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Berge am Tagliamento

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

VON S. WALCHER, WIEN

iWïf 4 Bildern ( 125-128 )

Die ungezählten Reisenden, die jährlich von Tarvis durch das Tal der Fella hinabfahren zur Lagunenstadt Venedig, sei es nun mit der Bahn oder mit dem Auto, werden, wenn sie sich der Station Carnia nähern, erstaunt auf das mehr als kilometerbreite, meist völlig wasserleere Flussbett des Tagliamento geblickt haben, das auf der weiteren Fahrt in noch weitaus grösserem Ausmass an die Bahnlinie und Strasse herantritt, ehe sie sich erwartungsvoll ihrem Ziele nähern. Der Bergsteiger aber, der fernen Zielen in den Westalpen zueilt, wird vielleicht verwundert oder auch begehrlich die ebenmässige, gewaltige Felspyramide betrachten, die sich da vor ihm aus dem Flussbette des Tagliamento zur beachtlichen Höhe erhebt. Vielleicht nimmt er, während der Zug der Ebene entgegeneilt, sogar eine Übersichtskarte aus der Tiefe seines Rucksackes und stellt fest, dass sich dieser Felskegel, der Monte Amariana, nicht weniger als 1618 Meter über dem kleinen, an seinem Südfuss liegenden Ort Amaro erhebt. Mag sein, dass es ihm dann so ergeht, wie es mir vor rund 36 Jahren ergangen ist, als ich mit Freund Sepp Laurer zum ersten Male zum Monte Rosa und Matterhorn fuhr. Der weiche, liebevolle Klang der Worte Amaro und Amariana und die vollendete, ebenmässige Gestalt des Berges, die durch das weite, öde, ja fast trostlose Bild des Tagliamentobettes nicht gestört, ja vielleicht sogar noch gehoben wird, waren bis zum Tage der Erfüllung nicht nur in all meiner Bergsehnsucht eingeschlossen, sondern sind es auch heute noch, nachdem ich unter den segnenden Händen der Gipfel-Madonna stand. Hat sich aber der Bergsteiger für seine Fahrt zu den grossen Bergen im Westen gut vorbereitet, dann wird ihm wahrscheinlich, ehe noch das Bild des Berges seiner inneren Schau entschwand, einfallen, dass er ausgerechnet hat, dass bei der Ersteigung des Monte Rosa von der Gnifetti-Hütte 991 Meter, bei der Ersteigung dieses gewaltigen Viertausenders über seine berühmte Ostwand ab Marinelli-Hütte 1538 Meter, und bei der Ersteigung des Matterhorns ab Hörnli-Hütte gar nur 1183 Meter an tatsächlicher Höhe zu überwinden sind; und da sollen bei diesem Monte Amariana 1618 Meter zu steigen sein? Wahrscheinlich wird er nach dieser Erkenntnis zweifelnd den Kopf schütteln, den Berg mit seinen vielen Höhenmetern vergessen und seinen ersehnten Westalpen-Viertausendern entgegenträumen.

Nun ist es aber tatsächlich so, dass sich die Berge am Tagliamento viele hundert Meter über der Talsole erheben; sind die technischen Schwierigkeiten ihrer Ersteigung, abgesehen vom Wegfinden, auch gleich Null, so bleiben doch die Höhenmeter bestehen, die überwunden sein wollen, dazu noch meistens zeitweise bei einer recht erheblich hohen Temperatur. Ansonst aber sind sie das Reich prächtiger Laubwälder und Hochlandwiesen mit einer harmonischen Schau auf die Berge im Norden und auf die weite Ebene im Süden; freilich das Leuchten und Glitzern der Adria wird nur dem beschert sein, der zu ganz früher Morgenstunde auf dem Gipfel steht.

Monte Verzegnis, 1915 m 2. Als wir zu zweit am Freitag, den 2. Juni 1961, um 7 Uhr morgens Tolmezzo verliessen, war der Himmel wolkenlos. Wir überschritten auf einer langen Brücke das Schotterbett des Tagliamento und folgten der Strasse hinauf nach Chiaulis, Intissans und Chiaicis, die zusammen die Gemeinde Verzegnis bilden. Obwohl meine Gefährtin die Landessprache voll- 1 Höhenangaben und Namensschreibung nach Band VIII « Der Hochtourist in den Ostalpen » und Alpi Carniche des CAI und TCI 1954.

2 Tolmezzo, 323 m. Höhendifferenz 1592 m.

kommen beherrscht, war es doch kaum möglich, eine klare Auskunft über den Weg zum Monte Verzegnis zu erhalten; immer wieder hörten wir von einer Cava Rossa, nichts aber von unserem Berg selbst. Als wir uns glücklich bis zum Sattel Chianzutan ( 954 m ) durchgefragt hatten, waren bereits drei Stunden vergangen. Inzwischen hatte sich der Himmel rasch bedeckt, und der Monte Amariana, der während unseres Aufstieges so verlockend und sonnenüberstrahlt im Osten stand, hatte bereits eine blaugraue Nebelkappe aufgesetzt. Auf dem erwähnten Sattel, über den eine fahrbare Strasse nach Pozzis im Tale des Arzino führt, machten wir mit der Cava Rossa die erste Bekanntschaft; eine primitive Seilbahn und gewaltige, zubehauene Blöcke eines roten, marmorähnlichen Gesteins verrieten uns, dass sich da, hoch über uns, irgendwo in den bereits nebelverhangenen Bergen ein Steinbruch befinden musste. Dabei ahnten wir freilich nicht, dass wir heute noch Gäste der Arbeiter dieses Steinbruches sein sollten.

Jenseits des Sattels hatten wir die letzte Gelegenheit, uns nach dem Weg zum Monte Verzegnis zu erkundigen. Ein wahrscheinlich unter vielen Schlägen ergrautes Maultier zog einen mit dürren Ästen hochbeladenen, landesüblichen Karren bergwärts, dessen Besitzer uns auf unsere Fragen nur immer wieder auf die Cava Rossa verwies, wobei er mit ausgestrecktem Arm nach Norden, in den Nebel hinauf, zeigte. Kurz entschlossen folgten wir diesem Hinweis, stiegen auf einem kaum mehr kenntlichen Alpweg zu einer menschen- und viehleeren Alp hinauf, bei der wir uns zu einer längeren Rast niederliessen. Als wir nach einer Stunde weiterzogen, einem recht steinigen Weg folgend, flammte ganz unvermittelt ein greller Blitz auf, ein gewaltiger Donnerschlag erschütterte die Luft, und gleich darauf begann es in Strömen zu regnen Was sollten wir tun? Umkehren? Zurückgehen zur Alp? Wir dachten an das geduldige, geschundene Maultier, schlüpften in die Regenhaut, liessen den Regen strömen, die Blitze zucken und den Donner grollen. Freilich, das weitere Aufwärtssteigen auf dem schlechten Weg war bestimmt kein Vergnügen, aber es geht ja bekanntlich alles vorbei, und so ist auch dieses Gewitter allmählich abgeflaut; zurückgeblieben sind nur zwei tropfnasse Gestalten in einer vernebelten unübersichtlichen Alpregion. Wir hatten während des Aufstieges den Wald hinter uns gelassen, standen einige Minuten unschlüssig an einer Wegteilung und hatten dann, dem scheinbar älteren und ausgetretenen Weg folgend, das freie Alpgelände erreicht in dem sich der Weg, wie das schon so üblich ist, allmählich verlor. Alles, was ich richtunggebend erblickte, war ein flacher Sattel auf dem, gerade noch erkenntlich, eine Stange zu stehen schien. Als wir sie erreichten, lag vor uns das Gleis einer Feldbahn, das nach beiden Seiten in den Nebel hinein lief. Dem Schienenstrang nach links, entlang einer hohen, roten Felswand folgend, standen wir bald darauf, um eine Ecke biegend, vor dem langgestreckten Gebäude einer typisch italienischen Baracke; wir waren bei der Cava Rossa.

Zögernd betraten wir das graue, nasse und nebelumwallte Gebäude. Zwanzig bis dreissig verwegene Gestalten sassen im Nebenraum bei den Tischen und blickten erstaunt auf uns. Im Vorraum, der Küche, flackerte ein helles Feuer und beleuchtete ein braungebranntes, scharfgeschnit-tenes Gesicht, das sich über einen mächtigen Kessel beugte. Buona sera! Etwas verhalten kam es zurück - Buona sera! Dann einige Minuten Stille. Wenig später waren wir der Mittelpunkt der Cava Rossa. Selten noch sind wir so freundlich und herzlich aufgenommen worden wie hier. Die Fragen: Hunger ?, Durst ?, müde ?, nass? usw. schwirrten durch den Raum. Alle wollten uns bei der « Trockenlegung » behilflich sein, Grappa wurde geboten, Wein und Kaffee. Merkwürdig, wie so ein unerwarteter, freundlicher und echt menschlicher Empfang die Stimmung hochschnellen lässt; ich fühlte sofort, hier waren wir ohne jede Nebenabsicht als Menschen von Menschen aufgenommen worden. Bald darauf dampfte auch die Gemüsesuppe in der grossen Schale, die wir uns, mitten in der Gemeinschaft der Steinbrucharbeiter, trefflich schmecken liessen.

Als im Laufe des Nachmittages der Regen etwas aussetzte, zeigte man uns wie der « Rote Stein » gebrochen und mit der Feldbahn jenseits des Sattels, durch einen Tunnel führend, zur Bergstation der Seilbahn befördert wurde. Der Abend aber war der Höhepunkt des Tages. Nach der üblichen Pasta asciutta war alles, was die kleine Küche fassen konnte, in ihr versammelt. Da gab es im Lichte des flackernden Feuers viele interessante Gesichter zu sehen, da floss der dunkelrote Wein, der um so besser schmeckt, je höher er ausgeschenkt wird, da gab es Fragen und Antworten in deutscher und italienischer Sprache, da herrschte ein Frohsinn und eine Fröhlichkeit, wie ich sie nur sehr selten erlebt habe. Als es aber 22 Uhr wurde, der « Maestro » den Weinausschank einstellte, zogen sich alle auf ihr einfaches Lager zurück. Für uns wurde ein Bund Stroh ausgebreitet, eine Decke darübergeworfen, eine zum Zudecken danebengelegt, und dann das spärliche Licht gelöscht. Wie mir am nächsten Tag berichtet wurde, sei ich nach dem Ausziehen der Schuhe sofort eingeschlafen und so erwacht, wie ich mich hingelegt hatte; es war tatsächlich ein köstlicher Schlaf.

Leider regnete es am nächsten Morgen wieder. Da aber die Wolken sehr hoch standen und die Gipfel der Berge frei waren, beschlossen wir die Ersteigung des Monte Verzegnis fortzusetzen. Um 7 Uhr nahmen wir von den freundlichen Menschen der Cava Rossa Abschied und querten, vom Schienensattel etwas absteigend, die Hänge hinüber zur grossen Mulde unterhalb des Verzegnis-gipfels. Ein steiler Rasenhang brachte uns zum schmalen rasigen, stellenweise ausgesetzten SO-Grat, über den wir um 8 Uhr morgens den Gipfel erreichten. Ganz fein fiel aus einer hohen Wolkendecke, unter der ringsum die Bergwelt ausgebreitet lag, der Regen. Es war eine eigenartige Stimmung, die uns umgab. Ab und zu fand ein schüchterner Sonnenstrahl den Weg durch die braune Wolkendecke, und dann leuchtete in seinem Lichte bald hier, bald dort ein hoher, gewaltiger, schneebedeckter Berg des Nordens seltsam auf; einmal fiel so ein Sonnenstrahl auf den wuchtigen Zwölfer der Sextener Dolomiten, so dass es schien, als stünde dort ein riesenhafter Bergkristall.

Da wir den Berg nach Preone überschreiten wollten, folgten wir einer Wegspur auf dem etwas felsigen Nordgrat hinab zum Sattel vor dem Monte Corniolina, von dem wir auf einen ziemlich steilen, nur im unteren Teil etwas mit Erlstauden bestandenen Hang und teilweise in einer unangenehmen, erdigen Lawinenrinne zur Malga Pallas abstiegen. Hier habe ich wieder einmal bestätigt gefunden, wie leicht man sich beim Schätzen eines Hanges talwärts über den Neigungswinkel täuschen kann; der Hang, der von oben ganz gemütlich aussah, war stellenweise so steil, dass der Abstieg nur mit stark abgewinkelten Knöcheln möglich war, besonders in der Rinne, in der auch noch Altschnee lag.

Wir waren froh, als wir die Rinne und den Hang hinter uns hatten und auf einen guten Alpweg, zuletzt durch eine prächtige Hochwiese, zu den wenigen Häusern des Casale Conte Cecconi im obersten Preonetal hinabgehen konnten. Ehe wir dann das steinige Strässchen nach Preone hinauswanderten, um von dort mit dem Autobus nach Tolmezzo zurückzufahren, gab es in einem der zwei oder drei kleinen Häuser, das besonders nett aussah, noch eine längere und ausgezeichnete Mittagsrast im Kreise einer aus dem Vater und einer jungen, hübschen Tochter bestehenden Familie, die während des Sommers hier heroben eine kleine Landwirtschaft betreibt und uns gastlich aufgenommen hatte.

Mont Arvénis, 1968 m, und Monte Tamai, 1973 m. Die kleine, sehr wenig bekannte Gruppe des Monte Arvénis umfliessen die Flüsse Margó und Gladegna im Norden, der Degano im Westen, der grosse Schuttbringer But im Osten und der Tagliamento im Süden. Der markanteste Berg der Gruppe ist der Arvénis, der höchste, mit 1973 Meter, der Tamai. An klaren Tagen mit einem der Fernsicht günstigen Luftverhältnis bieten beide Berge eine aufschlussreiche Schau, die von den Julischen Alpen im Osten, zum Karnischen Hauptkamm im Norden und bis zum Gipfelmeer der Dolomiten im Westen reicht. Das ganze Gebiet ist durch ein Wegnetz, das seine Entstehung vielfach den beiden Kriegen verdankt, gut erschlossen. Die schönen Laubwälder am Fusse der Berge, die weiten Wiesen und Weiden und die freien Gipfel mit ihrer weiten Fernsicht werden alle jene erfreuen, die gerne abseits der modernen Übererschliessung in einer stillen, ursprünglichen Landschaft einige Tage verbringen wollen; kommen sie zu einer Alp, rasten sie dort, so können sie auch noch die alte Gastfreundschaft der Friulaner kennenlernen. Wer sich für die Gruppe interessiert, findet nähere Angaben und Hinweise im Band Alpi Carniche der Guida dei Monti d' Italia, herausgegeben vom Club Alpino Italiano und Touring Club Italiano. In jüngster Zeit sollen im Gebiet des Arvénis Mineralquellen entdeckt worden sein.

Unsere Arvénis-Ersteigung begann am Sonntag, den 4. Juni, mit einer Autofahrt von Tolmezzo nach Lauco. Gleich nach der Ausfahrt aus Tolmezzo übersetzt die Strasse das breite Geröllbett des But, führt kurz darauf an der Riesenschlucht des Vinaio vorbei und steigt dann von Villa Santina in zahlreichen Kehren hinauf zu dem kleinen Bergdorf Lauco ( 719 in ). Den Nachmittag benützten wir, um den Weg auf den Berg für morgen festzulegen, wobei uns der Ausflug bis zu dem kleinen, einfachen, aber sehr malerischen Dorf Vinaio brachte. Um die Fahrstrasse nach Vinaio und ihre Fortsetzung, einen besseren Güterweg, nach dem Alpdorf Val ( 1190 m ) nicht gehen zu müssen, bestellten wir für den nächsten Tag, 4 Uhr, ein Taxi, das auch pünktlich zur Stelle war und uns in kaum 20 Minuten bis zum Ende des noch fahrbaren Güterweges, wenige Autominuten oberhalb Vinaios, hinauffuhr.

Als wir unsere Wanderung begannen, war es 4 Uhr 20 Minuten. Der klare, wolkenlose Morgenhimmel, die kühle Luft und der taufrische Wald, durch den der Weg leicht ansteigend führt, machten das Steigen zu einem Genuss. Nach ungefähr 1 Stunde hatten wir die wenigen, sehr primitiven Alphäuser von Val erreicht, die auf einem breiten Wiesensattel zwischen dem Monte Marsins im Süden und dem Monte Tribil im Norden liegen. Hier war der Güterweg zu Ende, und wir mussten sehen, wie wir weiterkamen. Im hohen und leider auch sehr feuchten Gras umgingen wir den Tribil östlich, kamen zu einem tief eingeschnittenen Bachbett in dem wir zu unserer Verwunderung rote Wegzeichen fanden. Nun ist es mit der Wegbezeichnung in italienischen Gebieten meistens so, dass sie unvermutet auftauchen, irgendeine Nummer tragen, dass sie ebenso unvermutet wieder verschwinden und, dass man höchst selten, ja fast nie erfahren kann, woher sie kommen und wohin sie führen; so war es auch hier. Wir folgten den roten Zeichen bachaufwärts, bis wir sie hoch oben auf einem breiten Weg in der Ostflanke des Monte Claupa wieder verloren. Dieser alte Kriegspfad führte uns zu einem kleinen Sattel, von dem aus wir zum erstenmal den felsigen Gipfelaufbau des Monte Arvénis erblickten. Auf dem weiteren Weg zu ihm hatten wir noch einen breiten Hang mit eingestreuten Geröllfeldern und Wasserrinnen zu queren, erreichten dann eine Scharte südlich des Gipfels, fanden hier wieder rote Wegzeichen und die Überreste eines verschütteten Serpentinen-weges, auf welchem wir, an einer Kaverne vorbei, um 8 Uhr morgens den Gipfel erreichten.

War uns bei der Fahrt zum Monte Verzegnis ein recht ungünstiges Wetter beschieden, so war heute das Gegenteil der Fall. Wolkenlos spannte sich der lichtblaue, südliche Himmel über das wunderbare Bergland, die Wärme der Sonne wurde noch angenehm empfunden, und die Augen und das Herz konnten sich an der weiten und höchst malerischen Fernsicht so recht erfreuen. Wenn wir trotzdem nur eine zwanzig Minuten währende Stehrast hielten, so war daran der Monte Tamai schuld, der gerade vor uns im Norden stand und auch noch besucht werden wollte. Also kehrten wir auf dem Wege unseres Anstieges bis zum Rasensattel zurück, querten von dort aus unter der Ostflanke des Arvénis hinüber zur Forcella Tamai ( 1840 m ) und stiegen von ihr in wenigen Minuten hinauf zum breiten Fels- und Rasengipfel; nun, da für heute kein Gipfel mehr lockte, hatten wir Zeit zur Rast.

Eine wunderbare, nervenberuhigende Stille umgab uns. Über den Felsblöcken des Gipfels zitterte die warme Luft, ab und zu wehte ein feiner Wind über den Grat, auf dem in einiger Entfernung, in einer weichen Grasmulde, die Schafe lagerten. Wenn der Blick vom vielen Schauen müde wurde, die Augen sich schlössen, umfing uns die köstliche Stille und die schmeichelnde Wärme der Sonne mit einem unsagbaren Behagen. Blinzelte ich zwischendurch wieder einmal in die Runde, machte der Blick jedesmal beim kühnen Gipfel des Monte Arvénis halt, der sich von hier aus in seiner schönsten Gestalt zeigt. So lagen, schauten und träumten wir fast zwei Stunden, bis wir uns entschlossen, den Abstieg nach Ovaro im Tale des Degano anzutreten.

Von der Forcella Tamai führte uns ein guter, sich aber mehrmals verzweigender Weg unter den Westabstürzen des Arvénis hinab zur Malga Arvenùtis. Hundegebell lockte den Hirten ins Freie; als er uns erblickte, lud er uns freundlich zur Einkehr ein. Da wir Durst hatten und gerne Milch getrunken hätten, folgten wir um so lieber der freundlichen Einladung. Der Hirte aber wollte uns vorläufig weder Milch noch Wein geben. Wir müssten uns erst abkühlen, meinte er, befahl mir, den Rock anzuziehen, und liess mich dann erst in die Kühle der sehr einfachen Küche treten. Als wir im Laufe des sich ergebenden Gespräches darauf kamen, dass wir beide im ersten Weltkrieg Soldaten waren und dem gleichen Jahrgang angehören, war er so begeistert, dass er mich auf beide Wangen küsste und dabei ganz entzückt wiederholt ausrief: vecchio, vecchio, evviva la classe, evviva la classe 1! Ich glaubte nicht, dass diese Küsse den Neid meiner Gefährtin erweckten, dürfte aber darnach nach der Meinung meines gegnerischen Frontkameraden und Jahrgangsgenossen so weit abgekühlt gewesen sein, um die uns nun reichlich servierte Milch ohne Schaden für die Gesundheit trinken zu können. Aber, so meinte unser lieber Freund weiter, Trinken, ohne zu essen, sei nicht gut, und so brachte er auch noch seinen Käse, Jahrgang 19, der ebenso hart wie scharf war, von dem wir aber doch, dem Gesetze der Gastfreundschaft gehorchend, essen mussten. Dass unser Gastgeber beim Abschied nicht zu bewegen war, auch nur die geringste Gabe anzunehmen, ist selbstverständlich; lediglich von den gemachten Aufnahmen hat er sich für seine « Sammlung » einen Abzug erbeten, den wir ihm dann auch recht gerne gesandt haben.

Der Abstieg von der Malga Arvenùtis, deren klangvoller melodischer Name allein schon die Erinnerung an den Weg nach Ovaro höher schlagen lässt, war ein wunderbarer Spaziergang von zwei und einer halben Stunde. Durch prächtige, farbenfrohe Blumenwiesen, im dunklen schattenreichen Nadelwald und unter den sonnenlichtdurchfluteten, breiten Kronen hoher Buchen und einzelner Kastanien gingen wir langsam hinab nach dem sauberen und freundlichen Ovaro. Während des Abstieges aber hatte ich noch Gelegenheit, festzustellen, dass nicht nur der Wein ein Fröhlichkeitsbrin-ger und ein Frohe-Stimmung-Wecker ist, sondern dass es auch die Milch sein muss, denn sonst hätte ich nicht alle Augenblicke hinter oder vor mir ein fröhliches und übermütiges « vecchio, vecchio, evviva la classe, evviva la classe » hören können. Und mit diesem unserem neuen alpinen Schlachtruf beschlossen wir auch in Ovaro in einer Weinlaube unsere Arvénis-Fahrt, ehe uns der Autobus wieder nach Tolmezzo zurückbrachte.

Monte Amariana, 1906 m. « Der mächtigste Eckpfeiler an der Fellamündung in den Tagliamento, die er 1600 Meter überragt; der populärste Berg der Carnia. » Soweit der Hochtourist, 4. Auflage 1911, Band 3, und 5. Auflage 1930, Band 8. Beide verzeichnen die gleichen Anstiegswege; zwei von 1 Alter, Alter, es lebe der Jahrgang.

Amaro, einen von Tolmezzo und einen von Moggio. Der bereits erwähnte Führer des CAI, Alpi Carniche ( 1954 ), charakterisiert den Berg mit ziemlich gleichen Worten, weist aber eine weit grössere Anzahl Anstiegsmöglichkeiten auf, unter ihnen auch schwierigste Kletterwege. Den ersten Satz im Hochtouristen kann ich voll bestätigen, dagegen habe ich leider feststellen müssen, dass wohl der Berg « populär » ist, dass man aber von den verschiedenen Anstiegen herzlich wenig weiss, zumindest in den Ortschaften an seinem Fusse, einschliesslich Tolmezzo. Da uns der CAI-Führer nicht zur Verfügung stand und ich annehmen musste, dass sich seit 1930 am Berg so manches geändert haben könnte, was sich später auch bestätigte, war ich bemüht, eine Auskunft zu erhalten. Die mir dann auch von einem Tolmezzer Bergsteiger in einer Buchhandlung in äusserst entgegenkommender Weise gegebenen Hinweise waren aber leider die Ursache, dass wir den Gipfel des Berges nicht erreichten. Das war gewiss recht bedauerlich und hat mich sehr geärgert; heute aber danke ich dem Tolmezzer Alpinisten, denn seine Empfehlung hat uns zu einer recht romantischen Fahrt verholfen.

Als wir am Dienstag, den 6. Juni, um 4 Uhr morgens Tolmezzo verliessen, war der Himmel wolkenlos. Wie uns geraten wurde, marschierten wir auf der Strasse nach Amaro bis knapp vor den ersten Bahntunnel. Dort sollten wir das Bahngleis überschreiten und einen Weg finden, der uns auf den Gipfel bringt. Schon den Anfang dieses Steiges zu entdecken, war eine Kunst. Nach langem Hin und Her waren wir endlich so weit und folgten dem ganz guten Pfad freudig aufwärts. Aber unsere Freude währte nicht lange. Nach kaum einer Stunde erreichten wir eine prächtige Bergwiese, und der Weg war zu Ende. Das Gras stand hier so hoch, dass es mir stellenweise bis zu den Schultern reichte; so schön diese Wiese an sich war, so sehr verwünschte ich sie, um so mehr, weil jeder Halm vom nächtlichen Regen vor Nässe troff, die uns nun reichlich zuteil wurde. Es war eine mühsame und langwierige Angelegenheit, in diesem Grasmeer herumzuwaten, es nach allen Richtungen zu durchfurchen, um die Fortsetzung des Weges zu finden. Als wir sie dann glücklich nach vielen vergeblichen Versuchen über uns auf dem schwach ausgeprägten Bergrücken fanden, waren wir bereits bis auf die Haut nass. Aber wir hatten ja wieder den Weg und zogen etwas beruhigt weiter. So näherten wir uns langsam dem Col Feltron ( Forcella Cristosehe wir ihn jedoch erreichten, nahm uns ein zweites Wiesenmeer auf, in dem die Graswogen noch höher gingen und die uns neuerlich ein morgendliches, kühles Bad bescherten.

Nun aber hatten wir ja bereits den Col Feltron erreicht, und da ich hoch oben in der sehr steilen, grasigen Südflanke des Berges die Kehren eines Weges sah, war ich wieder freudig gestimmt. Wie uns geraten, folgten wir jetzt einige Minuten einer alten Kriegsstrasse, bis ich linkerhand, bei einer Felswand, den Beginn des Steiges fand, dessen Kehren hoch über uns den grünen Wiesenhang durchzogen. Dieser Weg verdankt seine Entstehung bestimmt militärischen Zwecken; steil und kühn überwindet er zuerst fast senkrechte Felswände, um dann in kurzen Kehren rasch hoch in den steilen Rasenhang hinaufzuführen. Aber der militärische Zweck des Pfades war scheinbar nicht der Gipfel des Berges, denn auf einmal war er zu Ende. Wohl sah ich drüben in der mehr nach Osten gewendeten Flanke noch ein Stück des Weges, aber auch dort war die Herrlichkeit nur kurz. Was ich jetzt noch fand, waren nur Trittspuren, die einen noch steileren Hang hinaufführten, den oben eine Felsrampe abschloss. Keuchend mühten wir uns bis zu einer Baumgruppe hinauf, die knapp unterhalb der Felsrampe stand, und machten dort einmal eine Rast. Nach reiflicher Überlegung entschloss ich mich, den weiteren Aufstieg allein auszukundschaften. Ich ersuchte meine Gefährtin, hier zurückzubleiben, umging die Felsrampe links, fand einen steinigen Hang aus dem sich ziemlich hoch über mir ein Grat erhob der zweifellos zum Gipfel führen musste. Da aber alle meine Wahrnehmungen mit den Angaben des Tolmezzer Bergfreundes nicht übereinstimmten, kehrte ich zur Baumgruppe zurück und querte nun unter der Felsrampe weit nach Norden, ohne aber eine Fortsetzung des Steiges zu finden, die ich nun unbedingt finden wollte. Wieder zur Baumgruppe zurückgekehrt entschloss ich mich rasch den vorher erspähten Grat zu erreichen und ihm zu folgen; leider kam dieser Entschluss zu spät. Als ich nach Überschreitung einer schmalen Scharte an seinem Beginn stand, war der Gipfel bereits im ziehenden Nebel verschwunden, und aus dem Süden und Westen zogen schwarze Gewitterwolken heran. Jetzt aber war ich auf den Gipfel versessen und kletterte trotz der nahenden Gefahr den ausgesetzten Grat rasch aufwärts bis mich die stechende Helle des ersten Blitzes und ein sehr unfreundlicher Donnerschlag zur Besinnung brachten. Aus, sprach ich zu mir, zurück!

Bei der Baumgruppe zum vierten Male angekommen, stellte die Gefährtin ruhig fest, dass meine Versuche nur zwei Stunden dauerten, ich dagegen, dass ich Hunger habe und zornig sei, und beide gleichzeitig, dass es bereits regnete.

Ach ja, was jetzt folgte war nicht nur eine äusserst romantische sondern leider auch eine recht kühle und feuchte Angelegenheit. Bei immer ärger werdendem Gewitterregen, bei fortwährendem Geblitze und Gedonner eilten wir, so rasch es ging, hinab zum Col Feltron. Dort kurze Beratung; zurück über die Bergwiesen oder - folgen wir der unbekannten, nicht sehr vertrauenerweckenden Strasse? Folgen wir der Strasse! Und so kamen wir vom Regen in die Traufe; die Bergwiesen wären nass gewesen, bestimmt, hier aber gab es nur mehr Wasser und ein fast undurchdringliches, meterhohes Gestrüpp, in dem die alte Kriegsstrasse zeitweise völlig versank. Während wir uns in einer unbeschreiblichen Landschaft, eingehüllt in dichtem Nebel, umleuchtet vom grellen Licht der Blitze und wachgehalten vom endlosen Grollen des Donners, völlig durchnässt im Dickicht der versunkenen Strasse abwärts mühten, hatte ich reichlich Gelegenheit, die Strassenbaukunst der Italiener und zugleich die Vergänglichkeit aller irdischen Werke zu studieren und zu bewundern. Ganz abgesehen von der Kühnheit der ganzen Anlage waren es die gewaltigen Stützmauern berg-und talwärts, die breit ausgebauten und dabei ganz engen Kehren und die meterdicken Brüstungen, die mich staunen liessen, all das aber nur, soweit sie überhaupt noch kenntlich waren, denn - mächtiger als alle Technik, die hier schier Unvergängliches schaffen wollte, waren die Kräfte der Natur. Die Stützmauern sind abgerutscht, die Brüstungen in die Tiefe gestürzt, die Kehren abgebrochen, und der ganze Bau, solange er sich im Bereich der Felsflanken und Wände befindet, ist an vielen Stellen meterhoch verschüttet; überall aber hat das Leben vom Werke aus Menschenhand rasch Besitz ergriffen, und so ist der gewaltige Bau in verhältnismässig wenigen Jahren unter dem Geäste und Blättermeer rasch wachsender Bäume und Sträucher völlig versunken.

Allmählich kamen wir tiefer, und langsam klang die gewaltige Symphonie des Hochgewitters aus. Als wir aus dem Bereiche des Nebels traten, erglänzten bereits die schwarzen, nassen Felsen im warmen Lichte der ersten Sonnenstrahlen. Frei lag nun der untere Teil der Strasse vor uns, die, weit ausholend, nach Amaro hinabzieht. Wir fanden einen Abkürzungsweg, und als die Sonne die Wolken zerteilt hatte und in ihrer südlichen Wärme Berg und Tal dampften, da hielten wir bei einem bereits abgetrockneten Felsblock Rast, legten uns trocken und sahen uns beide wunschlos an. Unten aber in Amaro gab es dann noch einen seltsamen Abschluss unserer Fahrt. In einer engen Gasse fanden wir einen Laden, in dessen Schaufenster wir Ess- und Trinkbares entdeckten. Wie waren wir aber überrascht, als wir in dem kleinen, dunklen Raum alles fanden, was Menschen für ein bescheidenes Dasein brauchen, ohne dabei gänzlich auf gewisse Genüsse des Gaumens und des Magens zu verzichten. Neben Waschmitteln, Gummibändern, Knöpfen, Töpfen, Hosen und Röcken, Besen und Bürsten, Pfeifen und Schürzen und so weiter gab es auch Süssigkeiten und für die Dorfschönen seidene Tücher. Uns aber wurde dunkelroter Wein und eine grosse Schachtel Sardinen auf den kleinen Tisch gestellt und « buon appetito » gewünscht; den hatten wir, es schmeckte uns, und so waren wir heute zum zweitenmal wunschlos, obwohl wir den Gipfel des « populärsten und vielbesuchten Berges der Carnia » nicht erreicht hatten.

Als wir abends in Tolmezzo Einkäufe für den nächsten Tag besorgten, kamen wir an einem Informationsbüro vorbei. Gehen wir hinein und fragen wir! Gesagt, getan. « Ah, den Monte Amariana? » Ja, ja, das ist der hohe Berg da vorne! » « Danke, wissen wir, aber den Weg hinauf? » « Oh, diesen kennen wir nicht! » In diesem Augenblick betrat ein Autobuslenker den Laden. « Sie wollen auf den Amariana gehen ?» « Ja »! « Oh, sehr einfach; die Alpini haben voriges Jahr von der Sella Pradut einen guten Weg gebaut und schön rot bezeichnet; ich bin mit meinen Kindern bis auf den Gipfel gestiegen. Ausserdem haben Studenten des wissenschaftlichen Lyzeums Tolmezzo in der Nähe der Sella eine kleine Hütte gebaut, die Capanna Romano Cimenti » Vielen Dank Verehrtester! Wenn das alles zutraf, hatten wir für morgen keine Sorgen.

Als wir am nächsten Tag um 7 Uhr Tolmezzo wieder verliessen, stand der Amariana unter einer hohen, graubraunen Wolkendecke und hatte einen duftigen Regenschleier um seine Schulter geschlungen; in nicht gerade rosiger Stimmung folgten wir der Strasse nach Illegio. Dreimal hatten wir unterwegs Gelegenheit, Einheimische nach der Hütte und dem Alpini-Weg zu fragen, dreimal wurden wir erstaunt angesehen; von einer Hütte und einem Weg hatte man nichts gehört. Sollte da wieder etwas nicht stimmen? Wenn die Alpini einen Weg bauen und die Jugend von Tolmezzo sogar eine Hütte, mussten die Menschen am Fusse des Berges doch davon etwas wissen!

Nach ungefähr dreissig Minuten verlässt die Strasse die Ebene des ungeheuren Schuttkegels, den die Wildbäche dem Amariana im Laufe der Zeit zu Füssen gelegt haben, und steigt langsam den westlichen Berghang hinan. Dort, etwa hundert Meter von der Strasse entfernt, im Geröll sahen wir an einer Telegraphenstange eine kleine, weisse Tafel; ich ging hin und las; Capanna Cimenti. Also doch! Aber wo? Wir folgten einige Minuten den Stangen, bis uns eine grosse, rote Tafel aufmerksam machte, dass das Betreten des Geröllstromes verboten sei, weil zahlreiche Blindgänger herumliegen. Nun nahmen wir Richtung auf ein kleines, braunes Holzhaus, das links von uns in den Weidenbüschen stand. Dort angelangt bestätigten uns endlich zwei junge Alpini, die ganze Besatzung dieses militärischen Stützpunktes, dass es mit der Hütte und dem Weg seine Richtigkeit habe. Einer von ihnen begleitete uns dann noch fast zwanzig Minuten durch das Geröllbett bis zur Mündung einer Schlucht, wo plötzlich rote Zeichen mit der Nummer H 13 auftauchten und im Schotter eine Steigspur sichtbar wurde. Als Dank für seine Bemühungen gaben wir ihm Lire für 2 Schachteln Zigaretten, die er sehr erfreut annahm.

Unterdessen hatte sich die Wolkendecke gelichtet, und wenn zeitweise die Sonne hervorkam, dann beleuchtete sie eine höchst malerische und romantische Gegend. In der engen Schlucht führt der schmale Steig steil empor, jede begrünte Felsrippe und Rampe geschickt ausnützend, während in der Tiefe der Schlucht das stürzende Wasser kreisrunde Wasserbecken ausgewaschen hat, die wie grosse Aquamarine zu uns herauf leuchteten, wenn sie ein Sonnenstrahl flüchtig traf.

Oberhalb der Schlucht betraten wir dann einen hohen, vom nächtlichen Regen noch dampfenden Buchenwald, aus dessen dämmriger Tiefe der Schlag von Äxten erklang; drei Stunden nach unserem Aufbruch von Tolmezzo standen wir vor der luftigen, aber doch sorgfältig gebauten Holzerhütte auf Pradut, wo uns eine ältere Frau gerne den Beginn des Weges zum Amariana zeigte. Eine 1 Zur Erinnerung an den jungen Bergsteiger Romano Cimenti aus Tolmezzo der bei einem Erstersteigungsversuch am Monte Amarina tödlich abstürzte.

Tafel an einem Baum kündet, dass hier der « Sentiero Romano Cimenti all'Amariana » beginnt. Dieser Weg, eine echte Alpini-Anlage, führt im Wald sehr steil hinauf und ist mit roten, an die Bäume genagelten Täfelchen bezeichnet. Nach ungefähr einer Stunde betraten wir ein kleines Kar, stiegen auf einem Geröllkegel zu einer felsigen, teils begrünten Rinne hinauf, erreichten nach ihr den Westgrat des Berges und über ihn um 12 Uhr dreissig Minuten den Gipfel des Monte Amariana.

Die vielgepriesene Aussicht blieb uns leider versagt. Ringsum ballten sich blauschwarze Wolken zum mittäglichen Gewitter, und nur noch der Zuc del Boor und der Monte Sernio waren im düsteren Nebelgrau zu erspähen; unmittelbar aber unter uns, kaum fünfzig Meter tief, verlief sich der Felsgrat, auf dem mich tags zuvor das Gewitter zur Umkehr zwang, im Gipfelhang. Trotzdem waren es zehn weihevolle Minuten, die wir auf dem Gipfel verweilten unter den segnenden Händen der Überlebensgrossen Madonna, die auf einem mannshohen Eisengerüst steht.

Als wir fünfzig Minuten später die Hütte auf Pradut wieder erreichten, regnete es bereits. Freundlich wurden wir eingeladen, einzutreten und zu rasten; das taten wir gerne. Einfach, aber sauber sah es in ihr aus. In der Mitte des Vorraumes flackerte auf einer offenen Herdstelle ein lustiges Feuer, und soviel ich bemerkte, sah die « Hausfrau » in ihrem Reich überall auf Ordnung.

Nach und nach kamen auch die Baumfaller, fünf oder sechs, von ihrem Arbeitsplatz in die Hütte, machten es sich rund um das Feuer bequem und fragten freundlich nach woher und wohin. Auch die zwei Hunde, ein schwarzes Teufelstier und ein kleines junges braunes, die uns beide Male mit wütendem Knurren und lautem Bellen begrüsst hatten, waren nach den ersten Bissen, die wir ihnen gaben, friedlich geworden und lagen zusammengerollt am Feuer.

Inzwischen hatte sich das Hochgewitter wieder voll entfaltet; Blitz folgte auf Blitz, Donner auf Donner, und mächtig rauschte der Regen und prasselten die Hagelkörner auf das Hüttendach. Das war nun ein angenehmeres Abenteuer als gestern auf der versunkenen Kriegsstrasse in der düsteren Riesenschlucht des Rio Maggiore. Je stärker der Donner rollte, je heller die Blitze flammten und je lauter der Regen rauschte, um so wohliger umfing uns die Wärme des Feuers und um so besser schmeckte uns der rote Wein, den ein dünner Schlauch aus dem Bauche einer Hundertliterflasche saugte, die versteckt im hintersten Küchenwinkel stand. Als die Holzfäller hörten, dass wir nach Tolmezzo zurück müssten, rieten sie uns, nach Illegio abzusteigen und von dort den Autobus zu benützen. Damit wir uns aber auf den vielen Kreuz- und Querwegen des Waldes nicht verliefen, gab uns einer von ihnen bis zum Rifugio Cimenti das Geleit \ Auf gutem Weg eilten wir dann in kaum mehr als einer Stunde zu dem freundlichen Dorf hinab, von dem uns dann der Bus in zwanzig Minuten nach Tolmezzo zurückbrachte.

Vesperkofel oder Clapsavon, 2462 m. Drei Monate später waren wir wieder am Tagliamento. Wir kamen von der wunderbaren Fels- und Eisburg des Care Alto, hatten die Karnischen Voralpen durchquert, mussten bei dichtem Nebel am stolzen Campanile vorbei, und erreichten dann den oberen Tagliamento nach der Überschreitung der Forcella Scodavacca-Giaf. Unsere nächsten Ziele waren der Vesperkofel und der Monte Bivera, die wir nach der alten, deutschen Sprachinsel Zahre-Sauris überschreiten wollten.

Am Freitag, den B. September, um 7 Uhr morgens verliessen wir Forni di Sopra ( 907 m ). Den Angaben im Hochtouristen, Band 8, folgend, erreichten wir nach ungefähr drei Stunden die Hütten der Casera Montemaggiore ( 1726 m ). Am Beginn unseres Weges in Forni, gleich nach der Über- 1 Offene Unterstandshütte mit 1 Raum, Feuerstelle, etwas Kochgeschirr und einer Holzpritsche.:

18 Die Alpen- 1962 - Les Alpes273 schreitung der Brücke über den Rio Tolina, tauchten wieder rote Zeichen auf, jedoch ohne den geringsten Hinweis, wohin sie führen.

Das Wetter war für unsere Fahrt nicht günstig. Schon am frühen Morgen reichte der Nebel fast bis auf 1100 Meter herab und hat sich im Laufe des Tages nur wenig darüber gehoben. Eingehüllt in diesen düstergrauen, feuchten Schleier hielten wir bei den Hütten der grossen Alp wenige Minuten Rast und überlegten, wohin wir uns wohl wenden sollten. « Von hier östlich zuerst über Alpwiesen, dann über Fels ohne Schwierigkeit auf den ( 2 Stunden ) Gipfel »; diese Angaben des Hochtouristen lasen wir wiederholt, sahen jedoch weder die Alpwiesen noch den Fels, noch den Gipfel selbst. Schliesslich einigten wir uns, den Angaben einer einfachen Kartenskizze, die wir im Informationsbüro in Forni erhielten, zu folgen und zu versuchen, die Forcella Chiansavei zu erreichen, wohin auch die roten Zeichen zu weisen schienen, die wir dann unterwegs ab und zu fanden. Wir stiegen also in einem kurzen Taleinschnitt nördlich der Alphütten hinan, kamen in eine grosse Mulde, aus der östlich steile Schutthalden zu schwach kenntlichen Felsen emporzogen, während die Gegenseite Weidehänge zu sein schienen. Ich war überzeugt, dass der Berg östlich von uns stehen musste, und hoffte seinen Gipfel auf dem Grat oder Rücken zu erreichen, der laut Kartenskizze von der Forcella zu ihm hinaufzieht.

Auf steilen, feuchten Grashängen ansteigend, erreichten wir den begrasten Rücken etwas oberhalb der Scharte und folgten ihm, soweit er ausgeprägt in den düsteren Nebel hinaufzog. Um auf alle Fälle den Rückweg gesichert zu haben, legten wir in Sichtweite rotes Markierungspapier das im aufgekommenen Wind lustig flatterte. Obwohl der steinige, begrünte Rücken mehrmals von Einsenkungen unterbrochen war, gelang es uns doch, seine Fortsetzung immer wieder zu finden, bis er dann ganz ausgeprägt wurde und nach beiden Seiten steil abfiel. Als wir bei einer ganz schmalen, felsigen und ausgesetzten Unterbrechung ankamen, die wir vorsichtig überschritten, tauchte plötzlich links von uns ein mächtiges, dunkles Felshorn aus dem Nebel; « der Bivera! » rief ich; Gleich darauf war die Erscheinung wieder verschwunden und mit ihr die zugleich sichtbar gewordenen Tiefen zu beiden Seiten des Grates. Nach der Unterbrechungsstelle wurde der Rücken rasch breiter, ging dann in einen Hang über, auf dem wir, an zwei Dolinen vorbei, nach zweistündigem Anstieg den Gipfel erreichten. « Einer der bekanntesten und wegen seiner grossartigen Aussicht meistbesuchten Berge der Carnia »; so steht es im Hochtourist. Wir sahen von aller Herrlichkeit nur ab und zu den Grat auftauchen, der zum Bivera hinüberzieht und den wir ja noch überschreiten wollten. Wir gingen dann auch noch ein Stück in den Nebel hinein, bis mich der einsetzende Regen zur Doline unterhalb des Vesperkofel-Gipfels zurückscheuchte. « Ach », meinte die Gefährtin, als ich am Grunde der nicht sehr tiefen Mulde einen halbwegs schützenden Platz suchte, « das ist ja nur eine nasse Wolke »! « Ich kenne diese nassen Wolken », brummte ich, während wir unter die Regenhaut krochen. Wenig später peitschte der Wind den Regen und die Graupeln auf uns herab, flammten die Blitze, rollte langgezogen der Donner, oder er folgte unmittelbar krachend und schmetternd der schmerzenden Helle.

Eine ganze Stunde tobte das Gewitter. Als sich das Wolkengewimmel etwas lichtete, der Regen aussetzte, eilten wir, noch immer im Nebel eingesponnen, den Gratrücken abwärts, sammelten unsere Markierungsblätter sorgsam ein und hielten dann bei der Casera Montemaggiore eine längere, allerdings recht kühle Rast. Eben, als wir aufbrechen wollten, um nach Forni abzusteigen, begann es wieder zu regnen und - regnete bis spät in die Nacht hinein. Da ich die Regenhaut bereits im Rucksack verstaut hatte, vertraute ich der Wasserdichtigkeit meiner Perlonjacke, und so kam es, dass ich triefend vor Nässe um 17 Uhr in Forni ankam, während sich die weit weniger bequeme Gefährtin doch noch einiger trockener Stellen ihrer Haut erfreuen konnte.

Monte Bivera, 2473 m. Der nächste Tag war wettermässig nicht besser; es regnete mehrmals; nachmittags übersiedelten wir nach Forni di Sotto, um von dort aus den Monte Bivera zu ersteigen, der während unseres Aufstieges auf den Nordrücken des Vesperkofels so geisterhaft aus dem Nebel tauchte.

Als wir am Sonntag, den 10. September, um 5 Uhr 30 Forni di Sotto ( 777 m ) verliessen, war der Himmel wolkenlos, die Luft kalt; auf den Wiesen lag Tau und höher oben der erste Reif. Den Empfehlungen Einheimischer und den wenigen Angaben des Hochtourists folgend, stiegen wir in drei und einer halben Stunde im steilen Wald und auf ausgedehnten Wiesen zur Forcella di Nais-Costa Batàn hinauf. Unterwegs hatten wir wieder Gelegenheit die Gastfreundschaft der Friulaner kennenzulernen. Als wir nach ungefähr einer und einer halben Stunde schweissnass zu den Hütten der Casera Monte Vacca kamen, machte der Hirte in seiner primitiven aber sauber gehaltenen Küche Feuer, kochte schwarzen Kaffee, gab einen tüchtigen Schuss Grappa hinein und bewirtete uns dann noch mit Milch, auf deren Oberfläche fingerdick der Rahm schwamm; als wir ihm als bescheidene Anerkennung, und um auch ihm eine Freude zu machen, eine Dose Büchsenfleisch gaben, war er kaum zu bewegen, sie anzunehmen.

Schon auf der Forcella di Nais hatten wir Gelegenheit, die immer weiterreichender werdende Aussicht zu bewundern. Ein ganz hervorragend schöner Tag war uns heute beschieden; kein Wölkchen störte das lichte Blau des Herbsthimmels, die Luft war klar und durchsichtig, und wir freuten uns schon auf den Ausblick vom Gipfel.

Von der Forcella querten wir in ein grosses, teilweise mit Latschen verwachsenes Kar, aus dem wir unter den Felsen des Clapsavon nicht gerade mühelos hinaufstiegen zu den im Hochtourist als « Pian delle Streghe » bezeichneten Felszirkus; aus ihm brachten uns steile Schutthalden in die Forcella del Bivera ( 2338 m ) der, laut Hochtourist, unbedeutenden Einschartung zwischen Vesperkofel und Bivera. Wenig später, es war punkt 12 Uhr mittags, betraten wir den Gipfel des Berges.

Heute gab es nun freilich eine ganz andere Rast als vorgestern drüben auf dem Vesperkofel; heute wurde uns die « grossartige Aussicht » ohne jede Einschränkung zuteil. Noch immer war der Himmel wolkenlos, die Luft still und rein, und so hatten die Augen reichlich Gelegenheit, immer wieder im Kreise herumzuschauen, alte Bekannte zu grüssen und stolze Unbekannte zu bewundern. Wunderbar klar stand im Norden der Glockner, leuchteten, soweit der Blick reichte, die Firne der Zentralalpen, grüssten im Osten die bleichen Berge der Julier, während nach Westen hin ein schier unüberblickbares Gipfelmeer dem Auge viel zu tun gab, um die bekanntesten Gipfel der Dolomiten herauszufinden. Was aber ganz besonders das Auge und das Herz erfreute, das war der Tiefblick hinab auf die beiden Zahre ( Sauris di Sopra und Sauris di Sotto ), die aus einer weiten, tiefgrünen Wiesenmulde freundlich heraufgrüssten, und auf den blauen Spiegel des Lumiei-Stausees, von dem gerade noch ein Zipfel sichtbar war.

Aber auch von dieser hohen Warte mit ihrem Blick in die weite, herrliche Wunderwelt der Berge mussten wir scheiden. Nicht ganz ohne Mühe, aber ohne Hindernisse zu finden, stiegen wir im Schuttkessel zwischen Vesperkofel und Bivera nordwärts zur Casera Chiansavei hinab, auch dort von den Alpleuten freundlich aufgenommen und mit Milch, Polenta und Käse gelabt. Dann allerdings kamen drei lange ermüdende, aber auch erlebnisreiche Stunden. Der kürzeste Weg nach der Oberen Zahre wäre der Abstieg zum tiefeingegrabenen Bett des Lumiei gewesen und jenseits von ihm der Aufstieg zum Dorf. Um diese Gegensteigung zu vermeiden, beschlossen wir, auf einem bezeichneten Alpweg die Strasse zu erreichen, die am Nordhang, hoch oberhalb des Lumiei schön eben dahinzog und auf der wir glaubten, die Obere Zahre bequem zu erreichen; es kam nicht ganz so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Allein, bis wir zur Strasse gelangten, verging eine ganze Stunde.

Strasse aber ist Strasse, und kein Bergsteiger bewegt sich gerne längere Zeit auf ihr; wir mussten es allerdings noch zwei Stunden tun, während welchen wir reichlich Gelegenheit hatten, die Baukunst der Italiener aufs neue zu bewundern. Wieder bewegten wir uns auf einer alten Kriegsstrasse; war sie auch noch nicht so verfallen wie jene oberhalb von Amaro und ziemlich lang gut fahrbar, so konnten wir später doch wieder feststellen, wie die Naturgewalten mit der Zeit auch kühne und festgefügte Menschenwerke spielend zerstören. Wieder eingestürzte Böschungen, verschüttete Strecken, abgerutschte Strassenstücke usw. Als wir über ein so verschüttetes Strassenstück hinwegschritten, kam hinter uns langsam und bedächtig ein kleiner Topolino gefahren; wir machten ihm Platz und sahen zu, wie er behutsam über das grobe Geröll hinweghopste. Jenseits aber blieb der Wagen stehen, und sein Fahrer, ein älterer, gutaussehender Herr, lud uns freundlich ein, den Rest der Strasse in seinem Wagen hinter uns zu bringen. Dankend nahmen wir an, ohne zu ahnen, dass unser Leben bald nur von der Grösse eines Steines oder von einer Handbewegung des Fahrers abhängen sollte. Die bedenklichen Stellen der Strasse mehrten sich rasch. Knapp oberhalb der Oberen Zahre kamen wir zur letzten, weit ausholenden Kehre. An der entscheidenden Stelle, mehr als hundert Meter senkrecht oberhalb eines felsigen Wildbachbettes, war sie eine längere Strecke meterhoch verschüttet; bald stand der Wagen auf dem Geröllhang bedenklich schief; zum Aussteigen war es zu spät; ein grösserer Stein, eine unbedachte Handbewegung des Fahrers, und wir mussten wehrlos in die Tiefe stürzen. Unten, am Ende der Kehre, sah ich die Wagen stehen die von Zahre heraufkamen und nicht weiterkonnten. Ihre Insassen standen auf der Strasse und sahen zu, wie der kleine Topolino vorsichtig über den Geröllhang kletterte, in ein metertiefes Bachbett rutschte, das den Hang durchschnitt, und dann wie eine Raupe jenseits zur Strassenfortsetzung hinauf kroch. Freundlich winkten uns die Autofahrer zu, als wir an ihnen vorbeirollten, ich aber dachte mir: noch einmal davongekommen, und wischte mir den Schweiss von der Stirne.

Eigentlich wollten wir in der Oberen Zahre unsere Fahrt beenden und erst am nächsten Tag nach Forni di Sotto zurückkehren. Da wir aber schon so einen tüchtigen und vorsichtigen Fahrer hatten, entschlossen wir uns, gleich bis Ampezzo ( Carnia ) mitzufahren und heute noch nach Forni zurückzukehren; für den Besuch der beiden Zahre aber wollten wir den letzten Urlaubstag verwenden. Also ging es flott durch das lichte Wiesenland hinab zum grossen Stausee und dann auf einer überaus kühn angelegten und zum Teil in langen Tunnels führenden Strasse abwärts nach dem freundlichen Ampezzo; dort verabschiedeten wir uns mit dem bestem Dank von unserem Fahrer, einem Kaufmann aus Enemonzo, den wir auf der Fahrt nach Tolmezzo bei seinem Geschäfte nochmals begrüssen konnten. In den Abendstunden brachte uns dann ein Bus zurück nach Forni di Sotto.

Im Wiesenland der beiden Zahre ( Sauris di Sotto und Sauris di Sopra ). In der Zeitschrift des DuOeAV 1897 schrieb Julius Poch einen sehr lesenswerten Aufsatz unter der Überschrift: Aus den Bergen der südlichsten deutschen Sprachinseln. Die Sauris oder Zahre im Friaul. Seither dürfte über dieses Gebiet nicht viel geschrieben oder gedruckt worden sein. Im Frühjahr 1961 erhielt ich eine im Verlag Athesia in Bozen erschienene Schrift: Die deutschen Sprachinseln im Trentino und in Oberitalien. In ihr lesen wir auf Seite 51: « Von der reizvollen Hauptstrasse durch das karnische Bergland am Tagliamento zweigt in Ampezzo, das mittwegs zwischen der Stazione per la Carnia an der Einmündung der Fella ins Kanaltal und dem Mauriapass zwischen Tagliamentoquellen und Piave liegt, eine schmale Autostrasse am Lumieibach ab. Sie führt in 21 km Verlauf durch Wiesen und Wald ansteigend in schwindelnder Höhe an Abgründen über der Schlucht des Torrente Lumiei ins Wiesenland der abgelegenen Bergsiedlung der Zahre. Früher führte ein Karrenweg vom 560 m hoch gelegenen Ampezzo oder Petsch, wie die Zahrer sagen, über das Joch des Monte Pura ( 1439 m ) zur Klamm des Lumiei, die er „ an der Lunt” halsbrecherisch überquerte. Heute steht dort der Staudamm des Sees, welcher für die Elektrizitätswirtschaft geschaffen wurde, und an seinem nördlichen Ufer der Gasthof La Maina. Von hier wendet sich die Strasse in Kehren durch Wiesen zuerst zur Unter-Zahre, Sauris di Sotto ( 1212 m ), und weiter zur Ober-Zahre, Sauris di Sopra ( 1390 m ), auf den „ Rucke " genannten Ausläufer des Monte Morgenleit. Inmitten schöner Bergwiesen mit Lärchenbeständen, umgeben von Kuppen der Schiefer- und Zacken der Kalkberge, breiten sich die beiden Dorfsiedlungen und ihre Weiler Latteis, Modt und Schwont. Einzelne Namen und die Form der Holzhäuser lassen erkennen, das man sich hier in einer deutschen Siedlung befindet. Wenn auch die deutsche Hochsprache weder in Schule noch in Kirche Heimat hat und die Mundart nur als Haussprache verwendet wird, so lebt in dieser abgeschiedenen Weltferne doch eine altertümliche Sprache, die viel Anklänge an die Mundart im Moll- und Lesachtal in Kärnten hat. Die Legende verlegt den Ursprung der Siedlung bis 800 zurück, da ein deutscher Jäger oder Soldat einen hl. Daumen erhalten habe. Die älteste Urkunde ist von 1328, und 1500 wird die Ortschaft in einem Dokument Zähre genannt. Als der Sohn dieser Gemeinde und Pfarrer, Georg Plozer, 1890 sein 50jäh-riges Priesterjubiläum feierte, erschienen von seinem Kaplan „ Liedlan in der Zahrer Sproche vame Priester Ferdinand Polentarutti. Gedrucket za Beidn ( Udine ) ". In der Einleitung heisst es: „ J an za Fleisse in ünserder Sproche geschrieben, unt a groassa Houffige, dass nou Ondra barnt schrei bn, unt viel peissgar, as i! ober kans bart schreibn mitmear Vrade unt mit mear Liebe, as i an de do Sächelan vor Jhn geschriebn. Unt si bill i houffn, Dass Se gearn barnt onnehmen in do Zachn va meinder Donkborkat und Liebe. Ar is a kla Zachn, an ormnder Zachn, a Zachn, das net longe bart bährn, aber meina Donkborkat und Liebe barnt tauern av eabig. Ihr klainste Dienar Ferdinand Polentarutti.Das heisst in Hochdeutsch: „ Ich habe zu Fleiss in unserer Sprache geschrieben, und eine grosse Hoffnung, dass noch andere werden schreiben, und viel besser als ich; aber keiner wird schreiben mit mehr Freude und mit mehr Liebe, als ich habe die Sache für ihn geschrieben. Und da will ich hoffen, dass Sie gerne annehmen das Zeichen meiner Dankbarkeit und Liebe. Es ist ein kleines Zeichen, ein armes Zeichen, ein Zeichen, das nicht lange wird währen, aber meine Dankbarkeit und Liebe werden dauern auf ewig. Ihr kleinster Diener Ferdinand Polentarutti. " In der Kirche St. Lorenz der Oberzahre, wo das deutsche Wort in Hochsprache und Mundart seitdem verstummt ist, aber die Kreuzwegbilder noch deutsche Worte tragen, steht ein prachtvoller Flügelaltar des Michael Parth aus Bruneck im Pustertal von 1551. Der Schrein zeigt an den Flügeln Jesus Einzug in Jerusalem und Christus auf dem Ölberg, in der Mitte das Letzte Abendmahl. Die geschlossenen Flügel zeigen die Verkündigung des Engels an die Jungfrau Maria. Im Gespreng steht der hl. Laurentius zwischen zwei Engeln, zu Seiten der Predella zeigen Gemälde neben dem Tabernakel die eherne Schlange und den Mannaregen. In der St. Oswald-Kirche der Unterzahre aber steht ein prächtiger Flügelaltar des Nikolaus von Bruneck aus dem Jahre 1524; dessen Schrein St. Oswald zwischen den Apostelfürsten Petrus und Paulus enthält, während die Flügel die Halb-reliefs der Verkündigung, Heimsuchung, Anbetung und Flucht nach Ägypten tragen. Die geschlossenen Flügel zeigen die Heiligen Andreas, Hieronymus, Stephan und Lorenz. Die Predella zeigt in der Mitte eine ausdrucksstarke Pietà, an den Flügeln die hl. Katharina und Magdalena, dazwischen die Bischöfe Nikolaus und Wolfgang und zwei unbekannte Heilige. Auf dem Schrein stehen die Madonna mit dem Kind, St. Florian, St. Rochus und zwei Engel. Wunderwerke tirolischer gotischer Kunst in karnischer Bergeinsamkeit.R. » Am Tage nach unserer Biveraüberschreitung fuhren wir von Forni di Sotto über Ampezzo mit dem Bus hinauf nach der Unteren Zahre. Leider war dem hellen Sonntag ein trüber Montag gefolgt; die Berge steckten im Nebel, und nur zeitweise huschte ein wenig Sonnenlicht über das grüne Wiesenland. Aber wir sahen die alten Holzhäuser, hörten die Zahrer in ihrer Mundart reden, lasen auf dem leider verlegten Friedhof die Namen der alten Geschlechter, der Troier, Schneider, Plozzer, Minigher, an die vielfach ein o angehängt war. Viel, von dem Poch berichtet, fanden wir aber nicht mehr. Rein und sauber sind beide Siedlungen, viel wurde gebaut, die Unterkünfte sind gut. Schade, dass diese alte deutsche Sprachinsel so wenig von deutschen und österreichischen Bergsteigern besucht wird. Freilich, alpine Lorbeeren sind kaum mehr zu holen, aber es liegt doch ein Abglanz unserer Alpenheimat auf den weiten Fluren und grünen Bergen, und mir war, als sei ich aus der Fremde heimgekehrt. Die Zahrer würden sich bestimmt freuen, neben ihrer Staatssprache mehr als bisher auch den Wohlklang ihrer alten Muttersprache zu vernehmen und sich auf kurze Zeit von ihrer Herzenswärme umfangen zu lassen; ich glaube, dass auch das härteste Bauerngeschlecht den Regungen der Liebe und den Beweisen freundlicher Gesinnung nicht verschlossen ist.

Als wir am frühen Nachmittag von der Unteren Zahre Abschied nahmen und mit dem Bus wieder hinabfuhren nach Ampezzo, um über Tolmezzo die Heimreise anzutreten, tat ich es mit der festen Absicht, schon bei nächster Gelegenheit zurückzukehren und das Land der beiden Zahre nach allen Richtungen zu durchstreifen, denn, so schön kann keine Fremde sein, dass sie nicht von der Liebe zur Heimat, sei sie noch so hart und arm, überstrahlt würde.

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