Gotthardpost! Wem ginge nicht das Herz auf beim Anblicke der prächtigen Charakterköpfe auf den Fresken Stückelbergs in der Tellskapelle! Welche Kraft und Originalität offenbart sich in solchen Bildern; kein Wunder, wenn die Berge auch den Künstler immer und immer wieder anziehen! Auch der Stahlstiche eines Huber wollen wir nicht vergessen, die ja, man darf fast sagen, ein Gemeingut unseres Volkes geworden sind. Und wem fiele bei diesem Kapitel die Photographie nicht ein? sie, die uns ermöglicht, auch vom unzugänglichsten Gipfel aus in allerkürzester Zeit ein getreues Abbild der empfangenen Eindrücke zu gewinnen. Wir alle haben es ja schon oft erfahren, wie kräftig das gesprochene Wort durch Vorweisen von Photographien unterstützt wird, wie viel verständlicher und anhaltender der Vortrag, die Beschreibung wirken, wenn ihnen dieses Hülfsmittel zu Gebote steht. Hieher gehören wohl auch die Kartographie und die Konstruktion von Reliefs, worin sich unser Vaterland von jeher hervorgethan hat. Trotz der teilweise ganz enormen Terrainschwierigkeiten steht die Kartographie bei uns in höchster Blüte und hat keinen Vergleich zu scheuen; ja, man möchte sogar behaupten, daß die Ungunst der äußern Verhältnisse geradezu zu deren Überwindung angespornt habe. Die herrlichen Reliefs unserer Topographen Imfeid und Simon hat gewiß schon jeder Clubist gesehen und bewundert. Den kleinsten Anteil am Genüsse, dagegen den größten an Mühe und Arbeit beim Bergsteigen haben unsere Führer- und Träger, denn sie besuchen die Berge, um ihr Brot zu verdienen. Und doch, wer möchte sagen, daß sie gar keinen Lohn außer dem der klingenden Münze davontragen? Es ist ganz gewiß, daß der rechte Führer, jener im Kampf mit den Riesen des Hochgebirges gestählte und erfahrene Gletschermann, seine Arbeit nicht allein wegen des baren Lohnes verrichtet; denn wer vermöchte seine Hingebung, seine Treue, oft bis zum Tode, mit Geld hinreichend zu belohnen? Ich möchte nicht unterlassen, hier einige Urteile ttber Führer von seiten eines der berufensten Fachmänner, nämlich von Eduard Whymper, anzuführen. Derselbe sagt z.B. von Michel Auguste Croz: „ Er befand sich am wohlsten, wenn er seine Kräfte aufs äußerste anstrengte. Bloß wenn er sich über den Kreis der gewöhnlichen Sterblichen erhoben hatte, wenn er seine herrliche Kraft in Anwendung bringen und seine unvergleichliche Kenntnis von Schnee und Eis verwerten konnte, ließ sich von ihm sagen, daß er wahrhaft glücklich sei. Er wurde nie stumpf und arbeitete nie mürrisch, man brauchte ihn nicht anzutreiben und ihm nicht zweimal dasselbe zu sagen. " Solche Männer sind nicht gewöhnlich, und wer sie kennen lernt, muß sie hochachten. Über den berühmten Melchior Anderegg von Meiringen urteilt Whymper folgendermaßen: „ Er bewährte eine seltene Gewandtheit, einen unerschütterlichen Mut und, einen bewunderungswürdigen Charakter. Seine Waffen begleitet ein unwandelbarer Erfolg. Ich glaube nicht, daß die Eeisenden, die er ftthrte, jemals ein Unfall getroffen hat. Gleich seinem Freunde Christian Almer kann er ein sicherer Mann genannt werden, nnd das ist der schönste Ehrenname, der sich einem Führer beilegen läßt. " Von Croz und dem letzteren wird anläßlich einer gemeinschaftlichen Tour bemerkt: „ Die Vereinigung von Croz und Almer war eine vortreffliche. Beide besaßen eine ungewöhnliche Kraft und Thätigkeit, und ihr Mut, wie ihr Wisisen, war ebenfalls zweifellos. Almer ließ sich nie die Laune verderben und war immer thätig und zuvorkommend, ein kühner und zugleich vorsichtiger Mann. Was ihm an Feuer und Schwung fehlte, das ersetzte Croz, der seinerseits durch Almer im Zügel gehalten wurde. Mit Freuden erinnere ich mich, wie sie zusammen arbeiteten, und wie jeder von dem andern sagte, daß er ihn so lieb habe, weil er so tüchtig sei.Wenn wir solche Urteile hören, wenn wir uns ferner erinnern an alle jene redlichen Männer, welche in treuer Fürsorge für die ihnen anvertrauten Touristen ihr Leben in die Schanze geschlagen haben, einen Bohren, einen Maquignaz, einen Bennen, einen Carrel u. v. a., so müssen wir unbedingt zum Schlüsse kommen: Solche Leute steigen nicht nur dem Verdienst zu Liebe auf die Berge, und sie finden da noch etwas anderes als nur die Führertaxe.

Aber noch mehr Menschen gehen ins Gebirge, um daselbst ihren Unterhalt zu verdienen. Das sind die Sennen, die Holzer, die Strahler und die Gemsjäger, und ihr klingender Lohn ist noch bedeutend geringer als derjenige der Führer und Träger. Auch den meisten unter ihnen bieten die Berge noch anderweitige Befriedigung. Wie durchzuckt ein freudiger Schreck den Strahler, der ein besonders schönes oder seltenes Stück gefunden hat, und wie blitzt erst das Auge des Gemsjägers, wenn er den schnellen Grattieren auf der Spur ist. Ha, das ist eine ganz andere Jagd, als diejenige in der Ebene, wo man stundenlang auf dem Anstände steht, um ein armselig Häslein oder Reh oder auch gar nichts zu schießen, oder wo die armen Tiere dem Jäger scharenweise vors Rohr getrieben werden, so daß er nur loszudrücken braucht, um seiner Beute sicher zu sein. Die Gemsjagd erfordert Kraft, Mut und Ausdauer, Kühnheit und Gewandtheit, ein scharfes Auge und eine sichere Hand. Hier gilt es in Wahrheit, die klugen Tiere zu überlisten und sie in ihren Schlupfwinkeln zu überraschen.

Die Menschheit pilgert aus Mode auf die Berge, hat uns ein Spötter gesagt. Hat dieser Satz wirklich seine Berechtigung? fragen wir uns, und wir müssen leider mit ja antworten. Wenn wir etwa in der Hochsaison einen jener stark frequentierten Höhenkurorte besuchen, oder mit der Eisenbahn auf einen unserer beschienten Gipfel fahren und uns da das mitreisende oder daselbst sich aufhaltende Publikum ein wenig genauer ansehen, so werden wir darunter Physiognomien finden, und zwar nicht wenige, welche mit einer Gleichgültigkeit in die herrliche Gottesnatur hinausschauen, als wären sie zu Hause an ihrer gewohnten Beschäftigung, oder als sähen sie auf eine langgestreckte Pappelallee oder gar auf die Lüneburger Heide hinaus. Wieder andere lesen so eifrig in ihrem Bädecker, daß sie kein Auge mehr für alle die sie umgebende Herrlichkeit haben. Hätten wir Gelegenheit, solche Menschen nachher über ihre Alpenreise zu befragen, so wüßten sie uns wohl zu sagen, in welchem Hôtel die Table d' hôte am besten, wo etwa allerlei Unterhaltung zu haben gewesen und was die ganze Reise bei Heller und Pfennig gekostet habe. Über das herrliche Stück Erde aber, das sie eben gleichsam mit geschlossenen Augen ohne Interesse durchmessen haben, über die Menschen, die dasselbe bewohnen, über deren Sitten und Gebräuche wüßten sie nichts zu berichten. Und woher kommt das? Wie ist das möglich? fragen wir. Ein altes Wort sagt: Jeder rechte Genuß muß erkämpft werden. Kehren wir dasselbe um, so heißt es: Was nicht erkämpft wird, kann niemals ein rechter Genuß sein. Wo an die Stelle des Führers der Schaffner, an die Stelle des Trägers der Kellner tritt, wo die Beine durch die Lokomotive, der Saumpfad und sogar das Schneefeld und Felsband durch den Schienenstrang ersetzt werden, wo es anstatt Kraft und Ausdauer, Übung und Geschicklichkeit nur eines wohl- gespickten Geldbeutels bedarf, um das Ziel zu erreichen, da wird das Bergsteigen seinem Zweck entfremdet, da artet es aus, da sinkt es hinunter in die Reihe der vielen Zerstreuungen der Neuzeit, da hat unser Skeptiker recht; da wird es zur Mode, die wieder vergehen wird, wie sie gekommen ist.

Haben wir bis jetzt mehr diejenigen Arten der Berggängerei angeführt und betrachtet, welche einen bestimmten für jedermann klar am Tag liegenden Zweck verfolgen, so fragen wir uns: Giebt es nicht noch andere Gründe, welche die Menschen veranlassen, in die Berge zu ziehen, Gründe, welche auch bei den meisten der bis jetzt angeführten Species mitwirken? Wenn wir unsere Alpenvereine ansehen, welche sich von Jahr zu Jahr zu schönerer Blüte entfalten und immer weitere Kreise in sich schließen, so werden wir finden, daß sich dieselben nur zum kleinem Teile aus Männern der Wissenschaft, Militärs, Künstlern u. s. w. rekrutieren, daß sie vielmehr ihre Mitglieder aus allen Schichten der Bevölkerung, aus allen Berufsarten heranziehen und dieselben über politische, persönliche und materielle Interessen hinweg ihrem Verbände einfügen. Es geht gerade aus der Geschichte des S.A.C. unzweifelhaft hervor, daß derselbe nicht speciell zu wissenschaftlichen Zwecken gegründet wurde, obschon es ja größtenteils Männer der Wissenschaft sind, welche an dessen Gründung den hervorragendsten Anteil haben. Ebenso wenig sind unsere Alpenvereine lediglich Sportvereine, denn sie nehmen jeden als Mitglied auf, der seine Liebe zur Gebirgsnatur auf irgend eine Weise dokumentiert. Die Liebe zur Gebirgsnatur, ja, sie ist es eben, welche den Alpenvereinen sowohl, als den Besuchern der Berge überhaupt das größte Kontingent zuführt. Sie beseelt unsere Forscher, Klinstier, Sports-männer, Militärs u. s. w., welche im Gebirge ihr Arbeitsfeld suchen, aber auch alle diejenigen, welche ohne bestimmten Zweck, so oft sie können, ihre Schritte unsern herrlichen Bergen zulenken, welche deren Besteigung und Erforschung als den schönsten Genuß schätzen, der sich ihnen bieten kann. Ich möchte diese Art der Alpinistik die ideale nennen, eben weil sie keines äußern Antriebes bedarf, weil sie sich selbst genügt, weil sie Mittel und Zweck zu gleicher Zeit ist. Sehen wir nun zu, wie wir uns diesen Zug nach den Höhen, diese Liebe zur Gebirgsnatur psychologisch erklären können. Schon in grauer Vorzeit hatten die Berge für den Menschen ihre besondere Bedeutung, und die Phantasie umgab dieselben gern mit einem Scheine des Mystischen, Wunderbaren. Wir alle erinnern uns der Sage vom Atlas, die denselben das Himmelsgewölbe tragen läßt, vom Olympos, wo die Götter thronen und die Lose der Sterblichen wägen. Wir alle kennen die Geschichte des Moses, der die Inspiration zu seinem Gesetze auf dem Berge Sinai empfing, und der als Sterbender vom Berge Nebo herab noch einen Blick thun durfte in das gelobte Land, in das er sein Volk geführt hatte. Auf Berge und Hügel baute man im Mittelalter Burgen und Schlösser, von denen stolze Geschlechter auf das ihnen untergebene Land hinabblickten, Kirchen und Kapellen, welche das gläubige Volk zu sich hinaufriefen zur Andacht. Aber das eigentliche Hochgebirge blieb gar lange Zeit in den Schleier des Geheimnisses gehüllt. Wohl führten schon im Mittelalter einzelne Saumpfade über die Alpen, aber es war ein lebensgefährliches Wagnis, dieselben zu begehen, und obschon ja gerade in jener Zeit persönlicher Mut, persönliche Tapferkeit, Körperstärke und Ausdauer im Ertragen von Strapazen viel mehr geschätzt und auch mehr vorhanden waren als heutzutage, so fiel es doch niemandem ein, jene Eigenschaften in der Besteigung des Hochgebirges zu bethätigen. Und warum das? Wohl hauptsächlich deshalb, weil dieselben unter den damaligen Lebensbedingungen so wie so mehr als genug näher liegende Gelegenheiten der Übung und Bethätigung hatten. In den zahlreichen Kriegen früherer Zeit kamen alle die genannten persönlichen Tugenden zu vollster Entfaltung, aber auch in Jahren des Friedens gab es Anlaß genug, körperliche Gewandtheit und Stärke zu brauchen und zu zeigen, sei es beim fröhlichen Turniere, sei es im Kampfe mit wilden Tieren, oder auch bei gewöhnlicher beruflicher Reise im flachen Lande und bei vielen andern Dingen. Ganz anders heutzutage. Abgesehen davon, daß in der Gegenwart Kriege viel seltener und von kürzerer Dauer sind als früher, ist es heute nicht mehr die persönliche Tapferkeit, welche entscheidet. Turniere haben wir auch keine mehr, ebensowenig wilde Tiere, und wenn wir eine Reise machen wollen, so setzen wir uns auf die Eisenbahn, die uns an den gewünschten Ort bringt, ohne daß wir selbst nur das Mindeste dabei zu thun hätten. Wo früher individuelle Kenntnis, Geschicklichkeit und Erfahrung den Sieg davontrugen, in Handwerk und Industrie, da tritt heutzutage vielfach die Maschine in den Vordergrund, sie leistet die eigentliche Arbeit und der Mensch hat sie nur zu überwachen. Auch in unseren politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen ist es meistenteils nicht mehr das Individuum, das hervortritt, sondern die Masse, die Gemeinschaft. Je länger, je mehr treten alle persönlichen Eigenschaften zurück und der Mensch ist nicht mehr ein Ganzes, eine Einheit, sondern nur noch ein Rädchen, eine Schraube an dem großen Getriebe der Gesellschaft. Und doch wohnt in jedem körperlich und geistig gesunden Menschen ein Verlangen nach individueller Bethätignng und nach der damit stets verbundenen Befriedigung. Wir suchen und finden beides im Bergsteigen. Da droben im Hochgebirge, da gilt noch der einzelne Mann, sofern er sich eben als Mann zeigt, da kommt es noch auf das Individuum, auf seine Kenntnis, auf seine Tüchtigkeit und Erfahrung, auf seine Kraft und Ausdauer an. Mit Massen kann man keinen unserer Schnee- und Eisriesen, keine unserer Felspyramiden bezwingen, dazu bedarf es der Fähigkeit des einzelnen Mannes, des vollen Einsatzes der Kräfte einer jeden der beteiligten Persönlichkeiten. Umgekehrt kommen aber auch jede schon gewonnene Kraft, Ausdauer und Kenntnis, jede schon gemachte Erfahrung, jede schon erworbene Fähigkeit demjenigen, der sie hat und ausübt, nirgends so unmittelbar zu gute, wie eben beim Bergsteigen. Je fähiger, tüchtiger und erfahrener einer im Bergsteigen ist, desto genußvoller wird dasselbe für ihn sein, und je mehr Genuß einer in den Bergen findet, desto mehr wird er danach trachten, jene Eigenschaften an sich zu vervollkommnen. In dieser Wechselwirkung ruht wohl der psychologische Hauptgrund unserer Liebe zum Hochgebirge. Damit ist denn auch ohne weiteres erklärt, warum wir nicht absolut des schönen Wetters und der klaren Fernsicht bedürfen, um uns über eine gelungene Besteigung zu freuen.

.;- Kommt, Freunde, hinaus in das bergige Land, Hinauf auf die Alpen gezogen!

Auf spaltigem Gletscher, an türmender Wand, Da wird der Mann noch gewogen.

Im Kampf mit dem Fels, mit dem tückischen Eis Winkt männlicher Tugend noch herrlicher Preis!

Aber noch ein anderes Moment möchte ich hervorheben, das für die Beantwortung der Frage, weshalb wir in die Berge gehen, von Wichtigkeit ist. Wir finden dasselbe im Dichterwort:

„ Auf den Bergen ist Freiheit, der Hauch der Grüfte Steigt nicht hinauf in die reinen Lüfte !"

Ja, auf den Bergen ist Freiheit, das haben wir alle schon oft gefühlt, wenn wir die Feder niederlegten und die Bücher zuschlugen, oder das Handwerkszeug beiseite schoben, um dasselbe mit dem Rucksack und dem Eispickel zu vertauschen und hinaufzuziehen zu unsern Freunden, den Bergen. Der Mensch des XIX. Jahrhunderts ist ein Sklave, auch wenn er in der freien Schweiz geboren ist. Er ist ein Sklave seines Berufes oder Geschäfts, ein Sklave der Gesellschaft, ein Sklave der ihn umgebenden Verhältnisse. Er mag wollen oder nicht, er muß nach allen Seiten Rücksichten nehmen, er muß seinen individuellen Wünschen und Neigungen vielfachen Zwang anthun. Ganz anders im Hochgebirge. Hier ist er nur Mensch und fühlt sich auch nur als solcher, und nicht mehr als Glied einer Gesellschaftsklasse, nach deren mehr oder minder berechtigten Forderungen, mehr oder minder vernünftigen Satzungen er sich zu richten hat, wenn er nicht seine Stellung, ja sogar sein materielles Wohl gefährden will. Auf den Bergen fühlen wir uns vollständig frei und entledigt aller beruflichen und gesellschaftlichen Verpflichtungen; entledigt aller Schranken, die der tägliche Verkehr mit unsern Mitmenschen uns sonst auferlegt, genießen wir mit vollen Zügen diese Freiheit. Im Hochgebirge hört der Standes- und Vermögensunterschied auf, ja sogar der viel tiefer eingreifende Unterschied in der Bildung wird größtenteils verwischt; hier steht nur der Mensch dem Menschen gegenüber. Das schönste Beispiel für die Richtigkeit dieser Behauptung linden wir in dem Verhältnis des Hochtouristen zu seinem Führer. Obgleich jener diesen an Bildung immer, an Hang und Vermögen weitaus in den meisten Fällen überragt, obgleich der Führer der von seinem Herrn bezahlte Angestellte ist, so bilden diese Umstände durchaus kein Hindernis für ein freundschaftliches, oft fast auf Gleichberechtigung beruhendes Verhältnis. Auf den Bergen ist Freiheit wohl auch deshalb, weil der Mensch beim Bergsteigen keine materiellen Zwecke verfolgt, weil keine Beschäftigung mehr geeignet ist, Eigennutz, Selbstsucht und andere unedle Eigenschaften in den Hintergrund zu drängen, keine mehr dazu angethan, männliche Tugenden zu wecken und zu fördern.

Warum gehen wir in die Berge? Eine Antwort auf diese Frage hat uns seiner Zeit auch die Gruppe des S.A.C. an der Landesausstellung von 1883 gegeben. Wer sich die Mühe genommen hat, dieselbe zu studieren, der fand da ein überreiches Material von wissenschaftlichem, künstlerischem und sportlichem Interesse, der konnte sich vertiefen in die Resultate, die Früchte, welche die Erforschung der Alpen gezeitigt hat, der konnte sich überzeugen, wie die Bestrebungen des Alpenclubs mit dem Leben und Treiben, mit dem Fühlen und Denken unseres Volkes aufs innigste verwachsen sind. Hier war alles das vereinigt und übersichtlich geordnet, was auf die Alpen, auf unsere Berge Bezug hat, alles das, was der Alpenclub in fast 20 Jahren seiner Wirksamkeit gearbeitet, gesammelt und erreicht hatte. In zahlreichen Gemälden, Studien, Zeichnungen, Portraits, in Panoramen und Photographien, in Karten und Reliefs fanden wir da die künstlerischen, in Mineralien, Gesteinen und Herbarien, in Abhandlungen und kompleten Werken die wissenschaftlichen Erfolge der Alpinistik ausgestellt. Eine Clubhütte und zahlreiche Ausrüstungsgegenstände repräsentierten die sportliche Abteilung. Das Beste aber konnte man nicht ausstellen, nämlich den Genuß, die Befriedigung und den moralischen Gewinn, welche die Bergsteiger in ihrer Thätigkeit gefunden haben. Wem die sichtbaren Resultate die Frage, weshalb wir in die Berge gehen, nicht beantworten, wen sie nicht über die hohe Bedeutung der Alpinistik belehren können, der wird überhaupt durch nichts davon überzeugt werden.

Nachdem wir nun gehört haben, was uns die Liebe zu den Bergen ins Herz pflanzt, was uns immer wieder aufs neue zu ihnen hinzieht, ist es selbstverständlich, daß weder zu erwartende Strapazen, noch die Furcht vor Unglücksfällen uns abhalten können, selber Hochtouren zu unternehmen und andere dazu aufzumuntern. Wohl aber haben wir die ernste Pflicht, uns vor Tollkühnheit zu bewahren, niemals Vorsicht und Klugheit beiseite zu setzen, unsere Kräfte nicht zu überschätzen, und auf Schritt und Tritt zu bedenken, daß eine einzige Nachlässigkeit, eine einzige Unvorsichtigkeit uns die Gesundheit oder gar das Leben kosten und unsere Angehörigen in die tiefste Trauer versetzen kann. Leider müssen ja die meisten Unglücksfälle im Gebirge auf Selbstverschulden zurückgeführt werden, sei es, daß Ungeübte sich zu viel zutrauen, sei es, daß Koryphäen der Alpinistik, jede Vorsicht unterlassend, sich mit offenen Augen ins Verderben stürzen. Wenn wir aber den festen beharrlichen Willen und die Kraft und Ausdauer des Könnens in uns wissen, wenn wir es fühlen, daß unsere Alpenfahrten uns stählen und stärken für den Kampf des Lebens, daß sie uns zu Männern im wahren Sinne des Wortes machen, dann dürfen wir mit gutem Gewissen hinaufziehen in die Berge. Dann werden wir aber auch reichen Lohn davontragen, mehr als wir je erwartet oder geträumt hatten. Wie manchem sind im Gebirge, im Verkehr mit seinen Bewohnern erst die Augen aufgegangen über Dinge, die er bisher nur in einseitigem Lichte gesehen und darum nicht verstanden hatte. Und wieder wie mancher hat, hingerissen und ergriffen von der Großartigkeit der Alpennatur, in seinem Innern Vorsätze gefaßt, Entschlüsse zur Reife gebracht, die später für sein ganzes Leben ausschlaggebend wurden! Wie mancher hat daselbst, um mit Eduard Whymper zu reden, die zwei besten Dinge gefunden, die ein Mensch besitzen kann, Gesundheit und gute Freunde! Und dann jene Bilder von unbeschreiblicher Schönheit, jene Gemälde, vom Weltenmeister selbst geschaffen und mit ihren wunderbaren Kontrasten in Form und Farbe uns vor Augen geführt, wer, der sie einmal gesehen, könnte sie je wieder vergessen? In endloser Reihenfolge ziehen sie vor dem geistigen Auge vorüber, jene Scenen von ergreifender Hoheit, jene Bilder idyllischer Ruhe, jener Kampf mit mächtigen Naturgewalten, jenes Ausruhen am stillen Bergsee, und wenn das Alter den Scheitel des Mannes gebleicht, seine Körperkräfte geknickt, sein Auge geschwächt hat, so wird ihm die Erinnerung daran den Lebensabend verschönern und erheitern, so wird er sich freuen der Leistungen des heranwachsenden Geschlechtes, des Eifers seiner Söhne!

Und wer ist uns denn auf dieser Bahn vorangegangen? Wer hat uns den Weg in die Hochalpen eröffnet? Sind es nicht von den edelsten und besten Männern auch unseres Vaterlandes gewesen, welche als die Ersten so manchen kühnen Felszacken, so manchen vereisten Gipfel bestiegen? Wir alle kennen ja die Namen derjenigen, welche die Schönheit der Gebirgsnatur zuerst erkannt und aufgedeckt haben. Es sind zum Teil dieselben Männer, welche bei der Gründung und in der Geschichte des S.A.C. den ersten Platz einnehmen, es sind Männer, welche der Wissenschaft zur Zierde gereichten, welche uns als leuchtende Vorbilder menschlicher und bürgerlicher Tugenden vor Augen stehen. Wenn wir die Werke eines Konrad Geßner, Simmler, Scheuchzer, eines Saussure, Escher von der Linth, Agassiz, Studer, die Berichte eines Rambert, Melchior Ulrich, Weilenmann lesen, welche Begeisterung weht uns da entgegen, und wie leuchtet das Angesicht der noch Lebenden unter ihnen, wenn sie uns erzählen von den Thaten ihrer Jugend. Nehmen wir uns ein Beispiel an diesen Männern, welche die edle Alpinistik begründet haben, und thun wir das Unsrige, auf daß dieselbe niemals hinabsinke in die Reihe der bloßen Zerstreuungen unserer verflachenden, nivellierenden Zeit, sorgen wir dafür, daß sie bleibe, was sie war und was sie jetzt noch ist, eine Quelle edelsten, nie versiegenden Genusses und eine Schule hoher männlicher Tugenden!

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