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Albrecht Haller und «Die Alpen»

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

1729 * 1929.

Ein Hinweis von Ernst Jenny.

Unsere Monatschrift heisst « Die Alpen ». Warum? Als nach der Vereinigung der drei C. Zeitschriften « Jahrbuch », « Echo des Alpes » und « Alpina » am 23. November 1924 in Langnau die Taufe des neuen Organes geschah, stellte ich den Antrag, dem Kinde den Namen « Die Alpen » zu geben, und berief dabei den Geist des Berners Albrecht Haller, der wie nie ein Dichter zuvor das gewaltige Thema « Die Alpen » erfasst und besungen habe und dadurch einer der allerbedeutendsten Vorläufer und Erwecker des modernen Naturgefühls geworden sei. Der Antrag drang durch. Und so hat gewissermassen Haller selbst die Taufe vollzogen.

Vor dem Hochschulgebäude zu Bern sieht man ein Standbild: ein junger, hochgewachsener Wanderer in schreitender Haltung, den Stock in der Hand, den unbedeckten Kopf nach Süden über Stadt und Strom gewendet, das gescheite Antlitz sinnend auf die Alpen gerichtet, als höre er den lockenden Ruf der Berge und fühle in sich ihren Segen. Es ist Albrecht Haller, der erste grosse Sänger und später ein bedeutender Botaniker der Alpen und Anreger zu ihrer physikalischen Erforschung.

Im Jahre 1728 unternahm der erst zwanzigjährige Doktor der Medizin und Dichter von Basel aus, begleitet von dem gleichaltrigen Zürcher Johannes Gesner, seine erste Alpenwanderung. Sie reisten nicht, um die Menschen und ihre Werke zu studieren, sondern « pour voir la nature ». Der Zweck dieser Reise war für Haller ein zweifacher: Die bisherige Stubenhockerei war ihm verleidet. Er litt schon an Hämorrhoiden und erkannte, dass Wandern ein Bedürfnis seines nicht besonders kräftigen Körpers sei. Aber der vom Geiste der Forschung erfüllte Jüngling konnte nicht nach romantischer Art schweifen und streifen in seliger Ungebundenheit. Das war nicht die Einstellung jener Zeit, und die seine schon gar nicht, denn einen unermüdlicheren Schaffer hat es kaum je gegeben. « Pour voir la nature » hiess es bei ihm: um die Natur zu studieren, besonders die Pflanzen. In dieser Hinsicht bewegte er sich nach dem Geiste eines Conrad Gesner, der schon 1541 einem Freunde schrieb, welch grossen Genuss es ihm bereite, die Bergflora zu untersuchen und seinem Körper eine edle Übung zu verschaffen und « eine Freude meinem Geiste ». Haller hat nach dem Jahre 1728 wiederholt die Alpen besucht. Auch der Alpensinn des Berners Benedikt Marti, der gleichfalls ein eifriger Botaniker war, mag ihn angeregt haben, fand doch dieser schon um die Mitte des 16. Jahrhunderts, als er den Niesen bestieg, an den Gipfelfelsen von Gelehrtenhand den bedeutsamen Spruch eingekratzt: « Die Liebe zu den Bergen ist die beste ». Und Johann Jakob Scheuchzers « Itinera alpina » ( 1702—1710 ) wird der bücher-verschlingende Haller auch gekannt haben. Also ganz von ungefähr zog er wohl nicht aus im Sommer 1728.

Durch den Jura, am Bieler- und Neuenburgersee entlang, gelangten die zwei Freunde nach Lausanne, wo sie von einer Terrasse aus den « Mont Maudit » erblickten. Von Genf bestiegen sie den Salève und wanderten dann auf dem herrlichen Nordgestade des Leman ins Wallis hinein bis Siders. Hier bogen sie links ab und erreichten auf einem Seitenpfade, der ihnen gefährlich und schwierig vorkam, das Bad Leuk, « das von den zerrissenen Bergen der Gemmi und von Lötschen umgeben ist, die dem Ort oft mitten im Sommer Schnee bringen ». Nach einer chemischen Prüfung der Heilquellen überschritten Haller und Gesner am 29. Juli 1728 die Gemmi nach Kandersteg. Über Frutigen, Interlaken, Brienz gewannen sie Meiringen und betrachteten hier Funde aus der Kristallhöhle am Zinkenstock ( Unteraar ). Bei Regen zogen sie am 2. August auf den Jochpass, wo ihnen der Titlis seine hohe Eiskuppe einen Augenblick zeigte.Von Engelberg wanderten sie hinunter nach Stans und von Luzern über den Albis nach Zürich.

Reich an landschaftlichen Eindrücken und reich an botanischer Ausbeute begab sich Haller nach Bern. « Pour voir la nature » war er ausgezogen, die Menschen hatte er auf der Seite lassen wollen. Aber was heute möglich ist, war damals unmöglich. Denn wer hätte 1728 eine so lange Alpenwanderung durchführen können, ohne mit dem Bergvolk nur schon des Leibes wegen zu verkehren? Haller sah das Volk der Hirten, er musste es sehen, denn er brauchte von ihm Auskunft, Nahrung und Obdach. Und er sah es mit den Augen eines Jünglings, der zum erstenmal in die Alpen zieht. Es war keineswegs nur der idyllisierende Zeitgeist, der alles Ländliche mit kritiklosem Entzücken aufnahm, sonst hätte Haller weder die neue Einstellung zu der wechselvollen alpinen Landschaft noch die patriotische Liebe für den Menschen darin gefunden und empfunden. Gewiss war er nicht ausgezogen, um als Dichter neuen Stoff einzuheimsen und der Welt etwas Erzursprüngliches zu verkünden. Nein, das war nicht der Zweck der Übung gewesen. Aber man stelle sich einen hochbegabten Jüngling vor, der sich mit festem Willen von den Büchern und einer sitzenden Lebensweise — wie Haller selbst später gesteht— losreisst, einen Jüngling, der in London, vor allem in Paris und auch in Bern scharfen Auges die Schwächen der herrschenden Klassen erkannt hat, man stelle sich diesen ausserordentlichen Jüngling nun für eine kurze Frist durch die Grosse und Gewalt der Alpen schreitend vor, und man wird Erschütterung und Aufschwung seiner Seele verstehen und nicht jedes Dichterwort, das er hernach schuf, auf die kritische Wage legen. Wer Pionier ist, kann es mit jedem Nachfahren aufnehmen, auch wenn dieser jenen an technischem Können überragt. Und ein Pionier in der gesamten alpinen Literatur wurde Haller durch das Gedicht « Die Alpen », das er im Jahre 1729 geschrieben hat.

Auf der Wanderung hatte er auch einen inneren Begleiter: Das war sein suchender, universal gerichteter Geist, der die Einheit von Gott und Natur im Widerspruch von Gut und Böse fast nicht lösen konnte. Der Schritt durch die Alpen offenbarte ihm die Schönheit der Natur als Erscheinungsform eines weisen und vollkommenen Gottes zwar nicht voll mit jener beglückenden, unversieglichen Kraft, nach der er sich sehnte; aber er schenkte ihm eine tiefe, dichterische Sinnenfreude an der Natur und den Glauben an ein natürliches Leben des Menschen. Und das mit jener Stärke, die den Entdecker unbekannter Gegenden erfüllt und zum Worte drängt. Weder die deutsche Dichtung des Barock vor Haller noch die des beginnenden Rokoko weist dergleichen auf. Das gewählte Thema, das die Erinnerung an das gewaltige Erlebnis immer wieder beschwerte, wurde fast zu gross für seine gestaltende Kraft. Er fühlte sich nicht frei genug in der Form, im Geschmack und glaubte, in besondern naturwissenschaftlichen Anmerkungen seinen Zeitgenossen erklären zu müssen, wie dies und jenes im Gedicht zu verstehen sei. Kurzum, heute kann man feststellen, er erscheine in dem Gedicht « Die Alpen » zu wenig als selbständiger Künstler. Doch lassen wir alle Form! Der Erste sein auf einem neuen Gebiete ist das Wesentliche und Bleibende.

Die Grösse eines Dichters besteht nicht zuletzt darin, dass er seiner Zeit aus dem Herzen und zum Herzen spricht. So wird sein Werk eine Wohltat. Dies Lob gebührt Haller und seinen « Die Alpen ». Die sogenannte gute Gesellschaft Westeuropas war politisch und moralisch krank. Ihre Philosophie war materialistisch, trotz aller offiziellen Frömmelei. Und die Praxis war zumeist schlimmer als die Theorie. An Unschuld werde kaum ernsthaft geglaubt in französischen und englischen Salons. Aber es gab doch Menschen, denen ekelte, sie trugen Sehnsucht nach etwas Besserem in sich. Gerade diese waren es, die Haller zujubelten und dankten für seinen Glauben an Sittenrein-heit und Unschuld; denn neu waren in der deutschen Dichtung solche Schilderungen des einfachen, genügsamen und glücklichen Menschenlebens in den Alpen. Die vornehme Gesellschaft verachtete damals das elende Volk der Hirten. Und nun kam Haller und sang das Hohelied des Gegenteils. Zugleich betonte er, dass seine Bergleute Schweizer seien und keinem Fürsten Untertan. Hier in den Alpen gebe es keine grossen Güter, keine grossen Ansprüche; denn zu diesen fehlen Zeit und Gelegenheit, und jene verhindere die Natur selbst oder « die von der Natur geleitete Vernunft ». Weil jeder mit sich selbst genug zu tun habe, so gebe es hier keine Gesellschaftskabalen, verblendete Ehrsucht und hohle Phrasen von Tugend und Schönheit. Allerdings gebe es auch keine Gelehrsamkeit da oben. Aber ist denn sie das Glück?

« Hier hat die Natur die Lehre recht zu leben Dem Menschen in das Herz und nicht ins Hirn gegeben. » Daraus stamme auch « die Gleichheit der Alpenleute ». Ihre Freiheit zeige sich deutlich bei den Bergfesten, wo die ungeschminkten natürlichen Gefühle hervortreten.

« Die Liebe brennt hier frei und scheut kein Donnerwetter, Man liebet für sich selbst und nicht für seine Väter. » Auch das Blut sei rein, es schleiche darin « kein erblich Gift von siechen Vätern ». Streng sei die Arbeit, frugal die Kost, aber froh der Sinn und stark der Mut. Im Winter, wenn Schnee und Eis die Welt begraben, ruhe das Bergvolk behaglich aus, ohne dabei auf Irrwege zu geraten. Es pflege seine einfache Kunst am Herdfeuer, rede von Teil und von den siegreichen Schlachten der Vorväter und träume von neuem Ruhme. Klang so was nicht neu für Europa? Aber ebenso neu war der kraftvolle Vortrag der alpinen Landschaft, die man bisher in der deutschen, französischen und englischen Poesie nicht kannte. Man sang dort von der gemütlichen Schönheit der Ebene, von Wiese, Busch und Wald, von stillen Flüssen, ohne irgend welche mächtigen Akkorde der Farben und Linien oder gar der Naturstimmen. Der landschaftliche Auftakt von Hallers « Alpen » aber lautet:

« Wenn Titans erster Strahl der Gipfel Schnee vergüldet Und sein verklärter Blick die Nebel unterdrückt, So wird, was die Natur am prächtigsten gebildet, Mit immer neuer Lust von einem Berg erblickt.

Durch den zerfahrnen Dunst von einer dünnen Wolke Eröffnet sich zugleich der Schauplatz einer Welt...

Die blaue Ferne schliesst ein Kranz beglänzter Höhen... »

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