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Aus den Abruzzen

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

Von Ernst Furrer.

Die Abruzzen erstrecken sich vom Saum der Adria bis ins Herz des Hochapennins hinein und vereinigen die grössten landschaftlichen Gegensätze des Apenninenlandes. Der eisgekrönte Gran Sasso d' Italia entsteigt mit jähen Felswänden dem fruchtbaren adriatischen Küstenland, wo noch Oliven und Orangen reifen, und zwischen die beiden Welten fruchtstrotzender Subtropen und öder Gebirgswildnis schieben sich die Stockwerke stets wechselnden Natur- und Wirtschaftslebens. An schönen Bauwerken ist jedes Zeitalter vertreten. Was wir von Verona bis Syrakus an Tempeln, Amphitheatern, Katakomben bestaunen, das bieten alles auch die Abruzzen, freilich viel kleiner und über entlegene Talschaften verteilt, aber in ihrer Eigenart ebenso beachtenswert und dazu im Rahmen einer grossartigen Gebirgslandschaft. Aus dem Mittelalter stammen reiche romanische und gotische Bauwerke, und die Renaissance hat uns in Aquila eine berühmte Kirche mit gewaltiger Kuppel hinterlassen. Und wo wir hinkommen, freuen wir uns der gastfreundlichen Bevölkerung mit ihrem schlicht-herzlichen Wesen. Ein sympathischer, kraftvoller Menschenschlag, in dem sich südliches Temperament mit berglerischer Ruhe glücklich paart.

Noch vor wenig mehr als einem halben Jahrhundert waren die Abruzzen ein verrufenes Brigantenland. Seither sind sie dieser Romantik entkleidet und in jüngster Zeit rasch dem Verkehr erschlossen worden. Von Neapel und Rom, von den adriatischen Küstenplätzen und von dem nördlich benachbarten Umbrien führen Eisenbahnen in wenigen Stunden mitten in den abruzzesischen Hochapennin hinein. Von der Schweiz aus vermittelt die Adrialinie den Zugang am schnellsten. Wer in Zürich oder Olten nach dem Mittagessen durch den Gotthard abreist, rollt in der Frühe des nächsten Tages bereits über abruzzesischen Boden hin, und Zweiglinien ins Land hinein führen in wenigen weitern Stunden bis an den Fuss hoher Berge. Hört der Schienenstrang auf, so gewinnen wir mit Kursautos die entlegensten Täler und ihre einsamen, stillen Dörfer, wo die alte Zeit noch in malerischen Trachten und in patriarchalischer Denk- und Lebensart fortlebt.

Von den vier Provinzstädtchen ist Teramo das verschlafenste. Klein und unauffällig wie ein Dorf liegt es mitten in Olivenhainen und Maisfeldern. Der Fremde hat es bald gesehen. Über alles erhaben thront, so nah wie die Jungfrau vom Thunersee, der Gran Sasso und erhebt seine kahle Felsenstirn hoch über das warme Grün der bewaldeten Vorberge.

In Teramo hört die Eisenbahn auf, aber Kursautos führen in allen Richtungen weiter landeinwärts. Wir besteigen den Aquilaner Wagen zu einer genussreichen Fahrt über die Ostkette hinweg. Üppige Kulturen begleiten uns bis an den Fuss des Gebirges, und wir dringen in ein tiefes, schluchtartiges Quertal ein. Zur Sommerszeit hört man kaum in der Tiefe das Wasser rauschen; aber die hohen steinernen Brücken mit ihren starken Pfeilern verraten, dass zur Zeit der Schneeschmelze und in den Regenmonaten sich drohende Fluten talaus wälzen. An der steilen Lehne saust der Wagen in Schlangenlinien dahin, steuert auf kahle Felssporne hinaus und biegt in beschattete Runsen ein. Ponte Paladino heisst eine der obersten Brücken; denn nach dem Volksglauben, der jedes Bauwerk, jeden Berg mit Mythen und Legenden belebt, ist sie von den Paladinen Karls des Grossen hingezaubert worden. Da und dort, etwa alle fünf Kilometer, steigen einzelne Bauern ein oder aus. Woher sie wohl kommen? Nirgends queren wir Dörfer. Wer aber seine Blicke die steilen Talwände hinauf richtet, sieht hin und wieder einige hundert Meter höher ein einsames Kirchlein über niedere, steinerne Übersichtskärtchen des Zentralapennin.

Häuser ragen. Die Schlucht gewährt für Siedelungen keinen Raum; dafür sonnen sie sich über dem obern Rand auf breiten Terrassen. Jenseits der Passhöhe schraubt sich der Wagen in ein geräumiges Längstal hinab und fährt viele Kilometer weit durch Aufforstungen hin, die jahrzehntelange, planmässige Arbeit gefordert haben und heute den Hang bis hoch hinauf in das dunkle Grün der Föhren kleiden.

Aquila! Wohl hundert Meter über dem Talboden horstet das Herzogstädtchen auf freiem Hügel, der ringsum das Tal beherrscht. Weiträumige Palazzi, über achtzig Kirchen und Kapellen und trotzige Mauern erzählen von einer blühenden Vergangenheit, da ein einträglicher Handel mit Wolle, Seide und Klöppelspitzen, mit Safran und andern abruzzesischen Erzeugnissen getrieben wurde.

Zwei Stunden Bahnfahrt versetzen uns nach der Heimat Ovids, dem Städtchen Sulmona, das mit seinen üppigen Kulturen und der wechselvollen Gebirgsumrahmung eine Lage von einzigartiger Schönheit hat. Von fernher grüsst die Gran Sassokette, der wir in Aquila freilich viel näher sind, und auf der andern Seite erhebt sich, nah und wuchtig, die dunstumflossene Majella, ein Berg, an den sich endlose Sagen und Mythen knüpfen.

Wir besteigen in Sulmona die vom Adriatischen Meer herkommende Querbahn und lassen uns in aussichtsreicher Fahrt über die mittlere Hauptkette hinweg nach Avezzano führen. Im Jahr 1915 ist das Städtchen von einem Erdbeben fast völlig zerstört worden und seither neu und modern aus den Trümmern erstanden; aber noch erinnern ganze Quartiere von Notbaracken an das Schicksal, das jedes Jahrhundert ein paarmal die Abruzzen heimsucht. Umgekehrt verkündet die nächste Umgebung den Sieg des Menschen über die Natur. Einst dehnte sich in seiner Nähe ein grosser See, der Fucinersee. Die formschöne, weisse Doppelpyramide des Monte Velino spiegelte sich in den Fluten. Seine Fläche war so gross wie die des Vierwaldstätter- und Zugersees zugleich. Der Kampf um die Trockenlegung seit den Zeiten Cäsars hat im vorigen Jahrhundert mit einem glänzenden Triumph der Technik geendet und ist eine reiche, bewegte Geschichte für sich.

Doch hinaus jetzt in die Stille der Landschaft! Reiner als die Städtchen spiegeln die Dörfer ein Stück entschwundene Zeit. Da sind sie schroffen Felsenhügeln aufgesetzt, und die Häuser erscheinen wie aus ihnen herausgewachsen; oder sie sind im Winkel von zwei sich vereinigenden Bergbächen eng zusammengedrängt, gelegentlich fast wie Schwalbennester an eine Bergwand hingepflastert. Häuser mit dicken, hohen Mauern geben dem Dorf ein festungsartiges Aussehen, und man fragt sich, wo denn wohl der Weg oder gar eine Strasse hineinführen mag.

Wo wir hinkommen, rufen uns die Berge zu ihren felsigen Höhen empor. Sie sind fast alle aus Kalken aufgebaut und stehen hart über der Waldgrenze, oft auch tief darunter, zerklüftet, wild und öde. Um so reiner und unmittelbarer offenbart sich in gewissem Sinn die Bergnatur. Überall herrscht Wassernot, und der Berggänger muss auf Tagesturen und in die wenigen Hütten, die der Italienische Alpenclub hingestellt hat, das unentbehrliche Getränk mitnehmen. Selten begegnet er Wild. Nur im Nationalpark haben sich Gemsen, Bären und Adler erhalten. Sonst ist fast alles zusammen-geknallt oder in entfernte Winkel versprengt worden, ausser dem Wolf, der noch überall sein Wesen treibt und den Schäfern und ihren wackeren Hunden viel zu schaffen macht.

Von den drei Hauptketten, in die sich der Apennin auf abruzzesischem Boden auflöst, ist die Ostkette die lohnendste. In ihr erhebt sich der Gran Sasso d' Italia, mit seinen 2914 Metern der Fürst der Abruzzenberge und des Apennins überhaupt. Er erhält denn auch den regsten Besuch. Daneben gibt es aber noch manche Aussichtswarte, die während der ganzen Sommerszeit auch nicht von einem einzigen Bergsteiger gewürdigt wird. Am bequemsten erreichen wir den Hauptgipfel der Gran Sasso-Gruppe, den Monte Corno, vom Dorf Assergi am Südfuss, dem Ausgangspunkt der jüngst erbauten Gran Sasso-Bahn. Abwechslungsreicher aber sind die Aufstiege von Pietracamela im Norden und, wenn auch mühsamer, von Isola del Gran Sasso im Nordosten. Es hiesse Wasser in den Rhein tragen, wollte ich zu den zahlreichen Schilderungen von Gran Sasso-Fahrten eine neue hinzufügen 1 ).

Die zweithöchste Gebirgsgruppe, die Majella, 2795 m, reich an Höhlen und Karstlöchern, gewinnen wir am einfachsten von Campo di Giove aus, wo im Jahr 1927 die Unterkunft allerdings noch primitiv war. Doch lässt sich, da auf dem Gipfel eine Clubhütte steht, die Tur auch mit einer Nächtigung in Roccaraso, dem bekanntesten Skifahrerzentrum, verbinden, wo man sehr gut aufgehoben ist. Wenn wir zur Abwechslung weniger nacktes Gestein Der Kletterberg Corno Piccolo ( 2637 m ) von Süden.

und wieder einmal zusammenhängende Rasenteppiche unter unsern Füssen spüren wollen, wenden wir uns der Montagna della Laga zu, die bis zu ihrem höchsten Gipfel, dem Monte Gorzano, 2455 m, von Weiderasen überkleidet ist. Diese Gebirgsgruppe trägt ganz anderen Charakter als ihre Nachbarn. Sie ist aus molasseartigem Gestein aufgebaut; Quellen träufeln bis hoch an den Grat hinauf, und das Auge erholt sich nach unsern Fahrten in der blendenden Helle des Kalkgebirges gern an dem Rasengrün und dem braunen Ton des Gesteins. Für Auf- und Abstieg wählen wir am besten Amatrice am Westfuss, heute von Rom aus und anderswoher mit Kurswagen direkt verbunden, oder Campotosto, eines der höchsten Dörfer in prächtiger, freier Aussichtslage, wo wir die Einsamkeit und Abgeschiedenheit abruzzesischen Dorflebens so recht geniessen können.

Von der mittleren Hauptkette locken vor allem der Monte Terminillo, der auf seiner Schulter eine musterhaft eingerichtete Clubhütte trägt, und der Monte Velino, an dessen Fuss in der Entscheidungsschlacht von Tagliacozzo das Staufenheer geschlagen wurde. Beide Gipfel sieht man sehr schön von den Hügeln um Rom, nicht dagegen den Gran Sasso. Eines Besuches wert ist sicher auch der Monte Sirente, nach Aufbau und Form ganz auffallend eine ins dreifache Mass gesteigerte Lägern. Und nicht vergessen wollen wir die waldreiche Marsica im Süden, die sich um das Fremdenplätzchen Scanno gruppiert und den Nationalpark umschliesst.

Für abruzzesische Bergfahrten ist die Zeit vom Juni bis Ende August deshalb günstig, weil man auch in regenreichen Sommern ziemlich sicher mit gutem Wetter rechnen kann. Die Fahrtenschilderer ergehen sich denn auch in einmütigem Lob über die unermüdliche Sonne und den Glanz des Himmels. Ich erzähle nun von zwei sommerlichen Bergfahrten, bei denen mir zur seltenen Ausnahme kein freundliches Wetter beschieden war.

Gewitter am Gran Sasso.

In der ersten Hälfte August des Jahres 1924 haben schweizerische Zeitungen wiederholt von den grossen Schäden berichtet, die das Unwetter in Mittelitalien angerichtet hat. Gewitter von aussergewöhnlicher Heftigkeit sind damals im Zentralapennin niedergegangen. In den Flussbetten, die sonst während der Trockenzeit wasserlos daliegen, hat sich die Wassermenge sintflutartig dahergewälzt, hat Häuser unterspült und Kulturen verheert. Am schlimmsten war das Gewitter vom 9. August. Ich war an diesem Tag auf dem östlichen Kamm der Gran Sasso-Kette und hatte Gelegenheit, es aus erster Hand zu empfangen. Es kommt mich heute noch ein leiser Schauer an, wenn ich an die zwei Nachmittagsstunden zurückdenke, die ich damals zwischen Himmel und Hölle ausgestanden habe.

Der Morgen ging strahlend auf. Ich hatte den Plan, den Ostflügel der Gran Sasso-Kette vom Dorf Castel del Monte aus beim Ferrucciopass, 2270 m, zu überschreiten und nach Castelli, 500 m, auf der adriatischen Seite hinunterzusteigen. Es mochte bereits gegen Mittag rücken, als wir noch eine Stunde Aufstieg vor uns hatten; denn ich hatte einige Vormittagsstunden zu botanischen Streifereien verwendet. Schon seit einer Weile fesselten mich die Wolkenspiele der Gebirgskette entlang. Über uns wölbte sich der Sommerhimmel in blauer Glut, aber jenseits der Hauptkette, auf der adriatischen Seite, wo wir hinunterzusteigen gedachten, sah es finster aus. Es war, als ob Berge von Gewölk Raum suchten und sich in den Gratlücken durchpressten, über den Ferruccio- und den niedrigeren Siellapass. Waren die Wolkenballen einmal auf unserer Seite, so schlichen sie ein Stück weit dem Berghang entlang, wurden aber immer dünner und lösten sich in der trockenen Luft schliesslich ganz auf. Dieses Schauspiel wiederholte sich fortwährend, nur dass immer grössere Wolkenmassen herangewälzt kamen und zu uns herüberdrangen; aber noch brannte die Sonne heiss auf uns nieder, und weithin nach Süden lag das Land in flimmernder Sonnenglut.

Doch plötzlich änderte sich das Bild. Wir mochten etwa 2200 m Höhe erreicht haben, in einer Viertelstunde mussten wir in der Passlücke sein. Da hatte sich der westliche Himmel hinter dem Monte Prena, an dessen Lehne wir emporstiegen, schon verfinstert. Es donnerte, und ich rechnete: bis wir oben sind, müssen wir mitten im Gewitter drin sein. " Was tun? Hütten waren keine mehr zu erreichen. Wir fanden notdürftig Schutz unter einem grossen Steinblock, der auf seinem Sturz den Hang hinunter einmal stecken geblieben war. In einer kleinen Runse wenige Meter daneben verstauten wir unter Blöcken unsere Rucksäcke. Nun fing es auch gleich an niederzuhauen, Regen und Hagel durcheinander. Donner dröhnte, ohne langes Rollen, dafür kurz und heftig. Blitze zuckten rings um uns. Unheimlich waren diese fürchterlichen Zündschnüre, wenn sie aus dem Grau herausfuhren. Über den nackten Boden rieselten viele kleine, aber rasch grösser werdende Bächlein und wälzten Steinchen und immer grössere Steine mit. Da und dort polterte es. Wie, wenn der riesige Block, unter dem wir kauerten, sich in Bewegung setzte? Er lag nur flüchtig auf dem Boden, und um ihn spülte und wühlte immer kräftiger das Wasser. Da fing es auch gleich über uns zu tosen an. In der Schuttrinne, wo unsere Rucksäcke lagen, wälzte sich ein dicker Brei von Erde, Steinen und Hagelkörnern herab, mässig schnell, schwerfällig und hinter sich anschwellend. In ein paar Sprüngen war mein Gefährte bei unserer Habe, hatte sie an den Riemen erfasst und herausgerissen. Einige Sekunden später wäre sie verloren gewesen.

Wir wagten nicht mehr, unter den Block zurückzukehren, sondern traten auf den offenen Hang hinaus. Soweit der Blick in das Grau hinausreichte, war der Boden weiss von Hagelkörnern. Der Regen spritzte hoch auf, und wir wurden erdfarben bis über die Knie. Wo wir den Fuss hinstellten, staute sich das lebendige Wasser und zischte an uns hinauf oder der Boden löste sich unter den Sohlen, und wir rutschten. Das Wasser schien nirgends versickern zu können. Wie eine bewegliche Tapete zappelte es über den nackten Boden hin. Wir traten den Abstieg an. Aber je tiefer wir kamen, zu desto grösseren Sturzbächen hatten sich die zahllosen Bächlein vereinigt. Links und rechts schossen reissende Bäche zu Tal und versperrten uns den Abstieg, so dass uns nur übrig blieb, am Hang zu warten, bis sich die Wasser einigermassen verlaufen hatten.

Mehrere Gewitter waren über uns weggezogen. Volle zwei Stunden hatte das Unwetter gerast.

Wir bemerkten einen Hirtenbuben, der mit geschlossenem Schirm quer über den Hang lief. Auf einer erhöhten Stelle warf er den Schirm verdrossen zur Erde und eilte zu seinen Schafen hinüber, die eng gedrängt beisammen-standen. Wie versteinert standen sie da, mit starrem Blick. Dann und wann drehten sie traumhaft den Kopf. Viele zuckten mit den Beinen.

Allmählich erschien unter uns der breite Talboden des Campo Imperatore, dessen grosse Kiesflächen wir beim Aufstieg überschritten hatten. Hier erlebten wir ein unvergessliches Naturschauspiel. Diese Kiesflächen waren am Vormittag noch völlig trocken gewesen. Nun brach die Sonne blendend durch das weisse Gewölk, und über den Schotterebenen fing es an zu schimmern von grossen Wasserlachen, die immer grösser wurden, ineinander überflossen und sich in breitem Strom in Bewegung setzten. Die gewaltigen Schotter wurden von den herabstürzenden Wassern völlig durchtränkt. Nun waren sie, wie ein Schwamm, vollgesogen. Das Wasser stieg darüber empor und floh langsam talaus. Wir schritten dem seltsamen Gewässer entlang, das halb See, halb Fluss war und vor unsern Augen immer drohender aus dem Boden emporstieg. Überqueren konnten wir es nicht. Ein zweites Mal war uns der Rückweg versperrt. Als sich die Fluten endlich etwas verteilt und verlaufen hatten, gewannen wir das letzte Stück unseres Weges nach dem Dorf Castel del Monte. Die Sonne strahlte am Abendhimmel und wärmte uns durch die nasskalten, kotbespritzten Kleider.

In der Frühe des nächsten Tages wollten wir mit dem Kursauto nach Aquila zurückfahren, einer der nächsten Bahnstationen — immerhin in 42 km Entfernung. Da hiess es, die Strassen seien vom Unwetter aufgerissen; der Verkehr sei für einige Tage gesperrt... Einige Tage! Das stellte unsern Reiseplan arg auf den Kopf. Um von Castel del Monte wegzukommen, brachen wir sogleich wieder zum Ferrucciopass auf. Aber zur gleichen Zeit und an derselben Stelle überfiel uns wieder ein heftiges Gewitter, zwar weniger schlimm als tags zuvor. Wir gaben unsern Plan zum zweitenmal auf und liessen die Kleider in der Sonnenwärme an unsern Leibern trocknen.

Am nächsten Tage fuhr das Auto mit uns nach Aquila. Es war aber eine Fahrt mit Hindernissen. An der schlimmsten Stelle mussten wir aussteigen und eine Wüstenei von Blöcken und Geschiebe überqueren. Auf der andern Seite wartete ein anderes Auto auf uns.

In den folgenden Tagen waren die Zeitungen voll von Jammer über die Millionenschäden.

Nebel auf der Laga.

Sechsmal war ich in den Jahren 1922—1928 in den abruzzesischen Bergen. Aber nie war das Wetter so launisch wie im Hochsommer 1924. Alle paar Tage stand man vor neuen Überraschungen. Die « mittelmeerische Sommerdürre », diese unumstössliche Lehrbuchweisheit, ging häufig zuschanden.

Nebelbildungen in der Gipfel- und Gratregion fielen mir besonders auf. An den schönsten Nachmittagen kleidete sich der Monte Sirente, etwa von 2100 m an aufwärts, in einen langen Schwaden von Gewölk. Dieser nahm mit den Stunden an Grösse gewaltig zu, und abends war er wieder verflogen. Desgleichen am Gran Sasso, nur dass dort noch Blitze zuckten.

Der Morgen des 12. August stieg mit den schönsten Verheissungen empor. Über Aquila wölbte sich ein wolkenloser Himmel. Auf, über die Laga! Am Vormittag verliessen wir im obern Vomanotal das Teramaner Kursauto und stiegen durch zerzaustes Gehölz zum waldlosen Becken von Campotosto empor, und in den ersten Nachmittagstunden erklommen wir bei drückender Hitze den Grat der Laga. Schon am Anfang unserer Gratwanderung hatten sich einzelne Gipfel und Gratstellen in Nebel gehüllt; doch verflogen diese Nebelhauben immer wieder, und ich sah dem Spiel mit Vergnügen zu. Westwind blies heftiger; das Gewölk setzte sich breiter und dichter auf den Kamm der Laga, und ich ahnte, dass wir den Rest der Wanderung im Nebel zurückzulegen hätten. Rechtzeitig konnte ich noch von einem erhabenen Punkte aus den vor uns liegenden Grat ins Auge fassen und seine Formen, den Schichtenverlauf der Gesteine, die Steilheit und Berasung mir flüchtig einprägen. Dann senkte der Himmel seine grauen Kulissen auf uns hernieder.

An Hilfsmitteln hatte ich die Karte 1: 100,000 bei mir, die das Auf und Ab des gewundenen Grates grob wiedergab, sowie ein Aneroidbarometer, dessen Zeiger nach den Launen des Wettergottes tanzte, dazu die Uhr, mit der ich zurückgelegte Höhenunterschiede und Entfernungen annähernd errechnen konnte. Dagegen war ich ohne Kompass, denn im Vertrauen auf das unverwüstliche Sommerwetter hatte ich ihn in Aquila, unserm Standquartier, gleichgültig au andern Sachen gelegt. Dafür bescherte mir das Wetter einen trefflichen Ersatz: nicht die Sonne, denn die war für diesen Tag nun einmal weg. Es war der Wind. Er setzte immer heftiger ein, so dass wir uns in den Gratlücken breitbeinig und gegen ihn gestemmt vorwärts kämpften, mit einem Arbeitsaufwand, als hätten wir einen schweren Karren zu ziehen. Aber ich dankte ihm im stillen dafür, dass er ohne Unterlass West-Ost über den Grat fegte. Nichts hemmte in dieser freien Lage seinen Lauf, und wenn wir in spitzem oder stumpfem Winkel die Windrichtung schnitten, so musste ich annehmen, dass die Gratlinie östlich oder westlich ausbog. So war denn der Wind mein Kompass und wurde keinen Augenblick müde, mich zu orientieren. Er verhinderte vor allem, dass wir auf östliche Nebengräte abirrten, denn dadurch wären wir in ganz andere Täler hinuntergeraten, als mir im Plane lag. Mein Ziel war nämlich der Bosco di Martesa mit seinen urwüchsigen Weisstannen. Ein Abschwenken nach Westen war nicht zu befürchten, da der Grat dorthin fast überall schroff abbricht. Wenn es tief links unter uns heulte und rumorte, dann durfte ich mich der Überzeugung hingeben, dass wir uns noch auf dem Hauptgrat befanden. Der Kompass arbeitete wirklich wacker, wenn auch grob. Er peitschte nasskalten Nebel auf uns, bis Haare und Kleider troffen, so dass die Schwüle des Tages reichlich ausgeglichen wurde. Gelegentlich drückten wir uns daher ostwärts in den Windschatten hinaus, freilich immer nur für kurze Zeit, da ich nicht wagte, den Hauptkamm unter meinen Füssen wegzugeben.

Nach Stunden meldete sich eine neue Schwierigkeit: es dunkelte, die Sonne musste untergegangen sein. Die Zeiger der Uhr und des Barometers hüllten sich in Finsternis, und von der Karte prägte ich mir beim letzten Schimmer des versinkenden Tages das Nötigste ein. Nur der Kompass blieb mit gleich stürmischer Deutlichkeit ablesbar. Aber nach meiner Berechnung mussten wir nun auch da angekommen sein, wo wir nach rechts absteigen durften. Richtig! Die Zeichen erfüllten sich. Wir schritten in der Finsternis die nächste Umgebung in kleinem Umkreis ab. Sehen konnten wir fast nichts; aber unter unsern Füssen spürten wir einen Fusspfad, der hier über den Sattel führte. Geländeform und Meereshöhe stimmten ungefähr mit dem Kartenbild überein. Endlich schien der Wind nach Südwest-Nordost abgedreht zu haben. Auch das bestärkte meine Zuversicht; denn nur hier konnte der Grat mit dem weit vorspringenden Monte Moscio den Wind in diese Richtung hineinzwingen.

Also bogen wir rechts ab auf einen sanften Seitengrat, der mit weichem Rasen gepolstert war. Wir mochten unter die 2000 Meter herabgestiegen sein. Da gerieten wir auch schon aus dem Nebel heraus. Der Blick weitete sich. Die Wolkendecke zerriss, Sterne blinkten, der Mond erschien und liess uns die Wegspur nicht mehr verlieren. Zu unserer Linken tat sich nächtlich schattenhaft ein tiefer Talblick auf. Und siehe da! Zwischen Buchenkronen ragten die Wipfel riesenhafter Weisstannen. Erreicht! Denn Weisstannen wuchsen nur im Martesawald.

Weidende Pferde begegneten uns auf dem waldlosen Rücken. Sie standen verschlafen umher oder taten traumhaft ein paar Schritte über den nebel-gebadeten Grasteppich hin. Wir gingen hart an ihnen vorbei, sie staunten uns an, aber rührten sich nicht.

Nun tauchte das Grätlein, je mehr es sich senkte, allmählich in Wald unter. Wir hielten uns streng an den Weg und behielten die Umgebung, soweit sie zu überschauen war, mit einiger Vorsicht im Auge, da man nachts in den Wäldern vor Wölfen nie ganz sicher ist. Etwa 500 Meter tief zickzackten wir hinab. Es konnte nicht anders sein, als dass er zu irgendeiner Behausung führte. So kam es auch. Er mündete vor eine Baracke, und wir hörten sprechende Menschen.

Woher wir kämen, fragten die paar verwunderten Leute.

« Von Aquila. » Darob grosse Augen und ungläubige Blicke.

Wo wir schliefen, weiss ich nicht mehr recht. Betten hatten wir keine. Es war in einem engen Winkel, zwischen Säcken und allerlei Vorräten und viel Krimskrams. Gegessen haben wir nicht mehr viel, aber geschlafen haben wir wie Bären und tief in den hellen Morgen hinein.

Der neue Tag brachte ordentliches Wetter. Ich konnte den urwüchsigen Wald mit seinen kalifornisch anmutenden Weisstannenriesen nach Herzenslust mustern. Stämme von anderthalb Meter Durchmesser waren keine Seltenheit. Wir durchstreiften den wilden Wald kreuz und quer und labten uns reichlich an Erdbeeren, Johannis- und Heidelbeeren; aber besonders taten es uns die würzig duftenden Himbeeren an. Nahe der Waldgrenze, kaum fünf Minuten seitab vom gestrigen Pfad, stiessen wir auf Köhler und rauchende Meiler. Wir hätten uns also einen Auf- und Abstieg von je 500 m ersparen können!

Bei 2166 m standen wir im Sattel auf dem Kamm der Laga, wo sich das Passweglein nach Amatrice 900 m hinunter senkt. Hier hatten wir, wie Nachtwandler, am Abend zuvor mit den Schuhen schlurfend das Gelände abgetastet. Heute eine Welt mit aller Farben- und Formenfülle.

Der Abstieg verlangte vier Stunden. Wieder gerieten wir in die Nacht hinein; denn wir waren spät aufgebrochen und hatten uns in dem herrlichen Wald, der inzwischen nun wohl dem Beil und der Säge ganz zum Opfer gefallen ist, allzulange aufgehalten. Aber das Ziel war diesmal leicht zu finden. Menschen und Wege waren da, und in der Ferne schimmerten die Lichter von Amatrice. Sogar über eine grosse, unvollendete Brücke balancierten wir, über klappernde Bretter und wackeliges Gebälk, hinüber auf eine im Bau befindliche Strasse.

Diesmal bekamen wir Betten. Aber wir schliefen schlecht, denn es plagten uns kleine Sechsbeiner. Das war tatsächlich die einzige Begegnung mit diesen Tierlein während meiner sechs Abruzzenreisen. Mein Kamerad wurde nicht müde, Kerze um Kerze abzubrennen, und als die letzte an die Reihe kam, half der aufsteigende Tag, das lichtscheue Gesindel vertreiben.

Wir beeilten uns, das Kursauto nach Antrodoco zu bekommen. Unter Platzregen und Gewitterdonner fuhren wir davon. Da hiess es plötzlich: Aussteigen! An einer Stelle, wo die Strasse in steil abstürzende Felsen eingesprengt ist, hatte sich ein Murgang den Hang herunter ergossen und 50 m weit die Strasse bis zur Brüstung hinauf angefüllt. Jeder fasste sein Gepäck und balancierte auf dem Mäuerchen zwischen Brei und Abgrund dem Auto zu, das uns auf der andern Seite erwartete. Einigen schwindelte es, und sie zogen vor, tief ins Bachbett hinunter- und jenseits wieder hinaufzuklettern.

Die Weiterreise nach Aquila geschah in der rumpeligen, rauchenden, aber gemütlichen Abruzzenbahn.

Literatur.

Ein vorzüglicher Reiseführer ist die vom Touring Club Italiano herausgegebene Guida d' Italia, Band 1. Wer der italienischen Sprache nicht mächtig ist, halte sich an Baedekers « Süditalien », der zwar viel weniger ausführlich, aber sehr zuverlässig ist.

Eine allgemeine Charakteristik gibt mein Buch « Die Abruzzen », Verlag Herder, Freiburg i. Br., 1931. XII u. 125 Seiten, 31 Bilder und 7 Kärtchen. Darin ist auf weitere Literatur verwiesen.

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