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Aus den Tessinerbergen

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Von

O. Rœgner ( Sektion Basel ).

Der Bergwanderer, der die südliche Alpenabdachung kennen lernen will, wird meist durch die Walliser Majestäten abgelenkt, deren Wucht, wundervolle Gruppierung und Adel der Einzelerscheinung naturgemäss bestechen. Anderseits sind es die Bernina-riesen, die gleicherweise fesseln, so dass Gegenden, die nicht so offenkundig mit Reizen prunken können, leicht übersehen werden. Zu letztern gehört neben dem Heer der Rheinquellberge das Tessiner Land. Den von Norden Kommenden wird die Gotthardbahn meist rasch in sonnigere Gefilde bringen. Während der an sich schönen Fahrt hat er aber gar keine Gelegenheit, sich über den wahren Charakter des Landes zu orientieren, denn dessen Schönheiten erschliessen sich erst dem, der sich die Mühe nimmt, die aussichtsreichen Terrassen über den Talschluchten zu ersteigen, wo er allerdings dann gefesselt bleibt ob der ebenso eigenartigen wie anziehenden Vermischung strenger Urgebirgsnatur und des Zaubers südlich heiterer Lande.

Wer einmal so das Tessin sah, wird sich dessen immer gern erinnern, und wenn ich an die vielen dort verbrachten Tage denke, wird mir das Herz weit. Erinnerungen steigen so leuchtend auf, dass vieles Dazwischenliegende aus dem grauen Alltag verwischt wird und so das dem Durchhastenden als ärmlich und wenig interessant scheinende Tessin reich an Schätzen wird, die jeder Schönheitssucher gern in sich aufspeichern wird, sind es doch Werte, die keine Macht ihm rauben, noch beschneiden kann.

Am leuchtendsten sind mir die strahlenden Wintertage im Gedächtnis, an denen, wenn volle Sonne auf den tiefverschneiten Steilflanken der Granitrecken liegt, jeder dieser im Sommer unansehnlicher erscheinenden Einzelberge jetzt eine Individualität bedeutet, in einem Meer von Licht sich badend, von den scharfen Schatten der tiefgerissenen Täler gehoben. Doch nicht allein wintersüber beut das Tessinerland solch leuchtende Kristalle für die Erinnerung; einzigschön sind die Frühlingstage dort. Wenn anderwärts noch tiefer Schnee auf der Landschaft im Norden lastet, ist hier in die Täler bereits der Frühling eingezogen, ein Bruder des südlichen Frühlings mit leichterem, froher gefärbtem Gewände, der gerade im Gegensatz zu den noch verschneiten Hochgebirgsriesen nun Landschaftsbilder grössten Reizes schafft, die von Tausenden auf ihrer Hast nach dem Süden wohl im Vorbeifliegen bewundert, aber nicht seelisch aufgenommen werden.

Und wenn dann im Sommer Hitze über dem Vorland liegt, dass der Städter gern dem Häusermeer entflieht, dann bieten die weiten, so wenig besuchten Tessingebiete viele Möglichkeiten, ebenso schöne und interessante Bergtouren zu unternehmen, wie auch im stillen Streifen und Geniessen ein Land und Völkchen kennen zu lernen, das wert ist, eingehender studiert zu sein. Herbst aber spannt leuchtend blauen Himmel über die Kämme und Gipfel rechts und links des Flusses, der dem Kanton seinen Namen gab, scharf sind die Konturen gerissen, weit dringt der Blick in die Ferne, hinab in die Talschluchten, wo fleissige Menschen der herben Natur in emsiger Arbeit noch unglaublich viel abringen, wo der Rebstock gedeiht und Kastanien wundersam heilige Haine bilden.

Leider hat mir mit Zuweisung des mittlern Tessins der Herr Redaktor sehr enge Grenzen gezogen; erst die in letzter Minute bekommene Erlaubnis, noch wenige anschliessende Bergfahrten im angrenzenden Gebiet anzugliedern, gibt mir die Möglichkeit, auf die Fülle des Schönen hinzuweisen, das hier so gedrängt sich bietet. Seltsam, dass gerade mir, der ich in grossen, felsdurchsetzten Gletschergebieten das Idealland für Hochtouristik erblickte, dies anfänglich weniger anziehende Tessingebiet rasch so wert geworden ist. Es müssen wohl Kräfte im Ländchen schlummern, die erst beim Streifen wirksam werden. Möchten doch, durch die folgenden Zeilen angeregt, recht viele denselben Zauber verspüren.

Poncione di Vogorno ( 2447 m ).

Wenn man von Bellinzona mit der Bahn luganowärts dampft, wird mit dem erneuten Steigen der Bahnstrecke bald wieder der Blick frei auf die Tessintal-sohle, an deren Ende westlich ein blauer, meist unbeweglich leuchtender Seespiegel das Interesse der Reisenden gänzlich beansprucht, ist es doch der Nordzipfel des berühmten Lago Maggiore. Erst wenn man mehrere Male dieselbe Strecke befahren hat, beginnt auch das Gelände ringsum das Interesse zu wecken; die über dem breiten Tal nördlich aufstrebenden Gebirgsmassen, wuchtig und steil, gliedern sich erst nach längerem Studium. Dieses zur Südabdachung der Alpen weit vorgeschobene Massiv zwischen Verzasca- und Tessintal hatte ich mir zu Frühjahrstouren auserkoren, da es einesteils gute Einblicke in die Wirrnis der Berge des Mitteltessins versprach und ich mir weite Ausschau nach dem sonnigen, blütenreichen Südzipfel des Schweizerlandes von da erhoffte.

So wurde es Mai, bis ich den mehrfach verschobenen Plan ausführen konnte. Allein, wie so oft auf jenen Tessinfahrten, eilte ich wieder von Mailand nach Beilenz und hatte nur, als vom Ceneri ab der Pizzo Claro sich in mächtigem Neuschneekleide zeigte, Bedenken, da dieser Umstand am kommenden Tage mir viel Mühe auf Poncione di Vogorno und Madone schaffen musste. Später Abend war 's, als ich in Gordola-Verzasca durch die Weinberge zur Kehre der Strasse hochstieg, die ins Verzascatal zieht. Rasch war die Nacht da, mondlos, nur sternfunkelnd, doch lau und voll Blütenduft und Frühjahrsfreudigkeit. Tausend Grillen zirpten an den Rainen, das Strassenband schmiegte sich all den unzähligen Runsen der Talsteilwände an, von denen nur selten aus einsamen Berghöfen ein Lichtlein verloren niederblinkte. Schwere Mühe hatte ich noch, im endlich erreichten Vogorno mir Quartier zu verschaffen, dann aber folgten ein paar traumlose, nervenstärkende Stunden tiefen Schlafes. Im ersten Dämmern des kommenden Tages schritt ich rüstig den holprigen Steig zu den armseligen Hütten von Vogorno hoch, unter den Rebhecken hindurch gegen Osten, in die Val Porta mich wendend. Einer der liebenswürdigen Gesinnungsgenossen aus Beilenz hatte mir am Vorabend rasch noch einen Bürstenabzug des Abschnittes « Verzascaberge » des neuen Tessinführers in die Hand gedrückt, so dass ich nicht ganz ratlos dastand. Verzwickter aber als der eigentliche Berganstieg ist im Tessin immer der Aufgang zu den Hochtälern im Bereich der Siedlungen und Kulturen zu finden. Hier kann kein Führer raten, es gehört eine Art Spürsinn dazu, aus dem Vielerlei sich kreuzender und abzweigender Wege in Weinbergen und Berggärten sich zurechtzufinden. Dieser Instinkt kann nur durch fleissiges Begehen solch verworrenen Geländes geweckt werden.

An jenem Morgen hatte ich ebenfalls haarscharf aufzupassen. Einmal über dem rauschenden Bergwasser der Val Porta war jeder Zweifel behoben, das schmale Tal hinauf sieht man eine Art Steintreppe am Steilhang ziehen, dort geht 's zu den Monti Moscioi. Zuerst folgten schöne Kastanienbestände, darin zahlreiche Singvögel den eben angebrochenen Tag zu loben begannen. Kaum aber war der erste Sonnenstrahl übers Gebirge geblitzt, verschlangen ihn schon neidische Wolkenballen, und ein unbestimmtes, graues Licht lagerte über der Landschaft. Bald nach dem Übersetzen des Bergbaches, der als Frühtrunk köstlich klares, frisches Wasser bot, ist die Gemütlichkeit zu Ende, in ziemlich steilem, stetem Anstieg führt die vorerwähnte Felsentreppe an der jähen, rechten Talwand hoch zu den kleinen Steinhütten der Monti Moscioi, die eben bezogen wurden. Eine Schale frischer Ziegenmilch bot mir hier den Vorwand, ein wenig zu verschnaufen; wenn ich nicht etwas « Milanes » verstanden hätte, wäre ich bei der gesprächigen Alten wohl weniger gut angekommen.

Ein breiterer Alppfad führt von hier um eine Bergschulter zur Alpe Rienza. Halbwegs kam mir eine dralle Dirne entgegengehüpft — Sapristi —, das war doch noch Urnatur und gesunde Fülle in jenem Naturkind. Wie schlecht schnitten beim Vergleich da die Stadtdämchen ab. Knorrige Buchen stehen noch allerwärts, dann wird die noch unbezogene Alpe Rienza passiert; lichter Buchenwald folgt, der in schüttere Föhrenbestände übergeht, bis die Bäume des Kämpfens müde sind und die Almen dominieren lassen.

Als die einsamen Hütten der Alpe Brughera um 6 Uhr 15 Min. erreicht waren, lagerte ich am sprudelnden Wasser eine Weile, ein karges Frühmahl zu nehmen, zu sehen gab 's nicht viel. Vogorno und Madone hielten sich in dichten Nebeln, nur einmal riss der Schleier gen Süd und zeigte auf eine Minute drunten den unbeweglichen Spiegel des Langensees. Eine Viertelstunde später ging 's weiter die vegetationslosen Halden hinan. Geröll und Steinschutt ist massenhaft hier als Material für Steinmänner, in deren Erbauung die Tessiner Hüterbuben Meister sind. So dokumentiert das deutlich etwas später ein grosser, kunstgerecht gefügter Steinmann höher droben im Kar, der die Richtschnur bildet, wohl für einen der überall sehr hoch liegenden Pässe.Von hier ab herrschten völlig winterliche Verhältnisse. In ansehnlichen Mengen lag alter Schnee zwischen den grossen Blöcken, und nur zu oft versank ich in diesen Löchern bis zum Leib, ob dieser Art Alpinismus greulich fluchend. Einmal aber riss doch der Nebelschwaden und zeigte auf Momente mir die Anstiegsseite, der Augenblick hatte genügt, mich zu orientieren. Der von Rienza steil hinanführende Kamm wird oben felsig und zwingt zum Ausweichen. Eine Scharte in diesem Grat ersah ich mir als Zielpunkt und strebte zwischen den heillos verschneiten Blöcken der dorthin führenden Rinne entgegen. Am Bergmassiv selbst gab 's dann ein hartes Ringen mit nassen, rutschigen Platten, Graspolstern und triefenden Blöcken; jeder Tritt musste in dem glitschigen, jähen Terrain genau geprüft werden. So schwindelte ich mich im wahren Sinne des Wortes zum Grat hoch, der reichlich Schnee trug, mich aber doch leichter, wenn auch langsam zum Ziele führte. In dichtem Nebel erreichte ich die Spitze des Poncione di Vogorno, die wieder ein mächtiger Steinmann krönte. Kein Gipfelbuch vorfindend, klemmte ich meine Karte zwischen die Blöcke, den Tessiner Klubkameraden den Gruss des Mailänder Zunftgenossen hinterlassend. Im Augenblick des Abstieges bot sich wieder ein karger Blick aus dem wogenden Nebelgrau auf Maggiore, die Maggiamündung, Tamaro und Ghiridone, dann zeigte für Momente drüben der Madone ( 2405 m ) seine gleichmässige Pyramide und reizte zum Besuch. Die Abstürze in die Steil-tiefe gen West und Nord blieben nur einen Augenblick frei; war 's da ein Wunder, dass ich bald den Grat zurückturnte? 11 Uhr 40 Min. lag der feuchte Kamin mit den rutschigen Platten über mir, der Rucksack flog auf die Schultern und weiter ging 's. Den Pass zwischen den beiden Gipfeln passierend, wanderte ich nun unter den senkrechten Felswänden, aus denen der Madonegrat sich hier zusammensetzt, ostwärts. Von den Platten oben tropfte es in seltener Gleichmässigkeit und Dichte, so dass ich froh war, als wieder geneigteres Gelände kam, das aber wiederum Vorsicht erforderte, denn auf den schrägen Graspolstern lag der nasse Schnee sehr locker auf. Schliesslich, wie ich beinahe am Gipfel des Madone war — ich stand bereits am Anfange jenes Risses, der, ungefähr 30 m an Höhe messend, den letzten Teil des Madoneanstieges darstellt —, gab ich 's auf, noch die allerletzte Höhe zu erklimmen, sehen würde ich ja doch nichts, denn inzwischen war das Wetter geradezu toll geworden, rauher Wind fegte über die Höhe und trieb die Schneekristalle, die zur Abwechslung dem Regen gefolgt waren, mir ins Gesicht.

So strich ich bei zirka 2370 m ( der Madone selbst hat 2405 m ) am Kulminationspunkt vorbei und beeilte mich, auf der andern Seite einen Einblick zu erhaschen, denn der Weiterweg durch die Val Moleno war immer noch etwas fraglich. Hätte ich anstatt der Eisen die Schneereifen mitgehabt, so wäre ich besser vorwärtsgekommen; so sank ich auf dem zur Bocchetta di Val Moleno führenden Kamm scheusslich ein, schliesslich war mir die Sache zu dumm, und in einem freien Augenblick mich rasch orientierend, stampfte ich geradewegs der Taltiefe über die steilen Hänge zu, natürlich oft noch fluchend und schimpfend ob des Versinkens im haltlosen Tauschnee. Durch eine grosse Rinne fuhr ich zum Schluss rasch ab und verfolgte dann den Bachlauf, auf dessen Boden zum Glück etwas fester Lawinenschnee lag, so weit, bis ich rechts heraussteigen konnte, um die erste Alm, an der bereits aperer Boden sich zeigte, zu erreichen. Ein flüchtiger Überblick gab mir die Gewissheit, dass ich ziemlich eilen müsse, um zu dein Nach-mittagszuge, den ich mir in den Kopf gesetzt hatte, noch nach Claro hinabzugelangen. Hier unten war ich bereits aus dem Bereich der treibenden Wolken heraus, jedoch noch nicht aus dem des Regens, der mich unaufhörlich, bald stärker, bald schwächer, weit hinab verfolgte.

Die Val Moleno, die ich nun im Abstieg benützte, ist eines jener charakteristischen Tessiner Täler, von steilen, oft recht markanten Bergen eingefasst, vom rauschenden Wildbach durchflössen, die jähen Felshänge mit Vegetations-grün geziert; ein eigenartiges Bild, das nur im Alpsüden möglich ist. Wie da zu dem Schwarz der himmelhohen Felswände das düstere Grün der Tannen wirkt, in das die frische Maigrünfarbe der jungen Buchen lichtfroh eingestreut ist, wie der Bach durch die Schluchten braust und donnert und den Weg zu vielerlei Umwegen bergauf zwingt, denn die Talwasser gehen hier meist in unzugänglicher Schlucht dem Tessin zu, all das kann man nur im Tessin sehen. Wäre nicht die Vegetationsverkleidung, wahrhaftig, das Tessiner Bergland wäre mit seinem eigenartigen Aufbau eine der wildest erscheinenden Gegenden.

So wanderte ich im leichten Regenriesel talwärts, freute mich der eigenartigen Formen, dje die knorrigen Stämme alter Kastanien mir zeigten; in der Mitte des Tales übersetzte ich dann auf steinerner Bogenbrücke den Bach, der im tollen Wirbel in einer engen, im Laufe der Jahrhunderte kunstgerecht gesägten Felsenklamm verschwindet, und pilgerte zum andern Ufer, immer in gleicher Höhe bis zur ersten Alm, wo ich drunten das Tessintal erblicken konnte. Im tollen Laufe ging 's von da die steile Stiege hinab, oft führt das schmale Stieglein an senkrechter Felswand über dem Haupttal hin; ein falscher Tritt in dem nassen, rutschigen Gelände könnte hier ungewollt rasch zur Tiefe fördern. Endlich, nach ermüdender Stolpere! über Stock und Stein, kam die Talsohle näher, vor Moleno wurde das Talwasser überschritten, durch triefendes Brombeergesträuch eilte ich zum nahen Orte Preonzo, von da nach Bahnhof Claro, um zu hören, dass der Zug, den ich mir ausersehen hatte, nur wochentags fahre.

So blieb mir nichts anderes, als im Regen weiterzuwandern, die Gotthardstrasse hinab. Nach Castione berührte ich Arbedo, diesen für die Geschichte der Eidgenossenschaft so bedeutsamen Ort, um wenig später Bellenz zu erreichen. Auf die hohen Blütenkerzen der Kastanien strömte der Regen herab, die Reben, die hier in origineller Weise gezogen werden, standen in Blüte, doch mir war der Rebensaft lieber, den ich mir zum Lohne für meine Ausdauer selbst verschrieb und reichlich einnahm. Und als ich wieder heimwärts dampfte, hatte doch trotz der unheimlichen Nässe mich die Erinnerung an das frischgrüne, eigenartige Tal von Moleno, jenem Urtyp eines Tessintals mit seinen senkrechten Wänden, schroffem Aufbau, der grünen Vegetationszier, das Ungemach wieder vergessen lassen, und der Berggott wird es mir auch sicher verzeihen, dass ich 30 m unter dem Madone durchgestiegen bin, ohne den Steinmann berührt zu haben.

Pizzo di Claro ( 2779 m ).

Als wieder einmal das nächtliche Dunkel des Ceneritunnels dem zauberhaften Tiefblick auf die breite Ausmündung des Tessintales in den Lago Maggiore wich, war ich von dem Anblick des Pizzo Claro, der da gerade über Bellinzona wuchtig sich aufreckt, ganz gefangen. Oft war ich unter seinen Wänden entlanggefahren, nun sollte es auch ihm gelten, und so zog ich denn eines Samstag abends in Claro ein. Ein kurz vorher sich entladendes Gewitter beeinträchtigte meine Stimmung arg, als aber 3 Uhr morgens der Taschenwecker ratterte, zeigte mir ein Blick hinaus nur noch schwachen Dunst, durch den die Sterne glitzerten. Der Anblick half beim Ankleiden, wenig später nahm ich am plätschernden Hofbrunnen meinen ersten billigen Frühtrunk und schritt leichten Körpers bergwärts. Seit einigen Jahren hatten mich die steilen, wasserarmen Südgebirge veranlasst, früh stets stundenlang ohne Frühstück zu gehen, man steigt bequem, schwitzt nicht sofort und kommt rascher zur luftigem Höhe. Mit dem System hatte ich mich gut eingerichtet und kann es Leuten mit einiger Energie nur empfehlen.

Im verschlafenen Ort Claro ging ich mit einer mir selbst seltsam vorkommenden Sicherheit durch die Gassen und hatte bald darauf den rechten Pfad zum Kloster erwischt, das ich abends noch hoch oben erspäht hatte. Ein wahrer Sündenbuss-weg, so führt durch eine kleine Schlucht der steile, gepflasterte Pfad aufwärts, an Kapellen vorbei, die an den Kehren zum Rasten laden. Wie ich dann auf der Bergnase stillstand, auf der die Klostergebäude gegen das Tal schauen, kam die Dämmerung sachte übers Gebirge und stahl sich zwischen den breitausladenden Ästen der Kastanien durch. Noch schwebten die grauen Schatten dei'Nacht im Tal, nur die Lichter der Bahnanlagen von Bellenz blinkten aus dem Dunst. Auf den Höhen darüber gewann hellerer Schein zusehends an Macht.

In dichtem Kastanienwald geht 's dann in gleichstarker Steigung hinan, feuchtwarmer Dunst lag unterm Blätterdach und vielstimmiger Vogelchor lobte den Schöpfer aller Kreatur. Aber ich atmete doch freier, als Nadelbestände den Laubwald ablösten und auf den freien, herben Duft versendenden Almwiesen die elenden Sennhütten von Moraso auftauchten. Eine grosse Schale Milch ward hier mein Frühstück, während der knappen Rast konnte ich jenseits des Tales die Gegend studieren, die mich zwei Wochen vorher mit der elenden Schneestampferei am Vogorno erprobt hatte. 6 Uhr 40 Min. ward aufgebrochen, in derselben Richtung und gleichstarken Steigung jetzt Nadelwald querend, durch dessen Lücken ab und zu Tiefblicke ins Tal sich boten oder der Kopf des Piz Claro durchs Geäst hereinschaute, zu flottem Ausgreifen ermunternd. Husch, flog ein minnender Birkhahn der Henne nach, als ich bei einer kleinen Lichtung über den weichen Waldboden tappte. Schwächer wurden jetzt die Baumbestände, man konnte den Gipfelanstieg bereits etwas verfolgen, zum Glück führt der noch lange auf der Westseite, wo die Sonnenstrahlen ob des Steilgehänges erst spät einfallen. Dem zurückweichenden Baumwuchs folgen nun jähe, oft von Felspartien unterbrochene Graslehnen, an denen ich mich hochmühte. Freilich zwang die Steilheit manche Verschnaufpause ab, aber die nutzte man gern, um die sich mächtig entwickelnde Aussicht schon zu geniessen.

Endlich war der Sonne nicht mehr auszuweichen, in kurzer Zeit stand ich droben auf dem Gratrücken, der mir bisher den Einblick in die Val Calanca ver- Jahrbuch des Schweizer Alpenclub. 56. Jahrg.,o sperrt hatte. Knarrend flog ein Schneehuhn auf, als der Einsame in der Öde auftauchte, den Rucksack deponierte und nur mit Pickel und Apparat belastet zu den ersten Absätzen über den Grat sprang, deren Fuss noch auf altem Schnee umgangen werden konnte. Auf Grasbändern ein wenig in die Südflanke abgehend, stieg ich dort in einer tiefen Rinne links ein und hatte dank dem reichlichen Schneebelag den eigentlichen Grat auch bald erreicht, nur der Übergang vom Schnee zum Fels machte Schwierigkeit, auch das grosse Schneefeld, das in der Westflanke mir zum Gipfel helfen sollte, bot deren noch ein paar, denn der Schneebelag auf den Platten war sehr fraglich und dünn. So ward ich besonders hier des mitgeführten Pickels froh. In bedächtigen, aber weit ausholenden Schritten wurden die letzten Geländestufen überwunden, so dass ich 10 Uhr 30 Min. als Ankunftszeit auf dem Pizzo Claro notieren konnte.

Der ungemein strenge, ununterbrochene Anstieg hatte sich aber doch sehr verlohnt, denn das gestrige Gewitter hatte den ganzen Horizont freigefegt, wie man 's im Tessin um diese Zeit nicht oft erlebt. Wie von hohem Aussichtsturm schaut man von hier in die Massive hinein, die das Tessinbecken, das Brenno-und Calancatal, das Misox und den Sottoceneri umgeben. Wer in dem Gipfelgewirr sich zurechtfinden will, muss schon eine gute Zahl Touren in ihnen hinter sich haben. Darum wäre es auch ein Unsinn, wollte ich hier Namen nennen, damit den Gesamteindruck, der gross ist, abschwächend. Nur ein Punkt zog mich doch besonders an, die massive Mauer des Torrone d' Orza, der hier schön übersehbar, wenn auch in Verkürzung sich zeigt. Die wollte ich unbedingt demnächst stürmen, so dachte ich und kam doch nie mehr dazu, denn plötzliche Abberufung aus dem sonnigen Süden machte alle weitern Pläne zuschanden.

Aber heute freute ich mich des Prachttages, grüsste die alten Bekannten drüben im Rheinwald- und Tenciamassiv und riss doch trotz all der Schönheit nach einer halben Stunde reinsten Genusses mich wieder von ihm los. Wolkenballen, oft reizende Formen bildend, häuften sich über dem Gebirge, als ich abwärts schritt. Bis zum Couloir ging 's flott, der Übergang vom abgeschliffenen Fels, mit glitschiger Mergelschicht bedeckt, zum Schnee hinab machte noch etwas Pein, dann aber fleckte es, und 11 Uhr 45 Min. stand ich wieder bei meinen Habseligkeiten auf dem Gratrücken, der nun weiter verfolgt werden sollte. Gegen SSO sendet der Pizzo Claro eine Verlängerung seines Südgrates vor, der, fast in gleicher Höhe bleibend, weit draussen direkt über dem Calancatal, dem Misox und der Tessinfurche in der Molin era ( 2287 m ) endet. Dieser Punkt versprach schönen Einblick in die drei Täler, weshalb ich trotz der enormen Hitze auf dem Kamme blieb, der ausser weniger Schnee-verkleidung keine Schwierigkeiten bietet. Nur über die Länge des Rückens war ich erstaunt, denn erst 12 Uhr 35 Min. konnte ich im Schatten des Steinmannes auf dem Gipfelchen sitzen, das mich so oft auf den Kammhöckern genarrt hatte. Wenn es bei den Steinmännern eine Rangordnung gäbe, so müsste die Mulinerà nach seiner Grosse mindestens ein Viertausender sein. Die Aussicht ist ungemein instruktiv und ebenso umfassend wie reizvoll. Wozu auch hier Namen wiedergeben. Drei Punkte nur mögen erwähnt sein, die nackten Wände des Sasso di Paglia und Campanile, die für die nächsten Touren vom Comersee aus mich interessierten, dann der Einblick in die lange Val Calanca, darin der Reichtum an Tannen sofort auffällt, weil ringsum sonst nur Laubhölzer stehen. Zum Schluss der einzigschöne Tiefblick hinab, wo der Tessin sein silbern Band durch das Grün des Tales wob und man in die Strassenzüge Bellinzonas hineinsah, erst hier die räumlich grosse Ausdehnung der Stadt recht erfassend.

Eine Viertelstunde liess ich mir nur Zeit, sprang dann die Gras- und Geröllgehänge hinab zur Alpe di Brogoglione, von wo ich dem bewaldeten Rücken folgte, der in Richtung auf die Stadt sich senkt und bei Castione endet. Einen wahren Tannenfriedhof musste ich da passieren, halber Urwald, umgestürzte, vermodernde Bäume, verwildertes Dickicht, kaum erkenntliche Steigspuren, das ist die Charakteristik jener Region, in die wohl jahresüber selten jemand eindringt.

Endlich ward 's drunten bei den Monti di Savuro belebter, Vieh weidete auf grünen Almwiesen, und aus einigen, im Schatten blühender Apfelbäume gelegenen Hütten quoll Rauch. Wie ich da verschnaufend vor einer der Hütten sitze, ins sonnflimmernde Misox hineinschauend, tritt ein freundlicher Sennbub heraus, ohne ein Wort mir eine Schüssel gekochter Milch bietend. Dankend nahm ich die Labung an, aber mein junger Freund nahm nichts dafür. Schaut, das ist Tessiner Gastfreundschaft; ich fand solche noch oft, wenn auch nicht mehr überall. In einer Stunde würde ich in Lumio sein, hatte mein kleiner Wirt gesagt, aber das glaubte ich ihm denn doch nicht, die Dächer des Ortes lagen noch so unendlich tief drunten im Grün des Moesatales, und die Karte wies eine Höhendifferenz von 1100 m. Droben ist die Wanderung über saubere Alpen mit dem eingestreuten Weiss blühender Obstbäume noch angenehm, weiter drunten folgt das dichte Blätterdach eines schönen Kastanienhains. Vorbei war jetzt die Luftkur der Höhe, ein schwerer, drückender Geruch vieler Blüten lagerte unter dem dichten Blätterwerk, so dass ich fast froh war, auf der Talsohle ihm entweichen zu können. Dort flüchtete ich mich in den Schatten einer Osteria; wieviel Windungen der Bergpfad bis dahin aufweist, weiss ich nicht, meine Knie sprachen für tausend, mein Durst für die doppelte Zahl. Doch für beides gab 's hier Heilmittel, die ich nicht ausschlug, ein langer Trunk in bequemer Ruhe. Das Misoxbähnchen übernahm dann all meine weitern Sorgen für den Rest des Tages.

Schön, wunderschön und sehr lehrreich ist diese Tour, aber auch sehr anstrengend; man vergesse nicht, dass Claro 250 m Seehöhe hat, der gleichnamige Pizzo aber 2724 aufweist. Diese fast 2500 m Differenz in einem Zuge vom heissen Tal zu bewältigen, ist grösser als bei mancher sonst recht vollgültigen Gletscherfahrt. Aber der Berg vergilt die Mühen der Fahrt reichlich, und so sei er besonders altern Klubisten bestens empfohlen.

Pizzo Columbé ( 2549 m ).

Ein Sommermorgen droben am Ritomsee! Stille weitum, dichter Nebel noch auf den ruhigen Wassern des grossen Seebeckens, über dem, fast geisterhaft dem Gebrodel entsteigend die schwarze Steilwand des Piz Taneda sich zeigt. Seltsam wechselnd das Wetter, das nun schon, seit ich nachts in Airolo abmarschierte, mich oft genarrt und genässt hatte. Erst ein beharrlich von Osten kommender Wind trieb die trägen Massen auseinander und bescherte die seltsamen Weitblicke über die kleine Felsbarre zu den drüben aufragenden Tessiner Hochwächtern. Die zum Ritomsee entwässernde Val Piora ist ein schönes Tal, dessen Lieblichkeit im sonst wilden Tessin fast überrascht. Spät war 's, wie ich zum Passo del Uomo strebte, saftige Weiden decken allenthalben den welligen Boden, eine Anzahl kleiner Seen bietet Wasser in Fülle, der Rückblick auf die Tessinerketten zeigt hübsche Hochgebirgszacken, und im Vordergrund interessierte mich besonders der Lucomagno, mit schwarzem Plattenpanzer gerüstet, der dem ganzen, nach Biasca streichenden Bergzuge seinen Namen gibt. Weniger durch seine Höhe als Eigenart im Aufbau, springt dann zwischen ihm und dem breiten Scai eingelagert der Pizzo Columbé ins Gesichtsfeld. Seine zwischen zahmem Nachbarformen um so mehr kontrastierenden, in extravaganten Linien aufstrebenden, zerrissenen Felsnadeln lockten mich so verführerisch, dass ich, nachdem ich auf dem Gipfel des Scai drei Gewitter abgewartet, fest entschlossen war, ohne den Columbé nicht am Lukmanierpass heute zu landen.

Dass ich den ganzen Tag über keinen Menschen zu Gesicht bekam, tat mir nichts, hatte ich doch mit der reichen Flora soviel Zwiesprach zu halten, dass Einsamkeit gar nicht aufkam. Ich musste schauen, mich nicht allzusehr in die Blütenwunder der Gentianen, Soldanellen, Bergastern, Glockenblumen, und wie die bunte alpine Flora noch benamst war, zu vertiefen. Insonderheit brannten die weitgedehnten Alpenrosenfelder aus dem satten Grün der Almen hervor. Derben Kontrast bot eine Stunde später die rauhe, steinige Höhe des Scai. Dort zwangen Wetter mich zum Rasten, währenddem studierte ich den Anstieg jenseits zum Columbé, durch dessen Gratlücken schwarze Wolken huschten, die wilden Zähne noch drohender erscheinen lassend. Noch schlimmer waren Piz Pettano und Lucomagno daran, denen das Wetter fast den ganzen Bau verschlang und nur für Momente Grat und Wand in Fragmenten sehen Hess. Sonst hat mich der Blick von hier wenig befriedigt, da das meiste ringsum etwas gedrückt aussah; —, möglich, dass das Wetter mit der trüben Stimmung den Eindruck verschlechterte. Um zum Columbéfuss zu gelangen, galt es weit abzusteigen nach Westen, bis die schlüpfrigen Grashänge südlich des Westgrates weniger steil abfallen; hier ward ich meiner neuen Schuhbenagelung froh. Unangenehm freilich ist solch dauernde Kanterei an jähem, haltlosem Hang. Nach 1 Uhr war der nördliche Columbépass erreicht, den ein grosser Tümpel ziert. Braungelbe Felsenmauern und Zinnen, so bot im fahlen Wetterlicht der Columbé sich von hier; doch so steil die Wand erscheint, sieht man doch ein Fortkommen in ihr. Durch einen verlorenen Sonnenstrahl verleitet, packte ich eine Viertelstunde später den Berg an, der jenseits eines Schneefeldes sofort sich steil aufrichtet. Als Richtschnur nahm ich eine grosse Rinne, die den ganzen Bau durchzieht. Über das Vorgelände ging 's flott, der Grund der Rinne selbst war glattes, abwärtsgerichtetes Gestein mit ungemein lockern Blöcken und Schutt. Es ist mir noch gut in Erinnerung, dass ich einige recht fragliche Stellen dort traf; mit einem frechen Satze über abrutschende, wasserüberronnene Platten zog ich mich noch aus der Falle. Einmal so nahe am Gipfel, wollte ich wegen einer kurzen riskierten Stelle doch nicht gern umkehren. Im obern Drittel ging 's dann wieder etwas besser, aber erneutes Rumm-bumm trieb mich zur Eile an, und so hatte ich genau eine Stunde nach Verlassen des Nordpasses den letzten Zacken im zerrissenen Grat unter mir.

Der erste Blick galt dem Wetter drüben am Pettano, der finster dreinschaute, der zweite Blick streifte den zersplitterten Grat, der zum Columbesüdpass zieht, der aber war mir heute des Unwetters halber doch zu lang, also hiess es direkt jenseits hinabsteigen. Corpo di Bacco, da musste man sich aber höllisch tief beugen, um auf den Grund sehen zu können, zu dem die nach SO in steilen W¾nden abbrechenden Mauern meines Berges stürzen. Wilde Rinnen ziehen da hinab, den WTeg weisend für alles, was nach unten will. Zuerst mochte ich nicht recht darangehen, aber drohendes Donnern beschleunigte den Entschluss, und so stieg ich herzhaft in das nördlichste der grossen Couloirs, auf dem überaus glatten Fels mich abwärts würgend. Langsam ging das freilich; der wilde Grat mir links zur Seite wollte gar nicht höher werden, dann zwangen Abbruche mich über fragwürdige Verbindungsrippen in Nebenrinnen, schliesslich wurde das Terrain doch wieder so gut, dass es nun bald flotter ging, bis ich gegen 3 Uhr doch schon am südlichen Columbépass aus den Wänden heraus kam.

Von nun an war 's ein Geniessen. Geröll zwingt zum Aufpassen, der Pfad lässt oft aus, und das Suchen ist den Rückblicken wenig günstig. Und doch musste ich öfters rückwärts schauen, wo der Columbé seine abenteuerlichen Zinnen in ständig wechselnder Beleuchtung prächtig entwickelte. Das war jetzt kein totes Gestein mehr für mich, da waren Züge im Gesicht des abweisenden Gesellen, die mir nun wohlvertraut waren.

Hart am Rande des Wildbaches, der tief sich eingesägt, führt der Steig um die Bergecke, die ersten Bäume werden sichtbar. Arven sind 's, die hier zuerst mich grüssen. Glockengeläute schallt von den grünen Matten drunten, auf denen volle Sonne liegt; das weisse Band der Lukmanierstrasse zieht sich durchs Hochtal, und über allem tront mit mächtigem, wirkungsvollem Aufbau der riesenhafte Scopi, eben seine Gipfelkappe lüftend, als ob er zum Columbésieg gratulieren wolle. Hast recht, Alter, der Berg hat mir sehr gefallen, war 's doch wieder etwas Zünftiges gewesen!

Unterhalb der Alpe Lareccio verträumte ich fast eine Stunde im Anblick eines Idylls. Da ist auf grüner Flur ein kleines Wasserbecken gebettet, wenige Quadratmeter misst es nur, doch der Hintergrund, der sich in dem silbernen Spiegel wiedergibt, ist unsagbar reizend. Ein Fichten- und Lärchenwald durchzieht den Vordergrund, rechts und links steigen die steilen Halden zum Scopi und Scai hinan, ausdruckslos, quasi nur als Rahmen, doch im Hintergrund zeigt sich die schönlinige Pyramide des Piz Rondadura, andere Rheintaler Gipfel begleiten den Horizont, an dem leichte Wolken sacht dahinschweben, ab und zu an den Gipfeln wehend. Direkt neben dem Seechen ragt eine einsame, wunderschöne Arve auf und beschaut sich in dem klaren Gewässer. Da fährt ein leiser Windstoss durch den Tann, der winzige Wasserspiegel kommt in zitternde Bewegung und bringt einen solch entzückenden Moment in dies abgeschlossene Bild, dass ich ganz verträumt sitze und schaue, schaue, bis das Wasser sich glättet und bis es wieder erschwingt, das in ihm gespiegelte Hochlandsbild zart verschwimmen lassend. Solche Momente kann man nicht richtig schildern, sie lassen sich nur empfinden und wirken derartig, dass man auf Jahre hinaus sie lebendig in sich trägt.

Der Spätnachmittag brachte mich zum Hospiz Santa Maria am Lukmanier. Unterhalb des Idylls von Lareccio geht 's durch stillen Nadelwald, der junge Brenno wird überschritten und jenseits auf der Passstrasse das Hospiz jenseits des Passes erreicht. Dichter Nebel strich ums einsame Haus, willkommen mir, der ich rechtschaffen müde von schlafloser Nacht und strammer Kletterfahrt war.

Pizzo d' Era ( 2635 m ).

Die stärkende Nachtruhe ward jäh vom mahnenden Wecker unterbrochen. 4 Uhr 35 Min. wars, als ich in den dichten Frühnebel hinausschritt. Dem Scopi sollte eigentlich der Tag gelten, nun bestimmten die Nebelschwaden mich zum Verzicht. Heute bedaure ich es wohl, dass dieser Berg mir entgangen ist, aber das unsichtige Wetter Hess mich damals langes Irregehen in dem wenig markanten Gelände befürchten. So marschierte ich über den Lukmanierpass zurück, wieder am kleinen See bei Lareccio vorbei und hielt von hier an ständig nach WSW. Bisher hatte noch Sonne geleuchtet, am Scopi dagegen hingen massige Wolken träge an den Hängen bis fast zum Pass herab. ' Der ziemlich mühsame Anstieg zum Predelppass brachte aber auch mich wieder in jene Nebelzone, so dass ich schliesslich froh war, nach längerem, mühevollem Steigen über Schutt und Schneeflecken die trümmerbedeckte Passschwelle ( 2454 m ) vor mir zu haben.

Ganz ungewiss, was zu unternehmen sei, lenkte ich erst zum Lucomagno, eilte aber unverrichteter Dinge zurück zum deponierten Schnerfer, um mit dieser Last jenseits zum P. 2590 anzusteigen. Freilich war das bei dem dichten Nebel wenig kurzweilig, da der Berg steil aufstrebt und nur Schutt, Blöcke, steile Rasenpolster und schwankende Platten aufweist. Schliesslich ward der Kamm schmäler, der Nebel hinderte, zu sehen, ob eine Umgehung der Kanten bequemer sei, so dass ich gezwungen mich an den Grat hielt, der, zerrissen, beidseitig anscheinend steil abfällt. Ich wunderte mich über die zahlreich auftretenden Zacken und Plattenrücken, die aus der recht summarisch gezeichneten Siegfriedkarte gar nicht zu vermuten waren. Endlich zeigte sich nordwärts am Hang eine Verflachung, der Grat lief in einen breitern Sattel aus, und nun bot ein gutmütiger Schuttrücken sich östlich, über den ich bald hinter dem Steinmann auf Pizzo d' Era ( 2635 m ) sass. Möglich ist es ja, dass der Grat bei hellem Wetter bequem umgangen werden kann, der im Nebel mir abenteuerlicher vorkam, als er vielleicht wirklich ist.

Genug, ich sass 10 Uhr 45 Min. bis 11 Uhr im dicksten Nebel auf der Era-kuppe und wartete auf einen Moment der Aufhellung, denn den Abstieg, der schon nach der Karte respektabel steil sein musste, hätte ich gerne etwas überschaut. Herdengeläute tönte schwach aus der verhangenen Tiefe herauf, schliesslich gab ich das Warten auf und folgte der Fallirne nach S direkt, möglichst Rinnen und kleine Schuttströme benützend. Bei dem zirka 800 m hohen Fall des steilen Rasen-hanges zu Tal musste jede Rauhheit ausgenützt werden, zumal die Graspolster vom Nebel gefeuchtet waren und hohe Trittsicherheit verlangten. Dank meinen scharfkantigen Schuhen und des treuen Pickels war ich doch inzwischen aus dem gemeinen Rasenhang herausgekommen. Über mir zog der Nebel an den Berghängen entlang, unter mir in einem Kar lag ein kleines Hüttchen, also musste auch ein Pfad da sein. Aber das Hinabgelangen war so einfach doch nicht; weite Becken, mit unangenehmem Schutt und Trümmern jeder Grosse vollgestopft, mussten gequert, steile Abbruche umgangen werden, bis ich von einem hervorragenden Punkte des Kammes die Predelpalpen erspähen konnte. Weglos dorthin haltend, benützte ich von da ab den bequemen Alpweg, der fast eben durch Wald führt und oberhalb der zahlreichen Höfe von Ternolgio einen wunderhübschen Blick in die tiefe Leventina bietet.

Das vielgewundene, enge Tal präsentiert sich sehr wirkungsvoll; besonders instruktiv ist die Gotthardbahnanlage zu verfolgen, wie sie mit den Kehrtunnels eine Talstufe nach der andern überwindet. Schade nur, dass die Berge jenseits alle weit herab noch verhangen blieben; ich hätte den Hofstaat von Campo Tencias Gnaden gern wieder gegrüsst. Um so schöner lachte das Tal herauf, näher und näher kam das Defilee von Dazio Grande, höher und höher stieg das Dalpe-plateau, immer deutlicher wurden die auf den glitzernden Schienensträngen dahingleitenden Gotthardzüge, auf den Bahnhof von Faido glaubte man fast senkrecht hinabzusehen, so steil ist da alles.

Der landschaftlich überaus lohnende Abstieg geht aber, in starkem Gefäll abwärts leitend, ungemein in die Knie, so dass man es begrüsst, dass die Talsohle rapid entgegenkommt. Reizend gelegene Siedlungen auf den beidseitigen Hochplateaus, von deren Existenz man auf der Bahnfahrt keine Ahnung hat, leuchten aus grünen Verstecken heraus, über der Landschaft lacht die Sonne, als ob sie sich über dieses Übermass von Grün selbst freue. Herrliche Kastanienbestände entzücken im Marsch, Tausende von Büschen wilder Rosen säumen die Wegränder, dann plötzlich liegt der Bahnhof Faido vor mir. Ein Bummel hinab zum Ort, wo der donnernde, gischtende Fall der Piumogna aufgenommen ward, beschloss den touristisch etwas verfehlten Tag harmonisch, dann ging 's mit Dampfes-hilfe neuen Pflichten entgegen.

Campo Tenda ( 3075 m ).

Der Campo Tencia war schon lange mein Ziel gewesen. Als Hauptgipfel der zentralen Tessinerberge versprach er beste Übersicht, und da er ausserdem eine individuelle Bergform besitzt und mit einem veritablen Gletscher etwas Abwechslung in die sonst rein felsige Landschaft bringt, zog es mich immer mehr zu ihm.

Gern benützte ich darum einen schönen Herbsttag, von Mailand aus seine Besteigung zu unternehmen, um so mehr mich freuend, da Herr Lisibach, einer der besten Tessinkenner und unermüdlicher Arbeiter am knapp vor dem Abschluss stehenden « Tessinerführer », seine Teilnahme zugesagt hatte. Auch Röllin, den ich später auf andern einsamen Tessinfahrten als Begleiter sehr schätzen lernte, war bei unserer kleinen Karawane die sich in Faido sammelte und noch abends, kaum dass das erste Mondviertel schwaches Licht spendete, das neue Strässchen nach Dalpe anstieg. Dieses aber hörte damals kurz vor dem Ort auf, wo ein greuliches Klettern über Stock und Stein, Baumwurzeln, Löcher etc. anhub, bis endlich freier Wiesenplan unsere Seufzer erhörte und uns rascher in den Bergort brachte. Ohne der lockenden Osteria zu folgen, schritten wir durch die stillen Gassen, westwärts haltend, hinein ins Piumognatal, das mit steiler Stufe hier absetzt.

An den Piumogner Alphütten droben, die von einem zernagten Berghang ständig mit Verschüttung bedroht werden, wurde erste Rast gehalten, dann ging 's bald darauf flott weiter in die würzige, laue Nachtluft, einen selten klaren Sternenhimmel über uns. Erst folgen fast eben weiche Matten, dann steigt die Pfadspur, verliert sich aber im Almboden, so dass selbst die Ortskundigen Mühe hatten, die beste Richtung einzuhalten, um unnütze Schritte zu sparen. Im Vorfeld leuchteten trotz der tiefen Dunkelheit die Schneefelder des eigentlichen Tenciastockes aus der massigen Bergflucht, die unheimlich düster sich da aufbaute.

Wo das Tal nach NW biegt, wird der Bach überschritten, dann geht 's pfadlos durch dichtes Alpenrosengebüsch über grobes, blockiges Gehänge rein gefühlsmässig weiter, bis neuerdings sanftere Almweiden das Sammeln unserer kleinen Kolonne erlaubten. Jetzt waren wir den Campo-Tenciawänden aber beträchtlich nähergerückt und zogen in Plänklerlinie über die Matten, um die Alpe Crozzlina nicht zu verfehlen, die kurzen Schlaf uns erlauben sollte.

An eine Klubhütte war damals noch nicht zu denken; ich freue mich aber, dass der S.A.C. inzwischen auch den Tessinerbergen ein solch schönes Klubheim und Unterschlupf geboten hat. Mögen von ihm aus viele die Schönheit und Eigenart des Tessins in die WTeite tragen.

Nachts 2 Uhr war 's, als wir die gottlob offene Hütte erreichten. Mit dem Lager war 's schlecht beschaffen, aber ein grosser Holzstoss erlaubte wenigstens ein wärmendes Feuer. Dann zwang die Müdigkeit uns für kurze Zeit auf die harten Bohlen des Hüttenbodens, doch die Nachtkälte jagte nach einer Stunde Dösens uns wieder auf und zum neu entfachten Feuer zurück, das uns bald einen heissen Kaffee bot.

Im letzten Dunkel tappten wir nach 5 Uhr zum Bach hinab, stolperten jenseits über Schutt hoch und hielten dann, einen grossen Bogen einschlagend, auf langen Bändern zur Höhe, dabei stetig den Übergang zum Tage vor Augen.

Das Rheinwaldgebirge im Osten, gerade gegenüber, rabenschwarz vom schwefelgelben Morgenhimmel sich abhebend, ward immer lebensvoller mit dem Wachsen des Lichts, immer durchsichtiger wurden die Schatten, immer bläulicher die Felshänge, dass fast der opalfarbene Brescianagletscher sich nicht mehr abhob. Über all den scharfen Linien flammte goldlodernder Schein so intensiv, dass ein moderner Künstler ihn nicht kecker auf die Leinwand gezaubert hätte.

Eine grosse, steile Rinne, über der einige Eistürme des Crozzlinagletschers bedrohlich hereinschauten, vermittelte uns den Anstieg zum Felskamm, der zu Punkt 2685 aufsteigt. Steil geht 's dort hoch, und als wir am erwähnten Punkt standen, wo der Gletscher direkt hinter dem Eisbruch betreten wird, verweilten wir gerne etwas, um auf die Nachzügler zu warten, denn eine selten schöne Schau bietet sich dar, von dem jungen Tag eben mit den ersten Sonnenstrahlen begrüsst. Frei schweift der Blick ins tiefe Piumognatal, all die Tessinerhöhenzüge östlich der Bahn, die Urner Recken grüssen bereits, und der mächtige Piz Forno knapp neben uns mit dem schneidigen Piz Penca schliessen das kleine, aber wirkungsvolle Rundbild wundervoll ab. Einen Prachtausschnitt Tessiner Bergeinsamkeit aber bietet der Talschluss, wo im Kar unterm Campolungo ein kleiner, dunkler Bergsee, der « Laghetto », ruht, der mit seinem ruhigen Spiegelrund in dieses Bild tiefster Einsamkeit, wildester Verlassenheit prächtig sich einfügte.

Das Eisfeld des Crozzlinagletschers war mit Neuschnee schwach verkleidet, eine prächtige Hilfe für unsere Bergschuhnägel, dank deren wir wenig mehr als eine Stunde brauchten, die südliche Campo-Tencialücke zu erreichen, wo plötzlich Neuland sich sonnenübergossen weitum erschloss, so dass jeder eilte, über den aperen Grat zum eigentlichen Gipfel zu kommen, von da die Pracht besser zu gemessen.

Knapp 10 Uhr war 's, als wir am Steinmann des Campo-Tencia ( 3075 m ) anlangten, ein herrlich klarer, windstiller Herbstmorgen bot wundersame Rast, die wir bei Sonnenbad und Gipfelpfeifchen dann auch genügend kosteten, hat doch das Auge fortgesetzt im Bewundern all der gebotenen Schönheit zu tun, dass die Zeit wie im Fluge zu verstreichen scheint.

Namenaufzählung wäre nur Zeilenfüllung, geistloses Aneinanderreihen von Gipfeln bliebe leerer Schall, wäre Profanierung jenes Glanztages, der das Berner Oberland mit seinen Eisriesen so wundersam uns zeigte, dass man fast die andern Majestäten von Zermatt bis Sulden, die alle im Reigen sich zeigten, vergass. Machte es vielleicht die jähe Höhe über den tiefen Talgründen von Prato und Piumogna, dass alles so eindrucksvoll von unserem Gipfel erschien. Genug des Überlegens, wir freuten uns wie Kinder der gebotenen Wunder und jauchzten dankbar hinaus in den blauseidigen Herbsthimmel. Vier Punkte merkte ich mir damals zum Gipfelsturm: Die Pizzi Barone, Monte Zucchero, den Campolungo und die mächtige Torrentewand im Adulasüdgrat; es sind wohl die interessantesten Formen neben dem mächtigen Forno im nähern Umkreis. Dank bin ich auch meiner Kamera schuldig, die mir auf jener Fahrt ein halbes Dutzend prächtige Aufnahmen als wertvollste Erinnerung an jenen Berggnadentag ermöglichte.

Fern den andern, sass ich am Gipfelrand, träumte in die Weite und nahm durstig all die gebotenen Schönheiten in mir auf.

Ist es nicht etwas Wundervolles um unsern Alpinismus, der im Betätigen Kräfte zeitigt, Empfindungen weckt und veredelt, welche denen, die sich aus der Überkultur unserer Zeit nicht mehr zur Natur zurückfinden, verschlossen bleiben?

Ein Religionsdienst tiefsten Sinnes ist es, in die Tempel zu ziehen, die von Natur so gewaltig gegründet, wenn man durch Nacht und Anstrengung ihre Vorhöfe durchpilgert, um auf den Altären droben die Opferflammen der Sonne lodern zu sehen oder beim Hochgewitter im Kampfe mit den Naturgewalten die ewigen Gesetze vom Werden und Vergehen in packendster Form zu erkennen. Wie unendlich erscheint uns dann von den Hochaltären droben die Riesennatur, wie wundervoll in ihrem Gefüge und Zusammenspiel all der gewaltigen und geheimen Kräfte, die uns armen Menschlein erst zum geringsten Teil bekannt geworden, dass man erschauernd ob der eigenen Nichtigkeit sich bewusst wird, dass wir doch alle nur am Anfang aller Dinge stehen.

Jauchzen der Kameraden aus mit Frohgefühl geschwellter Brust riss mich Einsamen von vorragender Felsnase zurück, es galt dem Abstieg.

Ein Viertel vor 12 Uhr war es, als wir jenseits die Firnhalde zum Pass Crozzlina hinabfuhren, der einen ganz wundervollen Rahmen für das weit draussen sich aufbauende, zentrale Berner Oberland abgab. Der kundigen Führung Lisi-bachs hatten wir es zu verdanken, dass aus der Fahrt eine wohlgelungene Überschreitung ward, die zuletzt ganz herrliche Bilder der Tessiner Herbstpracht uns bot. Von der Lücke senkt sich ein steiler Blockhang südwestlich zur Val Prato, einige feste Firnfelder darin förderten den Abstieg, so dass 1 Uhr 20 Min. der oberste Hof im Pratokessel erreicht war.

Von hier ziehen ungemein steile, oft von Absätzen unterbrochene Grasbahnen zur Taltiefe, die wir meist direkt in der Fallirne nahmen, da der schmale Alppfad nur selten zu erspähen war. So gut es auf den unheimlich glatten und steilen Rasenhalden und im dichten Alpenrosengebüsch möglich war, ging 's zur Alm alla Frascia, wo die Talsohle gegen 3 Uhr fast erreicht war. Unterwegs hatten sich die Wände der Pizzi Barone wundervoll entwickelt und bildeten jetzt mit Steilkaminen eine imposante Bergflucht, die mich lebhaft an ähnliche Bilder aus den Dauphinévorketten erinnerte.

Von vorgenannter Alm zieht ein kleiner Pfad dem Talwasser entlang, das aber bald sich tief einfrisst und eine von himmelhohen, glatten Wänden begrenzte Schlucht bildet. In dieser, « Scalata grande » genannten Klause führt der schmale Steg auf und ab, herrlichste Tief blicke in den engen Schlund gestattend, wo die Wasser schäumend sich immer tiefer einfressen. Mit einem prächtigen Wasserfall schliesst vorn bei der kleinen, romantisch gebetteten Siedlung San Carlo die Klause ab, die mit ihrem hochinteressanten, aber miserablen Pfad unsere Füsse ordentlich beanspruchte.Von da geht es etwas besser die Val Maggia hinaus an die grosse Landstrasse.

Broglio, am linken Maggiaufer unter Kastanien eingebettet, wäre der Endpunkt der eigentlichen Bergtour gewesen, wenn nicht die folgende Wegstrecke so viel des Schönen in Eigenart geboten hätte, dass ich sie hier für Nachwanderer kurz wiedergeben möchte.

Das Dörfchen Broglio, damals gerade noch 80 Seelen zählend, konnte ausser Bier, Brot und wenigen Eiern uns nichts bieten; die Gegend bietet zu wenig Lebensunterhalt, so dass viele sich zur Auswanderung gezwungen sehen. Die schweren, wirtschaftlichen Verhältnisse sind schuld daran; trotzdem sind die Leute gastfrei und bieten von dem Wenigen, was sie haben, gerne ohne Entgelt an.

Ein schöner, weicher Abend beschloss den wundervollen Herbsttag, als wir vereint auf der Poststrasse nach Bignasco wanderten. Trotz der starken Ermüdung konnte uns doch der Kontrast der südlich üppigen Maggiavegetation zu der wilden Bergumrahmung noch viel Interesse abzwingen. Ich weiss noch, wie ich gebannt, fast überrascht stehen blieb, als beim Passieren der Val Tome durch den schmalen Einschnitt drei Felskolosse hereinragten, in Form und Gruppierung einer Riesenfestung vergleichbar, deren Vorgelände bis hoch in die Wände hinauf vom farbenseligen Herbst in glühendsten, bunten Farben ergreifend schön geziert war. So klein der Ausschnitt, so kurz die Spanne mir vergönnter Zeit war, so tief hat der Augenblick sich mir eingeprägt, dass die Erinnerung es mir immer als eines der packendsten Bilder wachruft, welche die Eigenart jener entlegenen Täler und Höhen richtig wiedergibt.

In Bignasco war die Tour beendet, die Bahn brachte uns nach Bellinzona, von wo wir Milanesen unter herzlichstem Danke von unsern liebenswürdigen Bergbegleitern schieden, deren Sachkenntnis wir eine wohlgelungene Bergfahrt und treffliche Einblicke in Tessiner Land und Leben zu verdanken hatten.

Cristallina ( 2910 m ).

Einer Herbststreife sei hier noch besondere Erwähnung getan, hat doch gerade sie mir Einblicke in den ureigensten Charakter des Tessinlandes verschafft, die massgebend sind für die Beurteilung dieses Gebietes.

Seit Jahren dem mir liebgewordenen Tessin fern, brachte ein Zufall mich auf Tage in die Nordschweiz. Die Gunst des Augenblicks nützend, strebte ich mit einem dicken Rucksack und dem von Freund Specken in Zürich entliehenen Pickel nach Airolo, nahm am Bahnhofe die Metamorphose vom Stadtfrack zum waschechten Bergsteiger vor und eilte dann mit einem telegraphisch aus Mailand beorderten Gefährten das Bedrettotal hinein. Die Septembernacht war schon lang; erst als wir Ossascos stille Gassen durchschritten, wichen die schwarzen Schatten der Nacht droben am Rotondo, dessen Gipfel, wie der seiner Nachbarn, beharrlich vom Nebel verdeckt blieb. Steil geht 's hier links hoch durch Wald und über jähe Graslehnen bis zur Alpe Cristallina, die den Rastpunkt für das wohlverdiente Frühstück abgab. Ein mächtiges Feuer, mit Mühe aus nassem Holze entfacht, liess uns die starke Kälte draussen einstweilen vergessen. Freilich war das Frühstück sehr knapp ausgefallen, denn jeder hatte vom andern gedacht, dass er den Proviant für beide mitbringe. So mussten wir denn die Riemen enger schnallen, mit wenig Brot und Schokolade uns begnügen und den Magen durch Zuspruch vertrösten auf bessere Zeiten. Die aber sollten noch fern sein. Vorerst hatten wir stramm weiterzusteigen, denn der Tag war inzwischen voll heraufgezogen, liess aber die Gipfel weiter im Nebel und bestätigte meine Befürchtung, dass wir schwere Neuschneestampferei haben würden. Beinhart war der Boden gefroren, bald ging 's auch über Schnee, der gegen die Alpe Torta an Mächtigkeit zunahm.

Wir hatten anfänglich vor, über den Cristallinapass zu gehen und den Gipfel von Norden anzugreifen, doch schien mir in den Mulden dort zu viel lockerer Neuschnee zu liegen, ausserdem schien die Sonne verlockend auf den Grat, der vom Naretpass zur Cristallina zieht, und so wählten wir diesen Anstieg. Den gewöhnlichen Passweg hatten wir bei Alpe Torte bald verlassen, uns rechts seitlich zum Kamm hochmühend. Das gab bald harte Arbeit, der Schnee ward tiefer, die Neigung grösser, die Blöcke nur lose verschneit, so dass sich viele Überraschungen boten. Bis zu der ersehnten Gratscharte gab 's denn auf die schlaflose Nacht hin schon eine Reihe kurzer Rasten. Einmal droben auf der Höhe, hatten wir den Weg klar vorgezeichnet, der immer über den blättrigen Grat zum Cristallinagipfel zog, allerdings in respektabler Länge noch zu überwinden war. Er hat uns auch genug zu schaffen gemacht, der kältende Wind trieb tüchtig vorwärts, zu sehen gab 's nur ab und zu was, wenn die tiefhängenden Wolkenfetzen Neuland im Tessin sehen liessen; der Norden blieb erbarmungslos verdeckt. Dagegen prahlte ab und zu die Cristallina mit ihrem schneeigen Gewand und schien zu fragen, wie lange die beiden Männlein sich noch im tiefen Pulverschnee zwischen den Blöcken des Grates abquälen wollten. Dann riss uns Erwartung wieder vorwärts, und von neuem wurden Fels und Neuschnee bekämpft. Inzwischen war rechts der Gletscher nahegerückt und zeigte einen, mir für das Tessin ganz respektabel erscheinenden Bergschrund durch die ganze Eisbreite unter der Gipfelwand. So waren wir froh, den Firn nicht im Aufstieg begangen zu haben, blieben unserm Grat treu und stiegen wacker, wenn auch schon viel langsamer, den blättrigen Grat empor, der allmählich in Firn untertauchte und nur noch einzelne Köpfe aufragen liess. Schliesslich hielten wir in der von links ebenfalls heraufreichenden Firnflanke weiter und liessen uns auch von dem fast zum Sturm angewachsenen West nicht anfechten, unserm Ziel weiter zuzustreben, das auch gegen 1 Uhr endlich erreicht war. Nebelfahnen trieben um den Gipfel, schienen unverjagbar, so dass wir, ohne auch nur einen Versuch des W¾rtens zu machen, einfach umkehrten und den Firn hinabfuhren, dabei im Eifer fast in die oberste Val Bavona kommend, die mir gänzlich neu war. Zum Glück merkten wir den Irrtum noch im obersten Kar, stapften eifrig zurück und hielten dann unter den vielen Runsen und Steilhängen unterhalb unseres Aufstiegsgrates zur Talsohle hinab. Es war ein mühselig Wandern, und so hat die Cristallina, am Gipfel sowohl wie im Abmarsch, uns herzlich wenig geboten ausser der Gewissheit, dass Energie eben doch grosse Müdigkeit, schlechtes Wetter etc. überwinden kann. Der lehrreichere Teil der Wanderung freilich sollte noch folgen. Vorerst aber mussten wir eine kurze Rast am stillen Naretsee halten, denn wenn auch die geringe Menge unserer Provision einen solchen nicht rechtfertigte, so war uns doch das stete Steigen und Stampfen nach der schlaflosen Nacht mittlerweile in die Knie gegangen. Die aber in steter Federung zu halten, ist unbedingtes Erfordernis bei allen Tessintouren. Wie um uns zu äffen, so zeigte sich einige Male der Cristallinagipfel in flatternden Wolken, doch nur auf Momente.

Nach der wohltuenden Rast folgte ein Abstieg, von dem ich wusste, dass er lang und hart sein werde. Auch das Landschaftsbild ändert sich mit einem Schlage. Kaum ist eine kleine Felsenenge passiert, so öffnet sich eine Steilschlucht, in der die Wasser der jungen Maggia hinabtosen, tief drunten wird ein Kar sichtbar, überhöht von ernsten, wenig markanten Bergzügen. Ist die im Kessel drunten liegende, verfallene Baite passiert, so öffnet sich ein neuer, steiler Durchstieg, weit, weit drunten sind die ersten Bäume sichtbar. Jäh geht 's da hinab, steil und mehr als steinig ist der rauhe, oft unterbrochene Pfad, und ich beneidete meinen Freund, der in Kletterschuhen flott hinabschritt, während ich jeden Tritt auf dem steinigen Boden durch meine Bergschuhe empfand, trotz der berggewohnten Knie. Sömmerndes Vieh an der Casa di Mezzo schaute uns mit grossen Augen nach; erst hier trafen wir den einzigen Menschen bis Fusio, einen Hirten, dem wir von weitem ein « Buon giorno » zuriefen. Und nochmals geht 's eine Steilstufe hinab, seitlich hat sich die Maggia in tiefer Schlucht eingesägt und bietet hübsche Tiefblicke in den wirbelnden Kessel.

Unermüdlich stiegen wir die jähen Grashalden hinab; dieses « unermüdlich » muss betont werden, denn in den Steillehnen des Tessins gibt 's gar bald müde Knie. Allmählich kamen wir auch in die Vegetationszone, wo besonders prächtige Lärchen mit ihrem eigenartigen, durchsichtigen Geäst und knorrigen Wurzelformen anziehen; nach und nach drückt der eigentlicheTessincharakter sich auch im Tale aus. Es ist eine grenzenlose Melancholie in diesem stillen Bergland mit seinen gedämpften Farben ringsum. Fels, jäher Hang, eintönig graubraun, einsame Talgründe, menschenleer die wenigen Ansiedlungen, die, aus Stein erbaut, sich kaum von der felsigen Umgebung abheben. Und doch liegt über dieser grenzenlosen Verlassenheit, in dieser fast drückenden Einsamkeit nichts eigentlich Schwermütiges, ich selbst habe dies wenigstens nie empfunden. Ernst und Einsamkeit gehören eben zur Stimmung des ureigensten Hochtessins.

Bei Casone glaubten wir die Talsohle erreicht zu haben, nachgerade machte selbst bei uns Abgehärteten sich der ununterbrochene, lange Steilabstieg bemerkbar, doch ging 's noch eine lange Strecke neben der glasiggrün ihre wilden Wasser herwälzenden Maggia entlang. Höher und höher wuchsen beiderseits die Berge über der Val Lavizzara, wie der Maggiagrund hier genannt wird, sacht träufelnder Regen begann unser Tempo erneut zu beschleunigen, und wir konnten noch froh sein, dass nicht sommerliche Wärme in diesem langen Hochtale uns beschieden war. Die Gruppen der imposanten Lärchen mehrten sich, schlössen sich zusammen, andere Hölzer mischten sich in den Waldgürtel, der nur öfters an den zahlreichen Runsen und Schuttkegeln unterbrochen war, und Kunde von den grossen Lawinenzügen gab. Da hiermit das oberste Maggia tal im Winter so gut wie unpassierbar ist, konzentriert sich auch das ganze Leben der obern Talschaft in Fusio, das wir auf rauhem Strässchen endlich nach 6 Uhr erreichten. Der Ort ist ganz nett gelegen und mutet in der grünen Umgebung nach all der Strenge und Abgeschlossenheit der obersten Maggia wohltuend an. Freilich stehen ringsum schroffe Berge mit schwärzlichdüstern Felsmauern, aber deren Fuss ist begrünt ringsum, und die Almen zeigen wohltuende Ordnung und Sauberkeit trotz der Südlage, wie es halt in der Schweiz vorbildlich zu sehen ist. Ein kleines, aber sauberes Gasthaus bot uns gute Unterkunft, und bei einem auf italienische Art gerichteten Nachtessen und einer guten Flasche Moscato feierten wir unsern Sieg über Sturm, Neuschnee und Wettertücken. Der später noch kommende Posthalter von Fusio gab uns dann als Entgelt für die Neuigkeiten, die wir aus der grossen Welt brachten, zahlreiche interessante Aufschlüsse über das Leben und Treiben in diesem verlorenen Winkel, wo die Menschen so hart und doch immer erneut gegen die rauhen Naturgewalten ankämpfen und kaum des Lebens froh werden, die Heimat aber doch selten missen mögen, die ausser Holz-geschäft und Handel mit dem berühmten, milden Maggiakäse kaum auf den Äckern das Notwendigste für das Leben gewinnen. Da ist es kein Wunder, wenn manch einer gezwungen wird, an Auswanderung zu denken, trotzdem die Regierung das Möglichste tut, die Leute daheim zu halten. Am andern Morgen sollte der Campolungopass ( 2324 m ) unser Ziel sein. Es ist dies einer der wenigen, nicht so wie die andern, so beschwerlichen Tessiner Hochpässe, soll aber gerade hier, da er aus dem Herz der Talwelt zur Bahn zurückführt und dabei prächtige Einblicke in die verbundenen Täler gewährt, erwähnt sein, da seine Begehung ausserdem besonders schöne und nach-haltende Eindrücke verschafft. Der nächste Morgen brachte wirklich prächtiges Wetter; wir bedauerten, dass wir es an der Cristallina so schlecht trafen, nützten dafür aber den Tag hier aus und zogen zeitig los. Auf rasch steigendem, platten-belegtem Pfade, der durch die terrassenförmig angelegten, oft kunstvoll zusammen-geklaubten Äcker und Äckerchen führt, geht 's flott in die Höhe, die Heuer waren an der Arbeit, das bisschen Gras einzubringen. Von hier bietet sich entzückender Rückblick auf Fusio, und die abwärtsziehende Maggiatallandschaft erscheint ganz nett. Tessiner Lieblichkeit, gepaart mit dem Ernst abgeschlossener Täler hat sich hier glücklich vereint.

Über dem Ort steigt rauh der Pizzo Ganna auf und verbirgt den Campo-Tenciastock, den ich gern wieder gegrüsst hätte. Hoch über dem Tal das nach Süden zieht, baut sich dann der breite, grauköpfige Pizzo di Ruscada auf, der mit seinen merkwürdigen Schneeeinlagerungen im harten Felsgewand tags zuvor wie eine höhnisch grinsende Fratze ausgeschaut hatte. Heute schien sie wie verschmitzt hereinzugrinsen. Ob sie sich darüber freute, dass wir rasch die dünne Pfadspur verloren hatten und nun, die Sucherei abkürzend, uns einfach abmühten, den Hang in der Fallinie zu ersteigen? Es war ein entsetzlich ermüdendes Kanten an der harten, glatten Graslehne, da der Hang äusserst steil ist und droben meokernde Ziegenherden mir starken Respekt einflössten, denn ich war schon einmal von diesen neugierigen Tieren in arge Steinschlagsgefahr im gleichen Gelände gekommen. So keuchte ich die letzte Strecke in Hast hinan, bis knorrige Lärchen mir Schutz boten vor weitern, unliebsamen Begrüssungen. Nun hatte ich auch Zeit, die Tiefblicke zu bewundern. Eingerahmt von den seltsamen Formen der Lärchenstämme, verbrämt von dem feinen, durchsichtigen Nadelwerk der Hochwaldgiganten, sah man in das grüne Maggiatal weit hinaus, hinunter auf das schon sehr tief liegende Fusio, auf den rauschenden Fluss, die steilen, grünen Talhänge, die bald in grauen Fels, in schwärzliche Felsmauern übergingen, auf deren Kronen schon die Morgensonne spielte und jetzt erst die Kare und Einschnitte der Mauern belebte, die drunten wie eine ungegliederte Masse erdrückend schier gewirkt hatten.

Ein prachtvoller Punkt war es, den ich da im zufälligen Rückschauen gefunden hatte. Hinter mir die grünen Matten, auf der prächtiges, wohlgepflegtes Vieh sich tummelte, eine einfache Alm den Hüttenrauch zum Himmel steigen Hess, herbe, aber erfrischende Hochlandsluft überall dem schönen Bilde, auf das der immer mächtiger heraustretende Piz Ganna mit finsterer Front herabschaute, dazu die weite, sonnbeschienene Aussicht nach Süden, bedauerte ich es ungemein, dass ich gerade diesmal meinen treuesten Begleiter, den Photo-Apparat, vergessen hatte, der mir an dieser Stelle sicher sonst eines der besten und charakteristischsten Tessiner Erinnerungsbilder ermöglicht hätte. Das wirkungsvollste Illustrationsmaterial zur Verherrlichung des Tessiner Charakters hätte jener Blick von der Alp « Fontanalba » gegeben.

Es freute mich, jetzt zu sehen, dass mein Begleiter, der noch tags zuvor von dem tiefernsten, obern Maggiagelände etwas voreingenommen gegen die ganze Landschaft war, jetzt meine Begeisterung für das Ländchen verstand. So war in ihm wieder einer gewonnen, der draussen in der weiten Welt den andern vom Reize dieser Tessintäler erzählen konnte.

Im uralten Lärchenbestand, der mit seinen originellen Wurzelformen, daraus oft drei bis vier Bäume gemeinsam entsprossen, hier wundersame Bilder des härtesten Kampfes versinnbildlichte, den das organische Leben mit den wilden, ungebärdigen Naturkräften ausficht, ging 's auf gleicher Höhe querend zur nächsten Alpe, die schon in ihrem Namen « Colla » deutlich die Lage verrät. Auf weit vorspringendem Punkte gelegen, beherrscht sie weite Strecken der mittlern Maggia. Noch einmal ergötzten wir uns auf der einsamen Hochwarte an den reizenden Tiefblicken, wandten dann den Schritt dem Campolungopass zu, damit in ein abgeschlossenes Hochtal eintretend, das weitere Talblicke verschloss. Der oft nur als Ziegenpfad anzusprechende Steig führt an den sehr steilen Hängen entlang, kleine Felspartien geben der Sache einen Reiz mehr, rutschen soll man hier nicht, denn das Bachbett drunten ist tief, und zerrissen der steile Hang, der hinabführt. Rasch kommt dann rechts die Talsohle herauf, neue Flühe werden umgangen, dann hat man stets die halbrunde Passsenke vor Augen, beiderseits von steilen, markanten Passwächtern flankiert. Wohl hatte ich früher die schwarze Campo-lungowand als Zielpunkt auserkoren, aber wie ich heute jene abweisenden Mauern sah, die im tiefen Schatten lagen und tüchtige Neuschneeverkleidung aufwiesen, da dachte ich nicht mehr ernstlich an die Bezwingung dieses Felsgürtels, denn in der eisigen Wand hätte Freund B. sicher seine Wunde nicht auskuriert.

Wenige Wochen vorher hatte er eine schwere Mittelohroperation aushalten müssen, und die Wunde war noch kaum vernarbt, so durfte er sich nicht unnützen Erkältungen aussetzen. Der Verzicht auf den Campolungo war mir wohl bitter, aber ich vertröstete mich auf ein anderes Mal, beschied mich mit dem soliden Pass und plante nur im stillen noch die Erklimmung des Piz Prevat, der rechts der Furkel steil anstrebt im Felsgewand. Gevatter Frost hatte hier oben die Wässerlein in Bann geschlagen, der Boden war beinhart gefroren, und wir liefen tüchtig drauflos, um warm zu werden. Aus kurzer Rast trieben die Kälte, der beissende Wind, mehr noch der Mangel an jeglichem Nass rasch wieder vorwärts; durch die wildzerrissenen Hänge ging 's zum Pass hinan, währenddem entwickelte sich im Rücken die Sicht auf die westlichen Ketten sehr schön, schon kam der Firndom des Basodino herauf, von hier allerdings weniger respektabel erscheinend als von der Frutt, von wo wir dem alten Herrn trotz schwerstem Lawinenwetter zu Leibe gegangen waren und ihn aus winterlicher Ruhe aufgescheucht hatten. Auf den letzten kahlen Hängen blies der zu Sturm ausartende Wind so schneidig, dass mein Begleiter es nicht mehr aushalten konnte, flugs die jenseitigen Halden hinabrannte, sich etwas zu schützen und mich mit meinem Prevatplan wieder allein liess. Wohl habe ich es bereut, nicht allein auf den Felsgipfel, der relativ rasch erklommen wäre, geklettert zu sein, aber meinen, harte Pein empfindenden Freund, der mir auch schon in schwerer Not beigestanden war, mochte ich heute nicht allein lassen. So folgte ich rasch und liess alle Pläne, heute noch die neue Campo-Tenciahütte grüssen zu können, fahren und eilte dem Vorangegangenen westwärts nach.

Anfangs muss das Gelände etwas nach links traversiert werden, da eine Reihe von Abstürzen dahindrängt. Dann geht 's auf schräg führenden Schichtbändern hinab, eine Rinne nach der andern querend, bis endlich über Geröll und Rasenhalden eine mächtige Bachrunse erreicht wird, und damit eine Steigspur, die zu dem grünen Kessel der Alpe Campolungo leitet. Im Rückblick präsentiert sich hier die grosse Kalkphyllitbank, die vom Piz Meda schräg abwärts führt; der Verlauf der oft von Erosion blossgelegten Schicht ist wunderhübsch zu erkennen. Die gleiche Bank kommt, aufwärtsstreichend, jenseits des erwähnten Almkessels, an den Hängen des Punkt 2426 nördlich des Leidseekessels, zum Vorschein, und es ist wirklich hochinteressant, so ein wenig die Struktur der obersten Alpenschichten kennen zu lernen. Auch unterm Campolungopass sind ähnliche Bänke sichtbar, sie treten ebenfalls am jenseitigen Steilhang wieder auf, die ganze Gegend ist hier also eingebogen und gibt die natürlichste Erklärung für die Entwicklung der Almkessel und ihrer aufstrebenden Steilränder. Schon war der Piz Forno, der durch eine Lücke in der Campolungowand hereingeschaut hatte, verschwunden, langsam stiegen wir, unter stetem Bewundern des geologischen Phänomens, gegen die einsame Campolungoalm, dabei die eigenartigen Samen-büschel des Gemsbartes, der auf dem Grus in Masse stand, pflückend, aber zu einer Rast konnte der Winkel uns nicht einladen; wir überschritten eine kleine Felsenschwelle und blieben überrascht stehen, denn solch traumhaft schönen Anblick hatte keiner erwartet.

Im Halbrund von Piz Tremorggio, Meda und den Campolungoausläufern umstanden, lag, von felsigen, begrünten Steilhängen eingerahmt, tief zu Füssen der fast kreisrunde, grosse Lago Tremorgio, einsam in prachtvoller Natur, mit seiner tiefen Farbe, dem von keinem Lufthauch bewegten Seespiegel, ein Bild wirklichen Friedens darstellend. Die Südländerinnen sind berühmt ob ihrer oft seelenvollen, grossen, träumerisch blickenden Augen. Ein solches Auge schien der Lago uns, und unser ehrliches Entzücken fand lauten Widerhall an den Felswänden um den See. Man muss selbst hinaufsteigen, um die Schönheit dieses traumverlorenen Fleckchens kennen zu lernen. Wer von den Tausenden und aber Tausenden, die mit Hilfe der Bahn zweitausend Meter tiefer im Tessintal abwärts rasen, hat denn eine Ahnung von dem Zauber dieses Tremorgioidylls? Und wüssten es die andern alle, wie bald wäre Ruhe und Frieden dahin.

So zog es uns im steten Bewundern abwärts zu dem in unerschütterlicher Ruhe bleibenden Seespiegel. Näher kam auch die Vegetation, üppig an den geschützten Steilhängen emporschiessend, mit den Herbstfarben bereits geschmückt, als wollte sie einen passenden Rahmen zu dem Blau des Sees abgeben. Wir beeilten uns gar nicht, aus diesem zauberischen Kessel herauszukommen; so ward es Mittag, bis wir drunten am Bord standen. Hier war allerdings die Schönheit des Ortes beträchtlich gemindert; man steht zu tief, womit die Wirkung der gewaltigen, stillen Wasserflut verloren geht. Darum zogen wir es vor, weiter-zupilgern. Rasch war die kleine Felsenbarre passiert, das Idyll versunken, im Zickzack geht 's im steilen Gehänge abwärts, mächtig regt sich hier die Vegetation, immer üppiger und südlicher werdend. An einer Wegkehre hielt es uns nicht mehr, der Rucksack flog zur Erde, wir hockten auf die Steine, den knappen Proviantrest zu teilen.

Jetzt lag drüben das Tessintal wie ein aufgeschlagenes Buch vor uns. Zahlreiche Gipfel, die ich betreten, konnte ich von hier grüssen, und tief drunten im schmalen Einschnitt zeigte sich die glitzernde Bahnlinie, daneben oft den Schienenstrang kreuzend der rauschende Fluss, dessen Strömen noch deutlich hier zu vernehmen war. In der Talsohle eingestreut die roten Dächer Rodi-Fiessos, im Grün der Talhänge drüben auf den schmalen Plateaus noch eine Anzahl Dörfer und Siedlungen, wie schade, dass man all das nicht malen konnte. Mehr und mehr verstand mein Begleiter meine Begeisterung für dieses eigenartige und doch so unbekannt gebliebene Land und freute sich mit mir des herrlichen Tages, der uns noch beschieden war.

Abwärts ging 's nun in stetem Hin und Her, oft werden riesige Schluchten und Runsen passiert, aus denen die Wasser zum Tale stürzen. Üppiges Grün verkleidet allerorten den nackten Fels, dass das Bild stets freundlich ist. Dann kommt Wald, der uns im Schatten den unausgesetzten Steilabstieg schmackhafter erscheinen liess. Rote und braune Blätter wand ich zum Herbststrauss, vermischt mit dem gelben Grün versengter Lärchenschösslinge und dem warmen Grau des Gemsbartes, einen Gruss aus den Bergen heimzubringen. Mit der zunehmenden Tiefe ward auch die Wärme drückender; endlich war denn auch Rodi erreicht, wo ein kleines Café uns Halt gebot, die Magennerven ein wenig anzuregen, dann schlenderten wir die Gotthardstrasse hinab, einen alten Plan auszuführen. Die Piottinoschlucht, die man kurz hinter der Station betritt, ist wildromantisch, in enger Felsklamm würgt sich das glasgrüne WTasser des brausenden Tessin überstürzend durch, die Bahn ist gezwungen, den starken Fall und die Felsenenge durch einige der berühmten Kehrtunnels zu parieren und lässt also diesen Fuss- marsch im Verein mit der landschaftlichen Schönheit zu einem überaus lohnenden gestalten. Öffnet sich die Schlucht, so ist mit einem Schlage ein südlicheres Bild zu sehen. Hinter Fiesso, höher droben, herrschen noch die steilen Hänge, die herbe, nordische Landschaft vor, wenn auch Bau der Häuser, Sprache der Bewohner und ihre Sitten schon an Italien gemahnen. Doch hinter der Piottina breitet sich das Tessintal etwas weiter aus, wohl steigen allseits noch steile, unendlich hohe Hänge hinan, doch die ausgedehnten Kastanienwaldungen, die reizend eingestreuten Dörfer auf den höhern Terrassen mit ihren Campanile, der weitere Ausblick auf südliche, vorgelagerte Bergzüge lässt ein viel farbenfreudigeres, fremdländischer anmutendes Bild erscheinen. Mit dem bald darauf, erreichten Faido war unser Trennungspunkt gegeben, nach Norden und Süden trug die Bahn beide mit dankbarer Erinnerung an die schönen, eindrucksvollen Herbsttage im Tessin.

Es sind der Fahrten noch zahlreiche, die ich im Tessiner Kanton unternommen, aber die verehrliche Kommission winkt ab. Ein anderes Mal denn, vielleicht dass ich dann die Wunder der winterlichen Tessiner Bergwelt schildern darf, die an vielen lichtbegnadeten Tagen sich mir dort erschlossen. Wer von den Klubgenossen aber Freude an einfacheren Touren, an Ursprünglichkeit der Natur, Häufung von Kontrasten etc. hat, der wandere auf gleichen Pfaden im Tessiner Land. Er wird es sicher nicht bereuen.

Jahrbuch des Schweizer Alpenclub. 50. Jahrg...

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