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Alphubel-Rotgrat

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

rJVon Hugo NUnllst

Mit 2 Bildern ( 40, 41Luzern ) Mitte Juli 1948. Ein schlimmer Sommer hat begonnen. Es trommelt auf alle Steindächer bei unserer Ankunft in Täsch, rauhe Winde streichen durch die Dorfgasse, und verschwommene Nebel haften an den Hängen, triefendnass und grau. Wo sie sich lichten, lassen sich schneebestrichene Grashalden erkennen, dort unter der Weisshornhütte und hier um die Leiterspitzen. Wir planen die Begehung des Teufelsgrates, suchen aber einstweilen eine Gaststube auf, während es draussen herzhaft und ununter- Die Alpen - 1949 - Lea Alpes13 brachen rauscht, und hocken an einem Tischchen, wohl drei Stunden lang, als ob man wegen des Weines oder der leichtfüssigen Kellnerin dasitze. Die Leute rings um uns sind frohgelaunt; denn es regnet weithin vernehmbar, nicht nur in Schauern. Die Gebirgler haben das Jahr zuvor die Niederschläge lange genug entbehrt. Wenn wir uns verärgert zeigten, würden sie es kaum verstehen. Also plaudern wir freundlich mit ihnen, nur nicht von jenem Grat; wie so leicht könnte man sich über uns belustigen.

Mir gegenüber sinnt eine Gestalt vor sich hin. Ich traue meinen Augen nicht — es ist Kaspar Mooser, vor Jahren einer der tüchtigsten Bergführer. Einheimische haben uns den Namen zugeflüstert. Mit welchen Worten den vereinsamten Mann begrüssen? Das Gespräch darf sich nicht auf den Teufelsgrat beziehen. Er würde herzensgütig antworten: « Herr, es hat viel Schnee. » Da kommt mir ein Buch zu Hilfe.Von Blanchet reden zu hören, das ergreift ihn sichtlich. Mit leiser, undeutlicher Stimme, so dass er gelegentlich einen Satz wiederholen muss, erzählt er von dem frühen Tod des « lieben, guten Menschen » und berichtet von seinem eigenen in einer Zermatter Steingrube erlittenen Unfall, der ihm beinahe das Leben gekostet hätte. Nach 476 Tagen Krankenlager habe er die Beine wieder gebrauchen können und fügt bedauernd hinzu, die Kraft erlaube keine grossen Bergfahrten mehr. Ich höre ihn mehrmals wehmütig sagen: « Ja, die schönen Berge. » Er kann sie nicht vergessen. In seinen Augen leuchtet ein eigentümlicher Glanz und glimmt ein ungelöschtes Feuer. Die Müdigkeit hat die Glut zwar eingedämmt. Immer noch lodert sie auf, die edle Leidenschaft. Wohl haben ihm Gletscher und Wände erinnerungsreiche Stunden für das Alter geschenkt, hingegen zugleich die Sehnsucht stets von neuem genährt und geschürt. Ein ungestilltes Verlangen beherrscht ihn und durchbricht immer wieder die besinnliche Musse: noch einmal möchte er das Breithorn besteigen; dann erst werde es seine letzte Fahrt gewesen sein. Bescheiden verrät er noch, von Zeit zu Zeit, trotz der ungeschickten Hand, die zum Schreiben wenig tauge, an einer Schrift zu arbeiten, wozu ihn Charles Gos veranlasst habe. Gerührt nehme ich Abschied von dem einst kühnen und begnadeten Bergführer. Er reicht mir die Hand, lüftet umständlich den zerknitterten Hut und verlässt mit ungelenken Gliedern die Gaststube.

Wolken, regnet weiter I Die verlorene Zeit reut mich nicht. Es sitzt noch jemand hier, ein junger Bergführer mit eigenwilligen Haaren, Alfons Laerjen, der mit Wyss-Dunant erstmals die Westwandrippe des Alphubeis erklettert hat. Er unterhält sich mit zwei in Blick und Brauen schwarzen Burschen, die mich unwillkürlich an Sarazenen und Dolche gemahnen. Deshalb wage ich nicht, dazwischenzutreten; das Kreuzen von Klingen liegt mir kaum. Auf einmal erhebt sich Laerjen und verschwindet. Nach einer Weile kommt er vom Bahnhöf chen zurück, begleitet von einem Bieler, dem er die Ski trägt. Himmel, sie werden doch nichtSelbst wenn der Winter auf den Höhen nochmals eingezogen ist, lässt sich Laerjen nicht beirren.

Was aber unternehmen wir? Mit schweren Säcken begeben wir uns mal zur Täschhütte. Ein bequemer Weg schlängelt sich durch Lärchenbestände südlich des Mellichenbacb.es hinan. Vor den Stäfelihütten führt der Saum- pfad waagrecht aus dem Wald. Gletscherwasser sprudelt wild vorüber. Hinter der Kapelle und dem langgestreckten Stall auf Ottavan geht 's auf angenehmem Steig die Flühe hinan, wo hoch droben eine Fahne flattert. Nach drei Stunden stehen wir vor der Täschhütte, 2750 m. Der Ort gewährt einen herrlichen Blick hinüber zur Weisshornkette und hinauf zum Rimpfischhorn. Einstweilen gemessen wir nur die Ansicht der Einöde des hintern Täschgrundes, wo tagsüber eine Kuhherde weidet, bald da, bald dort, und die des Abends nach Ottavan getrieben wird. Man schaut freudlos zu den weissgetünchten Schuttfeldern und zu den jagenden Wolken, die manchmal einen Grat oder Felskopf flüchtig freigeben. Unwirsch bläst der Wind um die Hüttenmauern und zerstiebt den Wasserstrahl des Brunnens weit neben das Becken.

Eines Nachts klärt es entschieden auf. Die Nebel zerfliessen zusehends, der Wind schwächt ab, und Sterne blinzeln hernieder. Wir entschliessen uns, den Rotgrat zu begehen, weil das Täschhorn noch zu sehr im Schnee vermummt ist. Um 3 Uhr wandern wir auf einem deutlichen Pfad ebenaus zum Talli. Die Laterne kann gelöscht werden; denn der Weg ist nicht zu verfehlen. Am Nordufer des Bachbettes beschreibt er viele Kehren, die fast stets an auffälligen Stellen angelegt sind. Wo sich die Mulde verflacht, beginnen Schneefelder, die die Spur verwischen. Zwei Sättel von nahezu gleicher Höhe zeichnen sich in der Dämmerung ab. Eine leichte Querung in Schutt bringt uns rasch vom westlichen Einschnitt zum richtigen Übergang, zu P. 3194, wo sich Dauben und ein stabartiger, mannshoher Einzelstein erheben.

Es ist halb 5 Uhr. Finster reckt sich die Westwand des Alphubeis zu den verglimmenden Sternen. Unter ihr eine Trümmerwelt von Blockrippen und trüben Schneeflecken. Jenseits des garstigen Eisbruches taucht die stotzige Südwand des Täschhorns auf, dessen drei Grate heuer noch gemieden worden sind. Mir verleidet es schier, von dieser menschenleeren Felswüste aus, darin die Nachtschatten zäh umherschleichen, an irgendeine Besteigung zu denken. Hat man denn nie genug gesehen? In solchen Augenblicken möchte ich Urätti sein, um das Recht beanspruchen zu können, zurückzukehren und in der Hütte zu bleiben. Allein in meinem Alter erlöst mich keine noch so klug gesponnene Entschuldigung; ich muss hinauf, dem Erlebnis entgegen. Es segeln ja nur wenige Federbündel durch die Räume, die Kälte bedrängt uns nirgends, und bald werden sich Klippen und Flanken aufhellen und einladender zeigen, werden vergessen sein jeglicher Missmut und alle dumpfen beklemmenden Empfindungen, die das Gebirge wachgerufen hat.

Ohne zum Weingartengletscher abzusteigen, wenden wir uns in Bruchharsch zum hintersten Trog des Tällis und erklettern die von den Unbilden der Witterung zernagten, abgeschabten und von dunkeln Flechten überzogenen Gneisfelsen des Weissgrates, um die Scharte vor dem grossen Aufschwung zu erreichen. In anregendem Steigen über Platten, Geröllzüge und Schneehalden wird der Westsporn nach zwei Stunden bei der Schulter, P. 3636, verlassen. Unmittelbar unter uns fällt jäh die Südwand des Alphubels zum Gletscher ab. Zwei Striche bewegen sich dort. Es ist Laerjen, der auf Ski die besonnten Wogen durchmisst.

Eine wahre Lichtflut ergiesst sich heute über das Firnreich. Auch im Norden ist die Finsternis verflogen. Die Steilhänge, von Staubschnee über-worfen, bilden einen scharfen Gegensatz zur abweisenden Westwand und legen einen versöhnenden Ton in die zornigdrohenden Plattenschüsse. Unser Grat schwingt sich wie Meereswellen zu einer Mauer hinan, die ihn hart-unterbricht. Während sich die Wächten ohne weiteres umgehen lassen, veranlasst uns das Eis, die Steigeisen anzuschnallen. Ein schroffer Abbruch zwingt zum Ausweichen in brüchige, rostbraune Felsen der Südseite, weil im Norden haltloser Pulverschnee auf vereistem Grund zu gefährlich wäre. Ein niedergefahrenes Schneebrett zeugt vom trügerischen Boden.

Am Ende der Firnkante vermittelt ein heikles glasiges Dach den Ausstieg zu Schneelagen. Hierauf weist eine schmale Leiste zum Grat. Tiefer Neuschnee unterbricht die Felswülste und behindert. Nach einigen Seillängen bäumt sich der Grat auf. Ein Spalt durchfurcht die Mauer zu einer ausgeprägten Runse hinüber. Man stemmt sich, die Finger im Riss vergraben, einem schmalen Vorsprung entlang hinaus. Als sich das Seil strafft, richte ich mich gut verankert hinter einem Zahn am Rand der Kehle auf. Mehrmals schmiegen wir uns an das Gefels; denn fast in regelmässigen Abständen kollern Hartschneebrocken herab. Es könnten einmal Steine sein. Sonst verhält sich alles ruhig, obwohl die morsche Wand schon einige Zeit der prallen Sonne zugekehrt und von Schneeadern durchwirkt ist.

Es folgt ein herrliches Erklimmen lotrechter Stufen und von Schmelzwasser überronnener Felsen. Wo man hinlangt, ist das Gestein durchwärmt. Wir haben uns auf empfindliche Kälte und bissigen Wind gefasst gemacht. Doch ist es hier geradezu schwül, dass man in den heissen Kleidern zu ersticken droht. Endlich wird die Schulter erreicht, die einen eindrucksvollen Anblick des Gipfelkammes ermöglicht, wonach eine schneeverhüllte Schneide an dachschräge Firnhalden stösst. Tritt für Tritt und an eingestochener Pickelspitze steigen wir steil neben herausragenden Blöcken zum Vorgipfel. Ein gemütlicher Gang in mehligem Schnee, dann stehen wir um 11 Uhr auf dem Alphubel, 4206 m, und gönnen uns, von Strahlen und Hitze überschüttet, eine volle Stunde der Erholung.

Wir wenden uns nachher, die vorgelagerten Erhebungen streifend, dem Nordgrat zu. Einige glitschige Stellen unter Lockerschnee mahnen zur Vorsicht. Allmählich schmückt sich der Grat mit Felsinseln, verflacht sich und trägt eine Wächtenkrone. Die ersten Wolkenschleier flattern hastig vorbei. Nähert sich etwa ein Gewitter? Unheimlich grollen Lauenen zu beiden Seiten des Täschhorns, wo durchnässte Massen wie in gekämmten Kanälen herunter-zischen. Es flimmert und gleisst, dass es eine Art hat. Um die Sattelköpfe des Mischabeljochs zu vermeiden, stapfen wir in gerader Linie hinab zum Weingartengletscher und sausen über weiches Eis und den Bergschrund weit in die Silberschale des Firns hinaus.

Unterdessen streicht grauschwarzes Gewölk den Teufelsgrat hinauf und kündigt ein Unwetter an. Durch Pappschnee streben wir am Nordhang des Alphubels zu einer Wölbung, um uns über den weitem Abstieg zu vergewissem. Eine Schuttrippe schliesst sich abwärts an. Unverhofft stechen zersplitterte Platten heraus, der Buckel schärft sich zu und bricht zur Lücke, 3481 m, ab. Keine Nagelschürfung lässt sich entdecken. Die Zeit verrinnt. Es dünkt mich ärgerlich, so langsam vorzurücken. Ich hege nicht sonderlich Lust, einen solchen Durchschlupf zu ertrotzen. Verdrossen begeben wir uns nochmals zum Firnwulst hinauf und wählen den Gletscher bis zu jener Bresche. Die Kehle, die dort zum Südflügel des Weingartengletschers absinkt, sieht jedoch gar nicht einladend aus. Lieber durchwaten wir wiederum den Mittellauf, der jetzt von Spalten aufgewühlt ist. Auf Steigeisen geraten wir an einen mächtigen Abbruch. Durchlöcherte Brücken und ein Eiswändchen verriegeln alles. Nur diese schlimme Stelle noch, dann läge der Weg frei. Es ist zum Verzweifeln: just da, wo man niemals hinkommen wollte, möchten wir durch. Von hier aus zum Nordufer hinüberzuqueren, um uns auf die richtige Fährte zu bringen, scheint zumindest zeitraubendes Bemühen zu sein.

Folglich zurück zum Grat. Ein Stück westlich der oben erwähnten Scharte bändeln wir mit dem untern Teil des Spornes an. Nachdem der Grat eine Weile gnädig gewesen ist, brüstet er sich mit rundgeschliffenen Schildern und ausgelaugten Griffen. Durch einen Kamin verlassen wir enttäuscht die Kante, um über Platten und Gesimse ein Schuttband zu gewinnen, das bei P. 3240 endigt. Kaum ist das Seil aufgerollt, dröhnt der Donner und setzt ein feiner, beharrlicher Regen ein, der die Sicht verhängt und nirgends einen Sonnenschimmer durchdringen lässt.

Wir trotten in widerlichem Sumpfschnee ebenaus und brechen knietief ein, überschreiten Moränenwälle und Wasserfäden, die mich wie frische Quellen anmuten und wovon ich gierig ganze Hände voll schlürfe. Das Einsacken in Spalten erinnert uns daran, immer noch auf dem Weingartengletscher zu sein. Eine beträchtliche Gegensteigung, wo uns unterhöhlter Faulschnee wie in einer Falle gefangen hält, vergällt beinahe die frohe Stimmung. Endlich gestatten lose aufgeschichtete Blöcke den Ausstieg zum Sattel. Über die Rasenbecken des Tällis begleitet uns nach 17 Uhr ein dichter Regen, der selbstgefällig durch den Abend rieselt.

Es folgen wiederum Rasttage. Wenn die Windstösse nachlassen, verweilen wir draussen auf einer Steinbank, während Hüttenwart Mooser, ein Bruder Kaspars, Lärchenträmel zersägt. Ein fünfjähriges Bübchen darf beim Spalten behilflich sein, was es mit Geschick besorgt. Leider sind Beil und Holzklötze so schwer, dass Toneli sie kaum zu heben vermag. Hin und wieder springt er von der Arbeit weg und beinelt um die Ecke, zum Brunnen nämlich, um einige Schluck Wasser zu trinken. Das Gefühl, dass körperliche Betätigung durstig mache, scheint ihn beizeiten zu plagen. Oder treibt es ihn, gewisse Gewohnheiten Erwachsener nachzuahmen? Am Hüttenwart kann 's aber nicht fehlen, der hat jeweilen bei der Arbeit ausgeharrt.

Toneli ist Waisenkind und fühlt sich hier oben am wohlsten. Nur sehr ungern würde er sommersüber in schwarzgebrannten Häusern und am heimtückischen Dorfbach wohnen. Vielleicht klingt ein aufregendes Ereignis nach und verfolgt das Bübchen insgeheim. Beim Spielen fiel es einst in die reissenden Fluten und wurde vom Wasserschwall mitgeschleppt. Erst kurz vor der Mündung in die Visp gelang es ihm, sich an einem Stein der Uferböschung anzuklammern. Da niemand das Kind beaufsichtigt hatte, wäre es zweifellos verloren gewesen. Weil Toneli heute Geburtstag hat, fasst ihn der Pflege-vater beim Händchen und geleitet ihn schmunzelnd in die Küche: « Wohl, wohl, Toneli, jetzt musst du etwas Besseres haben. » Tage und Wochen sind seither verstrichen. Ich verbringe einige Zeit in einem weltentrückten Nestchen, in Bauen am Urner See, höre des Abends dem Wellenschlag zu, betrachte die Scheinwerfer, die aufgeregt der Axenstrasse entlang huschen, und vernehme das ferne, dumpfe Rollen der Gotthardbahn. Ich sinne über meine Bergfahrten in diesem schlimmen Sommer nach, über den Nordgrat des Rimpfischhorns, den mühsamen, langwierigen Teufelsgrat, den arg verschneiten Zmuttgrat, denke an den Hagelsturm während des Abstiegs vom Matterhorn und an das hoffnungslose Warten in Courmayeur, wo der Schneefall bis zu den Weiden herunter jede grössere Unternehmung vereitelt hat.

In die Erinnerungen schleichen sich immer wieder drei Gestalten ein: der alte Bergführer mit dem müden Blick, der junge, frohgemute Draufgänger mit geschulterten Ski und ein schlaues Bübchen, das Bübchen unter dem Rotgrat des Alphubels.

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