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Aus der Lehrzeit eines bergsteigenden Flachländers

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

VON KARL-WILHELM SPECHT, SAC GRINDELWALD, MÜLHEIM A.D. RUHR

Miti Bild ( SO ) Es war im Sommer 1954, als meine Bergsteiger-«Laufbahn » theoretisch begann. Auf die letzte Karte an meine Eltern von einer Radtour durch die Eifel schrieb ich den bedeutsamen Satz: « Die nächste Karte kommt aus Oberbayern. Dahin fahren wir nämlich im kommenden Sommer. » Und so kam es auch. Ein Jahr später waren wir in Oberbayern, wir, das heisst mein Freund Ralf, 15 Jahre, und ich, 17 Jahre alt. Wir strampelten auch dort auf den Rädern durch die Gegend, logierten in Jugendherbergen und hatten ganze 60 Mark im Beutel - für drei Wochen! Wir kamen auch aus damit.

Unser Ziel war Garmisch. Nicht genug! Mich reizten seit eh und je die Berge. Schon als Kind hatte ich eine Vorliebe für die braunen Stellen im Atlas, obwohl ich im « Kohlenpott » das Licht einer Welt erblickte, die sich zu der schwindelnden Höhe von 153 Metern über Meer aufschwingt. Der Storch, der mich brachte, muss wohl gerade über die Alpen gekommen sein!

Nun gut! Jetzt war ich, waren wir inmitten dieser alpinen Welt, die alle unsere Vorstellungen bei weitem übertraf. Unser Entschluss stand fest: Die Zugspitze wird nicht nur von unten betrachtet. Radfahren? Kaum. Zahnradbahn? Viel zu teuer. Also: zu Fuss. « Durchs Höllental? Dos gibt 's net! » Rudolf Beyer, der rührige Herbergsvater der Zeltjugendherberge am Burgrain, führte ein strenges Regiment. Dabei wollten wir ja nur durchs Reintal. Er zog aber genaue Erkundigungen über die Art unserer Ausrüstung ein. « Abg'laufener Gummi », hiess es, « dös is nix, gell, wann 's die Felsen nass sand, verstehst? » Um sechs Uhr früh war er schon auf den Beinen, um uns von oben bis unten zu mustern. Dann liess er uns gnädig ziehen, steckte uns noch eine Tafel Schokolade in den Rucksack und blickte hinter uns her, bis wir verschwunden waren. Ein Pfundskerl, der wesentlich dafür verantwortlich war, in mir Gefühle der Sympathie gegenüber den eben erst berochenen Bayern zu wecken.

Wir stapfen also los, schwer beladen, versteht sich. Erstes Verirren in Garmisch. Regel: Bahnlinien eignen sich schlecht zum Bergsteigen. Über dem Erstaunen vor den Ausmassen der Olympiaschanze vergessen wir fast die Zugspitze.Vor der Partnachklamm ist die erste Feldflasche leer. « Von mir aus kann die Klamm bis auf den Gipfel führen », stöhnt Ralf angesichts der schattenspendenden Felsmauern.

Der Wald lichtet sich. Unbarmherzig brennt die Sonne ins Reintal. Rast am Ufer des Wildbaches. Bald schon hangen die Füsse im eiskalten Wasser. Am liebsten möchten wir es der Bach- amsel gleichtun, die sich kühn in die Fluten stürzt. Regel: Weiche, feuchte Füsse sind der Nährboden für die Bakterien der Blasenkrankheit Wenig später sind wir beide krank.

Doch dann gewahren wir auf einmal die Wildheit der Landschaft, die uns umgibt, und wie ein Weltwunder staunen wir als Flachlandtiroler die Abstürze des Hochwanners an. Es ist phantastisch hier! Die riesigen Kare, die rauschenden Wasserfälle, die himmelanstrebenden Flanken - mir klopft das Herz vor Aufregung. Der Freund ist realistischer: « Gut, dass wir da nicht'rauf-müssen! » Etliche Liter Partnachwasser zählen zu unserer ständigen Verpflegung. Regel: Wer gern Durst hat, trinke WasserSchon geht 's in die Serpentinen zur Knorrhütte. Der Blick ins Tal mit seinem Gegensatz in den Wandfluchten ist so faszinierend, dass wir mehr und mehr stolpernd höher steigen. Neuneinhalb Stunden liegen an der Hütte hinter uns - reichlich viel Zeit; aber wir haben eben genossen - unter anderem auch viel Wasser.

Fürs erste machen wir uns mit den Sitten und Gebräuchen eines Alpenvereinshauses vertraut. Sodann hält mich nichts mehr im Inneren. Mit Lederhose ( die war auch im Rucksack ) und Turnschuhen kraxele ich am Hüttenkogel herum. Im Tagebuch heisst es dazu: « Ich muss teilweise meine ganze Bergsteigerkunst hergeben, um an manchen schwierigen und gefährlichen Stellen hochzukommen » Und das mit nackten Beinen!

Abends hören wir atemlos dem Hüttenwart zu. Er erzählt, wie er einst bei Nebel seine eigene Hütte nicht mehr gefunden hat. Die Folge davon ist, dass ich mir am nächsten Tag für die Gipfeltour den vollen Rucksack auflade, angefüllt unter anderem mit Lederhose, Turnschuhen und Schlaf-anzug. Man kann ja nie wissen... Ralf tippt nur an die Stirn.

Der Anstieg beginnt. Fast ohne Leben ist das Geröll. Nur ein paar Bergschafe bimmeln; manchmal ruft auch eine Alpendohle. Die ersten Schneezungen tauchen auf. Dann haben wir nur noch das Zugspitzplatt unter unseren Füssen. Schnee im Sommer, und das zum erstenmales ist doch ein prachtvolles Erlebnis! Um sieben Uhr kommt das Münchener Haus in Sicht. Dort also werden wir bald sein. Einige Löcher im Eis sind durch Stangen markiert. Ob das wohl bei allen Gletschern so ist? Ein steiler Hang aus Schutt und Geröll zieht zum Schneefernerhaus. Wo nur der Atem bleibt? Da uns die Serpentinen zu langweilig werden, kürzen wir ab. Direttissima! Allerdings nicht lange. Kleinlaut sehen wir ein, dass wir kaum eine blasse Ahnung vom Kräftehaushalt beim Bergsteigen haben. Regel: Abkürzungen führen ins Verderben. Diesmal kommen wir mit Schmalz- und Luft-schwund davon. Trotzdem sieht die Seilbahn zum Gipfel ganz hübsch aus. Aber nein, wir sind ja Bergsteiger! Und in der Tat, jetzt müssen wir sogar klettern. Das Gelände besteht fortan vorwiegend aus Fels. Mein Tagebuch gibt genauere Auskunft: « Es ist nicht schwierig, nur steil, so dass wir oft anhalten, aus der Feldflasche trinken oder den Durst mit sauberem Eisschnee löschen. » Ja, ja, die gute alte Zeit! Unbeachtet aller bergsteigerischen Grundsätze schleppten wir unermüdlich Wasservorräte zu Berg, statt einer einzigen Backpflaume oder Zitrone.

Um 8.50 Uhr ist es endlich so weit: Deutschland liegt uns zu Füssen. Unser erster Berg ist bereits der höchste im Lande. Mit stolzgeschwellter Brust pflanzen wir uns vor dem Gipfelkreuz auf. Ein sehnlichst erwarteter Augenblick ist Wirklichkeit geworden. Und diese Wirklichkeit kosten wir mit allen Fasern aus. Selbst der redelustige Freund ist verstummt, und mir laufen Freudenschauer abwechselnd den Rücken hinauf und hinunter. Und das ist auch der Moment, in dem die Berge Fesseln an mich legen, die voraussichtlich von lebenslänglicher Dauer sein werden. Zum erstenmal eine Gipfelschau von unendlichen Ausmassen, zum erstenmal ein Blick in schaurige Tiefendas ist es, was neben der Zufriedenheit gleich wieder eine Sehnsucht in mir aufkommen lässt. Dort dehnt sich das Meer der Tiroler Berge, bis sie mit dem Horizont eins werden. Und dort macht der Abgrund zum Eibsee deutlich, wie klein und unwichtig die Welt unten sein kann, wenn man auf der Bergeshöhe steht.

Auf dem Rückweg halten wir uns für die Erfinder einer neuen Sportart. Auf den Schuhen fahren wir Slalom im Geröll und auf dem Platt. Grossartig! Wie der Wind stürmen wir talwärts. Doch die Kunst ist, wie man weiss, nicht neu, wohl aber verpönt. Regel: Wenn schon im Geröll abfahren, dann nicht mit dem Kopf zuerst. Ralf versucht es, zieht es aber doch vor, sich über den Rucksack abzurollen. Von da an gehen wir wieder gesittet.

Im Reintal regnet es. Das Gebirge zeigt sich von der feuchten Seite, die sich vorwiegend in den Schuhen bemerkbar macht. Die Blasen lassen deutlich ausdehnende Tendenzen spüren, und als wir an der Partnachklamm die Füsse entblössen, liegt die Grosse der Gebilde an den Fersen zwischen Tauben- und Hühnerei. Doch trotz aller kleinen Unannehmlichkeiten und grösseren Bergsteigersünden: es war eine tolle Sache. Obwohl wir am Olympiastadion jammerten: « Wenn jetzt ein Auto käme », so waren und sind wir uns doch einig darüber, dass unser erster, naiver Höhenausflug Eindrücke hinterliess, die unauslöschbar haften bleiben.

Ähnliche Umstände wie an der Zugspitze, dem ersten Zweitausender, gab es auch beim ersten Dreitausender. Das war ein wenig bekannter Berg, aber immerhin recht hoch. Es wurde ein bisschen dramatisch dort. Die Feldflasche blieb zwar zu Hause - wir waren ja inzwischen fortgeschritten. Doch Seil, Pickel und Steigeisen hatten wir höchstens einmal leihweise erprobt. Die schwache Finanzlage erlaubte die Anschaffung noch nicht. Wir wollten aber einen Dreitausender besteigen. Schliesslich sollte sich die Schinderei mit dem Rad nach Zermatt hinauf bezahlt machen. Das Mettelhorn, 3406 Meter, bot sich an. Und da soll 's ein Schneefeld haben, ein bisschen Gipfelkletterei und insgesamt vier Stunden Marsch; das sei alles. Wie gesagt, wir wollten...

Das Matterhorn färbt sich in der Morgensonne, die wohl irgendwo drüben hinter dem Monte Rosa auftaucht, von Rot über Orange und Gelb zu strahlendem Weiss. Zermatt erwacht, während wir die Jugendherberge verlassen. Bald können wir schon auf den Ort hinabsehen. Wir stehen am Ausgang der Triftschlucht. Wir sind nicht die einzigen Bergsteiger heute früh. Eine schwer bepackte Gruppe ächzt vor uns den Pfad hinauf. Ein « Grüezi » beiderseits, und schon sind sie überholt. Trotzdem haben auch wir keine Eile. Sie wäre ein Vergehen an der wunderbaren Natur. Der Herbst ist wohl nahe, aber es blüht noch überall; Schmetterlinge gaukeln umher, und der Triftbach singt dazu sein unentwegtes Plätscherlied. Am Trifthotel erweitert sich das Tal zu einem weiten Kessel, der von Drei- und Viertausendern eingeschlossen wird. Diese aber strecken nur zögernd ihre silbernen Gipfel durch den Morgennebel. Ein Schild mit der Aufschrift « Mettelhorn » zeigt gen Himmel; der dazu gehörige Steig aber fehlt. Die Karte haben wir in der Herberge studiert. Sie hängt noch immer dort, und, wie uns scheint, da hängt sie gut.

Also auf eigene Faust weiter! Wir benutzen vorläufig den Pfad, der zur Rothornhütte führt. Er geht so ungefähr in unsere Richtung. Schweizer Soldaten, die hier ihr Lager aufgeschlagen haben, verfolgen uns mit den Blicken. Müssen wir zünftig ausschauenAch nein, ich bin ja in weiblicher Begleitung!

Der Pfad gabelt sich. Wir halten uns rechts; denn dort ragt vor uns ein dreieckiger Felsberg empor. Das muss unser Ziel sein. Jetzt wird es steil. Der Steig verliert sich im Geröll. Vergeblich hoffen wir, ihn wiederzufinden. Am Rande eines Gletscherbaches kraxeln wir Stück um Stück höher. Gletscherbach? Jawohl! Über uns entfliesst er dem blanken Eis des Rothorngletschers, der wie eine Mauer meterhoch aufsteigt. Das sind ja ganz neue Aspekte. Sollte es das zu erwartende Schneefeld sein? Ganz unmöglich. Und so steil? Wir werden sehen. Die Moräne liegt unter uns, zu sehen 12 Die Alpen - 1966 - Les Alpes177 ist nichts Wesentliches. Was nun? Ein Stein, wohl halbmeterdick, kommt wie ein Geschoss über das Eis geflogen, saust fünfzig Schritt an uns vorbei und zerplatzt im Geröll. Das kann ja heiter werden!

Am Rande des Gletschers und auf seiner schmalen Seitenmoräne ist eine Begehung ohne Seil möglich. Das Eis ist zerfurcht und griffig. Zum Glück lässt sich die einzige Spalte im Gletscher, die sich über seine ganze Breite hinzieht, umgehen. Ununterbrochener Steinschlag stimmt uns bedenklich. Wenn doch endlich der Fels zugänglich würde! Stufenartig übereinandergeschichtete Bänder von mehreren Metern Höhe verwehren uns jeden Zutritt. Am Rande der Eiszunge geht es zwar bequemer, aber auch langsamer.

Endlich bietet sich eine Möglichkeit. Zug um Zug greifen wir uns höher. Tief und steil unter uns liegt bald der Gletscher. Manche Stellen schaffen wir erst beim dritten Versuch. Es ist schon riskant, ohne Seil. Aber daran dürfen wir jetzt nicht denken. Wieder so ein vertrackter Übergang zum nächsten Band! Für die Füsse habe ich Halt; doch freihändig geht 's nicht. Noch einmal! Tastend suche ich nach einem Griff für die Hände. Da löst sich ein Stein unter dem rechten Fuss. Achtung! Die Gefährtin presst sich an den Fels. Ich rutsche ein Stück über das Geröll, ein Bein hängt bereits über dem Abgrund, da kann ich mich mit den Händen an einen Block klammern, und die Gefährtin hat mich beim Wickel. Das hätte schiefgehen können! Der Rothorngletscher würde uns bereitwillig aufnehmen. Aber er soll vergeblich warten! Solche Anfänger sind wir ja nun doch nicht mehr. Also, erst einmal Ruhe; dann suchen wir nach einem anderen Ausstieg. Und siehe da, er findet sich! Das Gelände wird sanfter, erlaubt sogar einen Rundblick. Nur im Südosten haben sich die Viertausender vom Nebel befreien können. Gepanzert mit Eis und Schnee thronen sie da: Monte Rosa, Liskamm, Castor, Pollux und Breithorn. Das Matterhorn zeigt uns seine abweisenden Nordabstürze, die Dent d' Herens lugt gerade noch aus den Schleiern hervor. Dent Blanche, Gabelhörner und das Spiegelbild des Matterhorns, das Zinalrothorn, haben sich verhüllt. Die Wellenkuppe aber zeigt sich in einem von fast überirdischem Licht durchfluteten Wolkenloch. Ein solcher Anblick gibt Kraft!

Schnell kommen wir jetzt höher. Die Dreitausend-Meter-Marke ist längst überschritten. Über ein Schneefeld, in dem ein Schneehase seine Spuren hinterlassen hat, gelangen wir auf einen Grat, der einen Blick in schauerliche Tiefen öffnet; denn rechts fällt er fast senkrecht wohl 400-500 Meter ab, und dort unten herrscht eine eisige, düstere Einsamkeit. Der Grat öffnet aber auch unsere Lungen mehr und mehrer endet im Gipfel! Mit jedem Schritt atmen wir tiefer, bis schliesslich alle Mühe und Gefahr hinausgestossen wird aus unserer Brust. Der erste Dreitausender ist unser!

Die Rast wird lang und still. Was sollten wir auch sagen, als der Nebel zerreisst und vor uns die Pyramide des Weisshorns aufragt? Daneben duckt sich das Schalihorn im diffusen Licht des Nachmittags. Nicht lange bleibt der Vorhang geöffnet. Das Gebirge ist heute sparsam im Vorführen seiner Schätze.

Für den Abstieg finde ich einige Trittspuren, denen wir nachgehen und wesentlich leichter hinabkommen Noch ein Blick in die Tiefe. Der Berg dort unten sieht auch wie « ein » Mettelhorn aus - seltsam! Und die vielen Menschen in seiner Nähe, noch merkwürdiger!

Der Rückweg auf den Gletscher ist also unkompliziert. Doch ein Stolpern auf dem inzwischen weich gewordenen Eis ist der Start zu einer rasenden Fahrt in Richtung Spalte. Während ich beginne, mich von der Welt zu verabschieden, wirkt die Kleiderbremse und beendet den letzten Zwischenfall dieser Tour.

Nur das abendliche Kartenstudium bleibt noch zu erwähnen. Hinterher hat man gut lachen. Das dachte ich mir auch damals, als ich feststellte, dass wir auf das Mettelhorn lediglich herabgesehen hatten. Unser Berg hiess nämlich Aeschhorn und war 3619 Meter hoch.

In der Chronik fehlt nun noch der erste Viertausender. Auch seine Besteigung - wie könnte es anders seingelang unter nicht ganz alltäglichen Umständen. Ihn, nämlich den Mönch ( 4099 m ) erstürmte ich vom Jungfraujoch aus in 1 Stunde und 55 Minuten, sozusagen im Dauerlauf. Doch kann ich mich dazu auf die Bemerkung beschränken, dass ich ihm - wohl mit etwas Erfahrung im Rucksack - ganz allein aufs Dach stieg!

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