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Auf einem Bergfriedhof

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Von Karl Baumgartner

Mit 1 Bild ( 90Winterthur ) Ein Schlechtwettertag hat unserem Höhen drang vorübergehend ein Ende gesetzt und uns zur Tiefe gezwungen. Seien deshalb einmal die Dinge der unmittelbaren Umgebung betrachtet, denn ob all dem Fernen, das uns immer wieder weg- und zur Höhe lockte, haben wir das Nahe und Naheliegende nicht beachtet, vergessen. Und doch ist dieses Nahe mit dem Umgebenden und Fernen in innerer Beziehung. Ja, von ihm empfängt es seine Form und Gestaltung. Alles was in dem von hier aus Fernscheinenden geschieht, wird zum Schicksal und bestimmt den Ablauf des Geschehens, den Kreislauf des Lebens im Nahen und Nächsten.

Unser erster Gang gilt dem Bergfriedhof. Altersgraues Gemäuer umgibt diesen Bezirk des Todes. Ernst und schwer ragt auch die uralte Begräbnis-kirche über die Gräberreihen. Viele Geschlechter hat sie werden und vergehen sehen. Sie aber hat noch immer Bestand, wie jene Berge Bestand haben, die dort über dem Lärchengrün aus unerdenklichen Höhen herniederschauen. Ja, sie hatten ihn schon seit Urbeginn und werden noch Bestand haben, wenn alle die noch leeren Rasenvierecke die Namen von Vergänglichen tragen.

Tiefe Ruhe liegt zu dieser Stunde über dem Tal. Dieses Land der Toten ist aber nochmals eine Insel der Ruhe in der Ruhe. Kaum ein Vogelruf wird laut. Sogar das Flattern der Falter wird hier massiger und stiller. Kein Campo santo in Genua und kein Wiener Zentralfriedhof vermag je eine solche Stille zu umschliessen wie dieser Bergfriedhof. Dort ist die Trauer des Todes eine schwere und feierliche, vielleicht in Formen erstarrte. Hier ist sie unbeschwerter, vom Konventionellen losgelöster. Nur du und diese Toten da unten sind. Sie sind dir dadurch irgendwie innerlich verbunden. Und das Nachsinnen über die letzten Dinge wird leichter, unproblematischer. Ach ja, hier fühlt man es: Auch die Schönheit macht satt. Wenn die Seele sich damit ganz voll getrunken, dann sehnt sie sich nach einem Verströmen. Ist die Schönheit vielleicht eine zu leichte Fracht? Und die Seele möchte eine schwerere, die ihr mehr Tiefgang verleiht, sie den einsamen Meeren des Todes zutreibt?

So gehen wir zwischen diesen Gräbern umher; lesen Namen und Daten. Viele liegen hier, die ein kleines Achselzucken der Berge hinabgestossen hat, solche, die den weissen Tod gestorben sind. Da ist eine Bergspitze, die allein drei Menschen, einen Vater, den Sohn und einen Engländer, getötet hat. Drei, welche hier liegen! Doch sind es alles in allem nicht dreimal drei, zehnmal drei?... Da lesen wir vom Vergehen alter Geschlechter des Tales, dazwischen aber immer wieder englisch«; Namen, deutsche, französische. Sie alle kamen her, ihre Seele zu befrachten mit den Schönheiten dieser Natur. Nun sind sie still geworden, ihr Mund ist verstummt, der so oft die Wunder dieser Berge gepriesen haben mag, und die ihre Liebe nun scheinbar so schlecht lohnten.

Auf dem Grabe eines jungen Deutschen, der von einer Lawine begraben wurde, lese ich: « Kein Wesen kann zu nichts zerfallen, die Ewigkeit regt sich fort in allem. » Ich lese diesen etwas ungeschickten Zweizeiler immer wieder. Er wäre kitschig, stände er anderswo. Hier aber ist er höchste Erkenntnis, tiefste Wahrheit, heiliger Glaube, göttliche Gewissheit.

Da sind aber noch jene marmornen Grabplatten an der Kirchhofmauer. Sie sind namenlos. Niemand weiss, wer diese Toten sind, die da unten ruhen. Keine Kunde erzählt von ihnen. Man hat sie irgendwo gefunden, zerschlagen und zerschmettert. Vielleicht hat der Gletscher sie nach Jahren ausgestossen. Dann hat man sie hieher gebracht und ihnen, den Namen- und Heimatlosen, eine Ruhestätte zugewiesen, hat sie aufgenommen in die Gemeinde derer, die schon da waren, hat ihren Leibern Heimatrecht verliehen unter denen, die ihr irdisches an das ewige verloren.

Und wie wir weiter, immer weiter zwischen den Reihen durchgehen, mit den Blumen dieser Berge, da geht unsere Erinnerung zurück, da werden in uns Stunden rufbar, hinter denen manches Mal auch ein Kreuz emporwächst und seinen dunkeln Schatten überwirft: Wie war es doch damals, als wir in jener Sturmnacht uns den Weg zur Britanniahütte erkämpfen mussten? Nahmen wir da nicht mit letzter Kraft und zitternden Fingern dem Knochenmann das Stundenglas aus den Händen, das dieser schon entfallen lassen wollte? Und ihr zwei Gefährten gemeinsamer herrlicher Walliser Bergferien, gedenkt ihr noch jenes mildgoldenen Abends, da wir, unten in der Kapelle Maria zur Hohen Stiege, der Himmelsmutter dafür dankten, dass sie uns Führerin und Schützerin gewesen, als uns das Egginerhorn mit jenen bangen Stunden für unsern jugendlichen Leichtsinn und Wagemut bestrafte? Und weiter zieht aus der Erinnerung herauf jene eisigkalte Biwaknacht unter den Eisbrüchen des Brunnigletschers, als durch Übermüdung und Erschöpfung der Lebenswille uns zu erlöschen drohte und wir wussten, dass Schlaf Nicht-mehr-Erwachen bedeuten konnte.

Trotzig lehnte sich jedesmal unser Wille gegen die drohenden Gefahren auf und sandte dem Körper alle Kräfte zu Hilfe, um ihnen zu entgehen. Und doch, was waren alle Anstrengungen im Grunde anderes als ein wartend Hinhalten an das Schicksal, das fühlbar in andern Händen liegen musste. Dreimal haben die Berge uns mit ihrem dunklen Bundesgenossen gedroht. Das vierte Mal stand er in zwei zerschmetterten Toten jäh und unvermittelt vor uns. Stumm, mit brennendem Herzen begleiteten wir den traurigen Zug im sinkenden Abend damals talwärts. Wie hart schlug uns doch da das Brutale solchen Geschehens ins Bewusstsein. Hoch über uns aber glutete und flammte das Allalinhorn in erhabener Ruhe in den verdämmernden Himmel, als wisse es nichts von der Härte dieses Geschicks — oder wollte es versöhnen?...

Nochmals stehen wir vor vier steineren Kreuzen; buchstabieren englische Namen von den Grabplatten. Hinten an jenem weissen Berg, der Roseg heisst, sollten sie eingemeisselt sein. Welches Drama, welche Tragödie mag sich da abgespielt haben! Hat ein jäher, harter Schlag sie alle ausgelöscht, bäumte das getroffene Leben sich nochmals auf, bis die Hilferufe ungehört auf den kraftlosen Lippen erstarben? Wer weiss es! Vier sind hier, vier sind dort, viermal vier, zehnmal vier, hundertmal vier — eine endlose Schar, ungezählte Namen. Sie alle zahlten für eine Stunde herrlichsten Erlebens einen hohen Preis, den kostbarsten. Könnten wir nicht auch diesen zugehören? Werden wir vielleicht einmal zu ihnen gehören? Wer mag es wissen! Müssen wir uns darum ihnen aber nicht innerlich verbunden fühlen?

Gedanken, Erinnerungen zwischen Gräbern! Doch hier können wir freier, ungehinderter und eigentlich ohne Angst zurückdenken an jene Stunden, da uns vielleicht gleiches Schicksal drohte. Und ein grosses Wissen ist in uns, das uns sagt, dass alles Zurhöhesteigen einmal ein Ende nehmen und in die Tiefe der Urmutter Erde zurückführen wird. Aber auch, dass erst von hier aus der letzte und wirkliche Gang nach oben beginnt. Und so stehen wir vor diesen Gräbern, vor allen diesen, die da schlafen unter den Bergen, und vor denen die getötet wurden von den Bergen. Die Reife des Frühherbstes liegt über ihnen; über beiden, den Gräbern und den Bergen. Ja, diese Menschen hier, in diesen Erdvierecken, sie sind reif geworden, sie sind zurückgekehrt zur Urform ihres Stoffes.

Und dennoch: Die Berge, sie sind die ruhenden Pole in aller Erscheinungen Flucht. Sie sind die grossen Mahner, Wegweiser nach oben, in Bezirke, die nicht mehr den unsrigen zugehörig sind. Ja, was will denn die Seele eigentlich? Da stehen wir auf diesem Bergfriedhof und denken an die letzten Dinge dieses Lebens. Und doch lieben wir dieses Leben mit der ganzen unbändigen Kraft des Herzens. Oben auf jenen Zacken und Graten fühlten wir es eben erst in jauchzender Freiheit durch die Adern rollen... Und dann sind wir wieder zurückgekehrt ins Tiefland. Haben uns wieder eingeordnet in die Plan-mässigkeiten und Gesetzmässigkeiten dieses Lebens, in die Aufgaben, die uns von ihm gestellt sind. Und wir werden wieder von seiner ganzen Vielfalt umfangen, von allen seinen Äusserungen, die es uns so lebenswert machen... Aber plötzlich, in einer einsamen Stunde wird all dieser Zudrang jäh von uns abfallen, und wir werden uns vielleicht wieder zurücksehnen nach der einsamen Schönheit und der abgeschiedenen Stille jener Todesinsel, dort unter dem Schatten jenes seltsam dreigegliederten Berges.

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