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Bekanntschaft mit dem Mont Blanc

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

Mit 1 Bild ( 77Von Alfred Aeppli

( Zürich ) Jede Tour oder selbst jeder Ausflug in die Alpen ist für mich eine « Erstbegehung »: es brauchen gar keine besonderen Schwierigkeiten aufzutreten, gar keine aufregenden Ereignisse im Verlauf einer Alpenwanderung, gar nichts im landläufigen Sinne « Aussergewöhnliches », und doch ist jedes Verweilen in den Bergen immer wieder von neuem ein tiefes Erlebnis, und dieses Erlebnis empfinde ich immer wieder als etwas Einmaliges, etwas, das mir und meinen Seilgefährten geschenkt wird, heute geschenkt wird, morgen vielleicht nicht mehr. Und wenn es gar in ein mir bis anhin noch gänzlich unbekanntes Gebiet geht, so ist die Freude doppelt, und das Gefühl des « Erstbegehens » sowie des Beschenktwerdens macht mich glücklich, besonders dann, wenn ich wissen darf, dass meine Gefährten dasselbe spüren und miterleben wie ich. So war es auch, als ich zusammen mit meinem Bruder Zwick und einem Freund Fredi das Mont-Blanc-Gebiet aufsuchte.

Ein solches Unternehmen beginnt bekanntlich immer etliche Zeit vor der eigentlichen Ausführung. Kartenstudium und Studium des « Kochbuches » des betreffenden Gebietes ist meine beliebteste Beschäftigung vor einem grösseren alpinistischen Unternehmen. ( Das « Kochbuch » ist der Führer. ) Weiter hat es sich immer als sehr nützlich erwiesen, sich mit solchen Leuten zu besprechen, die das Gelände der betreffenden Gegend schon aus eigener Anschauung kennen. Dann folgen alle Vorbereitungen betreffend Ausrüstung und Verpflegung. Und das Wichtigste: Kontaktnahme und Besprechung der Tour mit den Kameraden, die mitkommen werden. Es ist immer eine schöne, eine erwartungsvolle Zeit, die Wochen unmittelbar vor einer Bergwanderung.

Der Mont Blanc lockte mich schon lange, ich hörte und las schon viel von ihm, diesem höchsten Gipfel der Alpen, und ebenso von seiner Umgebung, seinen ihn umgebenden Viertausendern. Wie wird er im einzelnen aussehen, welche Besonderheiten wird er zeigen, welche Verhältnisse werden wir antreffen, welche Schnee- und Eisverhältnisse, was für Fels, wie wird sich das Wetter benehmen, kurz: wie wird der Berg mit sich sprechen lassen? Das sind alles Fragen, die mich vor der Abfahrt in Zürich ständig begleiten, und auf die es natürlich keine endgültige Antwort gibt, bis die Natur oder das Erlebnis selbst antworten. Dies ist einer der Gründe dafür, dass eine Bergfahrt stets ein interessantes Unternehmen ist, und bekräftigt meine Ansicht von neuem, dass jede Tour in gewissem Sinn eine Erstbegehung ist, denn die Alpenwelt präsentiert sich wirklich jeden Tag wieder in neuem und verändertem Gewand. Die Landschaft « bewegt » sich, unbeirrbar, sie macht eine ständige Metamorphose durch, alles ist im Fluss, nichts bleibt, es verweilt höchstens. Und so erhebt sich vor jedem Betreten des Alpengebietes die gleiche Frage: Wie weit ist die Verwandlung fortgeschritten, seit ich die Berge zum letztenmal besuchte? Und in welchem Zustand werde ich die Berge antreffen?

Es beginnt günstig: seit Weihnachten beinahe kein Schneefall in der Höhe, gutes Wetter, gute Laune, meine Kameraden ebenfalls in Form, alles vorbereitet und durchgesehen, was nötig, startklar, es kann losgehen. Abfahrt in Zürich Sonntag, 22. März 1953, morgens 7 Uhr, mit dem Leichtschnellzug nach Lausanne, von dort nach Martigny, wo Zwick und ich mit Fredi zusammentreffen, der mit dem Motorrad bis dorthin gelangte.Von Martigny mit dem Bergbähnchen nach Les Präs d' en haut, eine Station vor Chamonix. Von hier geht es zu Fuss zur Brücke über den Arveyron Torrent, wo wir unsere Ski anschnallen, worauf wir sofort den Weg nach Montenvers unter die Füsse bzw. unter die Ski nehmen. « A wonderful day » würde jede englische Lady auf ihrem Nachmittagspaziergang ausrufen; und wir geben dies auch zu. Der Wald am Abhang zwischen Les Präs d' en haut und Montenvers ist grossartig, das Harz der Nadelhölzer duftet, das tiefe Grün seiner Nadeln hebt sich ab vom klaren Blau des strahlenden Frühlingshimmels. Der Wald atmet, er atmet mit uns, die wir doch immerhin reichlich beladen sind und daher allen Grund haben zu atmen. Aber es ist eine Freude, der Talboden erscheint uns immer tiefer. Und der Wald spendet uns seinen köstlichen Schatten, der uns sehr gelegen kommt. Ich geniesse den Wald in vollen Zügen; er erinnert mich an die Engadiner Wälder oder an den Aletschwald. Alle diese Bergwälder besitzen eine ungemein geheimnisvolle Geborgenheit, eine stille und wohltuende Atmosphäre, mindestens bei solch prächtigem Wetter, wie wir es heute haben. Der Schnee ist am Anfang stellenweise sehr weich, weiter oben wird er härter. Wir erreichen das Bahntrasse der Monten-versbahn, das tief eingeschneit ist, und folgen ihm bis nach Montenvers, wo wir abends 6 Uhr hinkommen. Kurz nach Montenvers gewinnen wir den Gletscher, der hier Mer de Glace heisst, und beginnen die dreistündige Gletscherwanderung nach der Requinhütte. Die Hänge links und rechts sind nun nicht mehr mit Vegetation überzogen. Es sind Schutthänge, die in Felswänden oder vergletscherten Hängen ihre Fortsetzungen in die höheren Regionen finden. Es beginnt zu dunkeln, der Himmel wechselt von Minute zu Minute seine Farbe. Die Abhänge links und rechts machen das wunderbare Schauspiel mit. Die Landschaft scheint eine merkwürdige Sprache zu sprechen. Von den immer fahler und dunkler werdenden Hängen bilde ich mir ein, zu verstehen, dass sie sagen wollen: es wird kälter, immer kälter. Dies stimmt auch, es wird tatsächlich kühler, und der Mond beginnt sein Licht zu spenden. Sonderbar, das Mondlicht, das sachliche, kalte Licht! Wir sind aber froh um das Mondlicht, es erleichtert uns, den Weg zu finden. Wir treffen drei Skifahrer, die vom Mont Mallet heruntergekommen sind und nun wieder heimwärts ziehen. Bald sind wir drei wieder allein, allein wie in einer Wüste mitten im Mer de Glace, nachts bei klarstem Sternenhimmel und bei geheimnisvoller Mondbeleuchtung. Grossartig, ein solcher nächtlicher Aufstieg in die Gebirgswelt! Man bekommt eine Ahnung von den Dimensionen, mit denen man es zu tun hat, wenn der Mensch es wagt, die Berge anzurühren und sich darin herumzutummeln. Wohin ich schaue, überall Rätsel: am Himmel die Sternbilder, der Grosse Bär, die Cassio-peia, der Orion in seiner ganzen Ausdehnung, dann der Mond. Wenn ich das Auge nach links wende, erkenne ich die Ketten der Aiguille du Dru und des Evêque, die zur Aiguille Verte führen, rechts fällt der Blick an die Hänge der Aiguille de la République, und bald kommt vor uns rechts neben der Aiguille du Tacul die Aiguille du Géant zum Vorschein. Sehe ich in die nähere Umgebung, so erscheint das Mer de Glace als unendliche Ebene, in die wir drei als nichtige Punkte hineingetaucht sind. So marschieren wir, an der Tête de Trélaporte vorbei, den Glacier du Tacul hinauf, unter den Séracs du Géant durch zum Sporn unterhalb der Dent du Requin, wo sich die Requinhütte befindet. Wir erreichen die Hütte abends 10 Uhr, kochen Suppe, nehmen das Nachtessen ein und nächtigen.

Anderntags um 8 Uhr von der Requinhütte weg, rechts neben den Séracs du Géant auf den Glacier du Géant hinauf. Es herrscht strahlendschönes Wetter, klarster Morgenhimmel, die Berge erscheinen in ihrem reinsten und unberührtesten Gewand. Es grüssen die drei wohlbekannten Farben: das Weiss der Gletscher, das Dunkel der Felsen, das Blau des Himmels. Im Nordosten erkennen wir im Hintergrund die Arête des Rochassiers, deren zahlreiche lustige Zäcklein auffordernd herübergrüssen. Wir wandern an der Vierge vorbei an den Fuss der Aiguilles Marbrées und geniessen den Tag. « Man kann sich nichts Schöneres vorstellen », meint Zwick, « als das Erleben dieser Gebirgswelt ». Und ich pflichte ihm bei. Wir halten bei den Aiguilles Marbrées Mittagsrast und lassen den grössten Teil des Gepäcks hier, um alsbald den Anstieg auf die Aiguille du Géant in Angriff zu nehmen. Zuerst mit den Ski bis an den Fuss des Berges, dann zu Fuss den leichten Felsgrat hinauf, der durch einige Schneefelder unterbrochen wird bis zur eigentlichen Nadel. Hier begegnen wir italienischen Bergsteigern auf dem Abstieg. « Conditions idéales, c' est à peu près comme en été », sagen sie uns. Und ein Glück, dass es so war, denn die Uhr zeigte schliesslich schon 4 Uhr, und der Frühling hat erst vor zwei Tagen begonnen. Da sich aber das Wetter von seiner besten Seite zeigt, entschliessen wir uns zur Kletterei und erreichen die Pointe Sella etwas vor 6 Uhr. Wir erleben einen feurigen Sonnenuntergang. Es ist faszinierend, wie uns die Sonne auf dieser Höhe von 4000 Metern noch die letzten Strahlen spendet vor ihrem Untergang, nachdem die, wie uns scheint, tief unter uns liegenden Gletscher schon längst im Schatten daliegen. Der Feuerball der Sonne schleicht sich knapp über dem Mont Blanc du Tacul durch und senkt sich gegen den Col du Midi. Wir überwinden die schwierigeren Stellen noch bei abendlichem Sonnenschein und erreichen die Stelle, an der wir uns losseilen können, um 7 Uhr. Jetzt ist es auch endgültig Schluss mit dem Tag, und nach einer Viertelstunde hat die Sonnenbeleuchtung der Mondbeleuchtung Platz gemacht. Es folgt ein Mond-spaziergang durch die Felsen des Südwestgrates. « Guter Mond, du scheinst so stille », denken wir dankbar und pirschen uns durch die im Schnee gespensterhaft erscheinenden Felsen. Schliesslich erreichen wir den Platz, wo wir die Ski gelassen haben, von wo wir zum Gepäck bei den Aiguilles Marbrées fahren. Von da ist es nicht mehr weit zur Cabane Margherita, in der wir unser Nachtlager beziehen.

Es ist anständig kalt in dieser Hütte, stellen wir am Morgen fest, und Fredi und Zwick sind froh um meinen Daunenanzug, denn so kann ich ja « im Schlafsack » frei herumlaufen und das Morgenessen zubereiten, während die Kameraden sich noch an der Wärme ihrer veritablen Schlafsäcke halten bis zum ersten warmen Schluck. Zunächst trocknen wir unsere Sachen an der Sonne, die bald etwas Wärme spendet. Wir geniessen den Tief blick ins Tal von Courmayeur sowie die Ansicht des Peuterey-Grates, dann des Mont Blanc de Courmayeur, des Hauptgipfels des Mont Blanc sowie der Brenva-Wand. Gegen Mittag brechen wir auf über den Col des Flambeaux in die grosse Mulde des Glacier du Géant hinunter, in sausender Abfahrt, da der Schnee durchwegs hart ist. Zur Linken erheben sich die drohenden Wände der Aiguilles du Diable und des Mont Blanc du Tacul. Der Himmel ist nicht mehr so glasklar wie gestern, von Süden her werden einige Wolken herangetragen, so dass die Aiguille du Géant eskortiert wird von molligen, weissen Wolken, in denen die Nadel auch bald verschwindet. Dies bedeutet für die Aiguille du Géant leichten Schneefall, was wir anderntags auch bestätigen können, da die Felsen des Géant sich in einem zarten weissen Überzug zeigen. Vom Glacier du Géant steigen wir zwischen dem Gros Rognon und dem Mont Blanc du Tacul zum Col du Midi. Hier treffen wir zwei Führer aus Chamonix und einen Techniker aus Paris, die für anderthalb Tage im Observatorium weilen. Es ist ein Glücksfall, denn nun können wir im Observatorium die nächste Nacht zubringen. Die drei Franzosen sind sehr nett mit uns, und wir können uns ausführlich und ausgiebig ausruhen. Haben wir von der Cabane Margherita aus die Südostflanke des Mont Blanc bestaunen können, so zeigt sich nun vom Col du Midi aus die Nordseite mit der Route vom Col du Dôme über Grand und Petit Plateau am Rocher de l' heureux Retour und am Rocher Pitschner vorbei zu den Grands Mulets. Diese Route werden wir morgen in Form einer Skiabfahrt kennen lernen, hoffen wir, oder mindestens vom Grand Plateau aus, das wir auch durch den Corridor erreichen können. Man wird sehen, wie weit wir kommen werden, denn die Frage steht offen, wie sich die Hänge am Mont Blanc du Tacul und am Mont Maudit bewältigen lassen werden.

Mittwoch, 25. März, morgens 5 Uhr. Ich tue einen Blick ins Freie. Richtige Winterstimmung, einige weisse Schneewolken am südöstlichen Himmel, sonst stahlblaue Morgendämmerung, draussen sibirische Kälte. « Je crois bien que ça ira », sage ich zu unseren Gastgebern. « Ah, c' est votre affaire », erhalte ich zur Antwort, und einer der Führer steht zuvorkommenderweise auf, um uns das Morgenessen zuzubereiten. Abmarsch vom Col du Midi etwas nach 6 Uhr. « Pas de bêtises » ist das Letzte, was uns beim Abschied gesagt wird. Und bald stehen wir im Nordhang des Mont Blanc du Tacul, die Ski auf dem Rucksack, die Steigeisen an den Füssen, eine Seilschaft bildend. Dieser Hang ist etwa 500 Meter hoch und sehr verschrundet. Die Schnee- und Firneisverhältnisse sind ideal: ausgezeichneter Steigeisen-schnee, wie wir ihn nicht besser wünschen können. Hingegen machen uns die Spalten zu schaffen. Die meisten sind auf weiten Strecken meterweise offen und zeigen uns ihre Rachen bis auf den Grund. Und diese Verhältnisse herrschen im ganzen Gletscherreich an den Nordhängen des Mont-Blanc-Massives. « A peu près comme en été », nein, ärger als im Sommer, registrieren wir, denn Fredi kennt das Gebiet vom Sommer 1951 her, der allerdings ausserordentlich schneereich war, zu welcher Zeit man aber hier ohne Mühe durchkam. Wir stapfen den Hang hinauf, uns etwas in der Mitte haltend, bis wir zu den obersten Spalten gelangen, die durch den ganzen Hang zu gehen scheinen und uns den Weg versperren. Ich versuche zuerst, direkt hinaufzukommen, was aber misslingt, so dass wir nach links auf den Eisgrat ausweichen, der zum Mont Blanc du Tacul hinaufführt. Hier muss gehackt werden. Es ist immer wieder etwas Erhabenes, ein solcher Eisgrat. Rechts der Nord-Eishang, links die Ostwand des Tacul, durch dessen Rinnen ein lustiger Aufwind bläst und uns den Schnee in deutlich wahrnehmbaren Wirbeln ins Gesicht bläst, unter uns der Col du Midi und noch weiter unten die Talschaft von Chamonix. Über Italien dichter Nebel, sonst anständiges Wetter. Da wir nun schon nach links einen kleinen Umweg gemacht haben, steigen wir noch bis zu den Gipfelfelsen des Tacul, und dann, uns gegen Südwesten wendend, am Col Maudit vorbei, erreichen wir den Nordhang des Mont Maudit. Dieser Hang ist vor allem ziemlich steil, und ich möchte ihn bei Neuschnee nicht gerne betreten. Die Spalten zeigen sich auch hier, wir kommen jedoch gut voran, bis wir zum obersten Spalt, dem Bergschrund, gerade unterhalb des Col du Mont Maudit kommen. Er zeigt sich als ziemlicher Mordskerl, der nicht so leicht mit sich umgehen lässt. Er ist überall weit offen, seine obere Lippe durchwegs zwei bis drei Meter höher als die untere, und nur ganz rechts ist eine Schneebrücke vorhanden, die aber gar keinen vertrauenerweckenden Eindruck hinterlässt, denn diese Brücke ist keine richtige Brücke, die durchgeht und die beiden « Ufer » miteinander verbindet, es ist vielmehr nur noch der untere Ansatz vorhanden. Aber hier müssen wir durch, denn das Traversieren nach links mit nachfolgender Überschreitung des Mont Maudit würde viel zu viel Zeit in Anspruch nehmen. So lege ich den Sack ab und mache mich an die rudimentäre Schneebrücke heran. Eine luftige Sache, würde man im Fels sagen, und etwas exponiert. Aber die Sache hält, zu meinem Erstaunen. Ich krieche auf dem Bauch bis ans oberste Ende des Brückenansatzes, und von hier aus kann ich meine Steigeisen ins obere Ufer hacken. Ein grosser Schritt, und ich stehe über dem Bergschrund. Meine Kameraden und mein Sack folgen mit Hilfe einiger Seilmanöver, und nach kurzer Hackerei erreichen wir den Col du Mont Maudit. Dieser Berg hat seinen Namen beinahe verdient, denken wir. Wir haben uns zwar nicht zu beklagen, denn wir kamen ja relativ gut und in nützlicher Frist durch. Es ist aber immerhin schon mittags 2 Uhr, und die umliegenden Gipfel sind in Wolken eingepackt. Es schneit ganz leise. Wir haben Hunger, so dass wir in der Mulde des Mont Maudit, die gegen das Grand Plateau hin orientiert ist, das Mittagessen einnehmen. Um von hier aus den Col de la Brenva zu erreichen, müssen wir noch zweimal Bergschründe überqueren, die sich durchaus sehen lassen dürfen. Auch davon merkt man wohl bei schneereicheren Verhältnissen keine Spur. Um halb 4 Uhr stehen wir im Col de la Brenva, und das Wetter ist nicht mehr sonderlich gut. Der Gipfel des Mont Blanc ist schon lange versteckt, und auch unter uns beginnen sich Wolken breitzumachen. So entschliessen wir uns, von hier aus nach den Grands Mulets zu fahren. Zuerst in schöner Fahrt den Corridor hinunter, dann über das Grand Plateau zum Petit Plateau, dann auf dem terrassenförmigen Weg zwischen der Pointe Bayeux und dem Glacier des Bossons zur Hütte der Grands Mulets hinunter. Die Sicht ist gerade so, dass wir anständig skifahren können. Die Gegend erscheint uns bei der herrschenden diffusen Halbbeleuchtung sehr unwirklich, geisterhaft oder traumhaft. Unsere Route scheint viel steiler, als sie in Wirklichkeit ist, nicht zu sprechen von den Eiswänden und steilen Firnfeldern, von den zahlreichen Eisabbrüchen, die wir hier auf Schritt und Tritt antreffen. Wir kommen aus dem Staunen nicht heraus: so viel Eis, so viele Spalten und Schrunde, so viele Abbruche, so viele Eisblöcke als Zeugen von Eislawinen, und dies alles auf einmal. Es erscheint uns wunderbar, dass es da durch überhaupt einen Weg gibt, aber es gibt einen, und wir finden ihn. Es passiert uns noch ein Missgeschick, indem Fredi bei einem Sturz eine Skispitze abbricht, so dass er von nun an mit einer Ersatzspitze fahren muss, was aber sehr gut geht.

Donnerstag, 26. März. Um 8 Uhr verlassen wir die Grands-Mulets-Hütte Richtung Mont Blanc. Ein lieblicher Tag, tiefblauer Himmel, die Sonne sendet ihr Streiflicht in den Nordhang, links grüsst der Col du Midi, weiter der Tacul und der Mont Maudit mit seinen vereisten Gräten und Rücken, die in der Morgensonne in kristallklarstem Blau glitzern. Zuerst folgen wir unserer gestrigen Abfahrtsspur, von der man bei diesem harten Schnee natürlich sehr wenig erkennen kann. Es geht wieder durch die Eisblöcke des Petit Plateaus zum Grand Plateau, und von hier zum Col du Dôme. Bei der Vallothütte lassen wir die Ski zurück, denn der Grat über die Bosses auf den Hauptgipfel ist ziemlich vereist. Die Wanderung von der Vallothütte zum Gipfel erweist sich als etwas Einmaliges. Wir fühlen uns in dieser Höhe wie im Flugzeug. Es geht eine leichte Bise, die die Wolkenschiffe heranträgt. Rechts ein weites, weites Nebelmeer, dessen oberste Wolken zeitweise bis zu uns heranreichen und manchmal sogar die Sonne verdecken, links klarste Tiefsicht ins Tal von Chamonix und auf die gegenüberliegenden Berge. Unter den Füssen den verfirnten Grat, der durch einige Felsen unterbrochen wird. Wenn diese Felsen sprechen könnten, die höchsten Felsen, die Felsen der Tournette! Ausgesetzt allen Einflüssen der Witterung, bei Sturm und Kälte und Schnee, aber auch bei Hitze, bei erbarmungsloser Einstrahlung der Sonne. Das alles bedenke ich beim Begehen dieser klassischen Route. Und dieser Berg ist klassisch, er ergreift mich wie ein grosses Musikwerk von Beethoven oder Bach.

Wir betreten den höchsten Punkt abends halb 4 Uhr. Der Blick öffnet sich gegen Nordosten gegen die Aiguille Verte. Es kommt in mir ein etwas merkwürdiges Gefühl auf in diesem Moment, das Gefühl nämlich, den Maßstab zu verlieren, den Maßstab für die Höhe. Wir sind zuoberst, das weiss ich schliesslich. Wir bemerken es auch ziemlich deutlich. Aber es fehlen weit und breit die Gipfel, die einen Höhenvergleich zulassen. Der Mont Blanc steht isoliert, sehr allein. Überhaupt eine einmalige Erscheinung: Chamonix rund 1000 Meter über Meer, der Gipfel 4800 Meter, und diese Höhendifferenz wird sozusagen in einem einzigen Hang überwunden. Das findet man sonst nirgends in den Alpen.

Nach der Gipfelrast begeben wir uns wieder zu den Ski, um in schneller, rassiger Abfahrt die Hütte der Grands Mulets noch vor Sonnenuntergang zu erreichen. Bei der Hütte beginnt es leicht zu schneien.

Freitag, 27. März. Es geht heimwärts. Zum Glück ist das Wetter nicht gerade vertrauenerweckend, so dass wir uns leichter von den vereisten Höhen trennen können. Es hat die ganze Nacht ein bisschen geschneit, und die satten, weissen Schneewolken geben der Atmosphäre ein ausgesprochen winterliches Gepräge. Wir steigen von den Grands Mulets nach Chamonix hinunter. Von Zeit zu Zeit öffnet sich der Himmel, so dass die Aiguille de Bionassay und die Aiguille de Tricot in ihrem puderzuckerartigen Neuschneeüberzug zu uns herunterstrahlen, wie wenn sie uns sagen wollten: Da oben ist es doch viel schöner als bei euch unten in den Couloirs und Abhängen ob Chamonix. Aber wir müssen hinunter und heim, zuerst auf den Gletscher, über die Jonction auf den Glacier des Bossons. Dann folgt die Hangtraverse um die Aiguillette de la Tour herum zum Pavillon de Pierre Pointue, die mit den Steigeisen überwunden werden muss, schliesslich kommt die Abfahrt am Gare de la Para vorbei nach Chamonix, die von 1500 Metern an durch scheusslichen Faulschnee und durch die unglaublichsten Schneesümpfe führt. Dies gehört auch zum Mont Blanc und ist « inbegriffen im Kollektivbillet ». Da wir nun schon anständig nasse Socken haben, tut uns der einsetzende Regen nichts mehr an, und wir erreichen durchnässt den Bahnhof von Chamonix. Hier trennen wir uns: Fredi kehrt zu seinem Motorrad nach Martigny zurück, und Zwick und ich wählen den Weg über Genf nach Zürich.

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