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Bergepisoden im Wallis

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

Karl-Wilhelm Specht, SAC Grindelwald, Mülheim a.d.Ruhr

NADELHORN - NICHT SO SPITZ, WIE MAN GLAUBT Es hat eigentlich recht lange gedauert, bis wir das Nadelhorn entdeckten. Vor allem stellte sich bei uns erst spät die Erkenntnis ein, dass die Gipfel des Nadelgrates durchaus auch einzeln zu machen sind, und zwar keineswegs nur mit Bohrhaken, Trittleitern und Sprechfunkgerät. Nein, das Nadelhorn zum Beispiel, 4327 Meter hoch, gilt trotz seines bedenklich klingenden Namens als nicht besonders schwierig. Ich erwähne dies zu unserer Entschuldigung deshalb, weil der Sommerurlaub für Flachlandalpinisten, die wir nun leider einmal sind, die einzige Gelegenheit ist, den « dicken Brocken » zu Leibe zu rücken. Und da fehlt für anspruchsvollere Routen einfach das Training und, ehrlich gesagt, auch die Lust. Einen Gipfel auf dem einfachsten Weg zu erreichen bedeutet für uns schon das höchste Glück, und ich glaube, wir sind dabei nicht allein. Die Experten der Kategorie VI +, die wir kritiklos bewundern, wollen bitte Verständnis haben.

Kurz und gut, das Nadelhorn war einer der Gründe, weshalb wir uns wieder einmal in Saas Fee stationierten. Wenn wir uns ganz weit aus dem Hotelfenster beugten, konnten wir seine Spitze gerade noch erkennen. Unsere Akklimatisierungstouren hatten ausser dem üblichen noch einen besonderen Zweck: Die Nadelhornbestei-gung sollte nicht nur, wie gewöhnlich, mit zwei Kameras im Bild festgehalten, sondern ausserdem noch mit einer geliehenen Filmkamera sozusagen in Szene gesetzt werden. Das erforderte einige Technik in der Handhabung des wertvollen Gerätes, das im übrigen nicht den kleinsten Kratzer abbekommen durfte.

Nachdem die Mischabelhütte, zu der wir täglich Dutzende von Malen aufgeschaut hatten, lange und intensiv genug die Phantasie bezüglich der Steilheit des bevorstehenden Aufstieges angeregt hatte, wurde dieser wegen des späten Aufbruches und der damit verbundenen Schattenwirkung harmloser, als befürchtet. Weniger angenehm war die Stimmung in der Hütte, wo das einzige Gesprächsthema des Abends das fragliche Schicksal der beiden Kletterer betraf, die am Vormittag die gesamte Lenzspitze-Nordost-wand hinabgesaust waren und ihre Tour per Helikopter - ins Spital von Visp - beenden mussten. Wenn man so etwas erfährt, möchte man im ersten Moment am liebsten umkehren. Der Schlaf glättet dann aber meist die Wogen der Bedenken, und das tat er auch bei uns. Doch etwas Beklemmung bleibt - und damit erhöhte Vorsicht, was eigentlich ganz gut ist.

Gegen fünf Uhr verlassen wir das prächtige Adlernest. Wenig später versammeln sich die Gipfelaspiranten auf den letzten Steinblöcken, um das « Zaumzeug » anzulegen, und dann trennen sich die Wege: Nach links ziehen die, welche über den Südlenz und den Nadelgrat zum Nadelhorn wollen, nach rechts wendet sich die andere Gruppe, die den Weg über das Windjoch wählt. Wir gehören zur zweiten Abteilung, und, wie immer, sind wir die letzten. Diesmal schiebe ich die Schuld der Filmkamera zu, deren Belich-tungsautomatik nicht funktionieren will. Erst der Blick auf den Handbelichtungsmesser überzeugt mich davon, dass die Leihgabe nicht defekt, die Helligkeit des beginnenden Tages hingegen für das optische Innenleben derselben noch nicht ausreichend ist.

Immerhin ist das Windjoch schon auszumachen, und es erfordert nicht viel Orientierungssinn, dieses auf dem geeignetsten Wege anzusteuern. Die zunehmende Luftbewegung zeigt uns bald einmal, dass wir uns der angestrebten Scharte in spürbarem Masse nähern, andererseits, dass die Namengeber sich einer durchaus zutreffenden Bezeichnung bedient haben. Hier beginnt nun ein ausgesprochen genussvoller Aufstieg. Wenn uns bisher noch nicht ganz klar gewesen ist, was für Umstände uns auf dem Nadel- horn-Nordostgrat erwarten, so können wir nun mit Sicherheit beurteilen, dass uns der Berg kaum noch zu nehmen ist. Denn auch das Wetter macht einen beständigen Eindruck, und auf dem Grat lässt sogar der Wind nach. Da auch die Filmkamera ordentlich arbeitet, nehmen wir uns Zeit, viel Zeit. Herrlich, so problemlos einen Berg zu besteigen! Dann kann man auch über solche Leute lächeln, die den ganzen Einsatz ihres Führers verlangen: Da will nämlich gerade jemand von den Gipfelfelsen auf den Grat zurück. Zugegeben, ein bisschen luftig. Aber am kurzen Seil, vor sich den Führer, hinter sich die Frau... Was soll da schon...? Nein, es reicht nicht. Ich sehe mich genötigt, die Fusse des Armen auf den vom Führer bezeichneten Vorsprung zu setzen und sie dort mit aller Kraft zu fixieren. Ein Stosseufzer mit Dankessprüchen wird mir zuteil. Der Führer wirft uns vielsagende Blicke zu... Wir dagegen könnten fast übermütig werden, so genussvoll empfinden wir die letzten Schritte, und dann... habe ich nur noch Augen für den plötzlich vor uns liegenden Dom mit seiner mächtigen Nordflanke. Allein schon dieses Anblickes wegen hat sich die Tour gelohnt. Es versteht sich, dass die Filmkamera den riesigen Nachbarn in allen Einzelheiten abtastet, so wie sie die letzten Phasen unseres Aufstiegs minuziös verfolgt hat. Als endlich alle optischen Geräte zur Ruhe gekommen sind, ist schon eine halbe Stunde vorüber. Aber eines hat dies doch für sich: Der Photograph sieht immer besonders genau hin. Das Wetter und die bevorstehende Problemlosigkeit des Abstiegs erlauben jedoch eine weitere Stunde mussevoller Gipfelrast ohne photographische Arbeitsbelastung, wobei auch ein kleines flaches Fläschchen mit hochpro-zentigem Inhalt seiner Zweckbestimmung zugeführt wird, bis die Südlenz-Besteiger Anspruch auf den Nadelhorngipfel erheben. Wir gönnen ihnen die paar Quadratmeter, weichen aber nur ungern. Daraus mögen die Leser erneut ersehen, dass eine Nadelhornbesteigung bei den geschilderten Verhältnissen ein ausgesprochen erfreuliches Unternehmen ist.

Einer hat diese Geschichte hoffentlich nicht gelesen: der Käufer der Filmkamera, auf der ein Nadelhornfelsen trotz aller Vorsicht seine Spur hinterlassen hat. Der liebenswerte Photohändler übersah sie grosszügig bei der Rücknahme...

STRAHLHORN - BERGTOUR MIT... PROMILLE Warum erzähle ich überhaupt von « Normal-touren » auf Walliser Viertausender, wo dies doch Walter Schmid in seinem Buch « Glückliche Tage auf hohen Bergen » bereits eindrücklich und unübertroffen getan hat? Vielleicht, weil nicht jeder dieses Buch gelesen hat ( was deshalb schleunigst nachgeholt werden sollte !). Vielleicht auch, weil die Berge ständig ihr Gesicht ändern und jeder Aufstieg etwas Individuelles vermittelt. Sicher aber, weil die Pracht der Gipfel immer wieder herausfordert, in irgendeiner Form ein Loblied zu Papier zu bringen.

Das Objekt bergsteigerischer und literarischer Attacken - wohlgemerkt: friedlicher - ist diesmal das Strahlhorn. Über die Art und Weise, wie die dazu geeignete Unterkunft erreicht wird, die Britanniahütte nämlich, und zwar mit der Felskinn-Seilbahn, brauchen wir nicht viele Worte zu verlieren - wohl aber über die Begegnung mit einer Frau, deren Herz die Bahnfahrt auf 3000 Meter Höhe übelgenommen hatte. Die Arme musste auf der Bahre von der Hütte zur Station und dann schleunigst wieder ins Tal gebracht werden. Bergbahnen haben eben zwei Seiten!

Das Strahlhorn ist ein gewaltiger Klotz mit eisbewehrten Flanken und allseitig angehefteten Gletschern. Der mächtigste darunter ist der von Allalin, der in seinem oberen Teil ein friedliches Bild vortäuscht, um sich ganz unten ziemlich bösartig zu gebärden. Seit Mattmark weiss man das. Eingedenk dieser Heimtücke, trauen wir auch den wenigen Spalten nicht und erst recht nicht ihren Brücken, die wir auf dem Weg zum Adlerpass zu überqueren haben. Auch prägen wir uns die Führe genau ein, weil sich über dem Fluchthorn eine Wolkenansammlung unverschämt 1Die Aussicht vom Normalaufstieg zum Nadelhorn ( 4327 mLenzspitze-Nordostwand ( 4294 m ) 2Die Séracbruchzone in der Dom-Nordflanke 3Nadelhorn; über den von rechts heraufziehenden Nordostgrat erfolgt der Normalanstieg breitmacht. Auf der Passhöhe haben wir dann erstmals die Aussicht, die mit entschieden hat, das Strahlhorn zu besteigen. Wir kennen das Panorama in ähnlicher Form vom Allalinhorn und vom Alphubel aus. Hier liegt nun wieder einmal die riesige Arena der Walliser Berge vor uns: vom Monte Rosa bis in die westlichen Walliser — Dutzende Kilometer grandiose Hochgebirgsnatur, in der die menschlichen Eingriffe selbst mit dem Fernglas kaum auszumachen sind. Mit ständigen Seitenblicken auf dieses grossartige Bild stapfen wir über den Nordwestgrat dem Gipfel zu, der uns sogar einige trockene, sonnenerwärmte Felsen zum Absitzen bietet, damit wir die Aussicht von noch höherer Warte weiter geniessen können. Es bläst zwar ein bisschen kühl, aber dagegen findet sich im Rucksack das dem Leser bereits bekannte flache Fläschchen. Als dieses geleert ist, hört der Wind auf, und auch gegen die einsetzende Hitze ist ein Mittel in Reichweite: Zwei junge Leute am anderen Ende der Gipfelfelsen haben die Mühe nicht gescheut, eine ganze Flasche Rotwein auf go Meter zu schleppen. Wir nehmen Anteil an der Mühe und an dem Genuss. Nachdem der Strahlhorn-Sieg auf derlei unterschiedliche Weise gewürdigt worden ist, müssen wir uns eingestehen, das Vergehen « Alkohol am Pickel » begangen zu haben. Das Rimpfischhorn warf gewisse Übermutslaute aus seinen Wänden zurück, und der Allalingletscher wird sich noch grimmig an die Gestalten erinnern, die sich in Hechtsprüngen über seinen Spalten ergingen. Wir kamen trotzdem heil unten an!

DOM-NORDFLANKE BIS ZUR GÜRTELLINIE Irgendein berühmter Mann hat einmal auf die Frage, wie man denn eigentlich einen Berg besteige, geantwortet: « Man geht einfach hinauf. » In zahlreichen Lichtbildervorträgen habe ich den Zuhörern diese Erklärung nahebringen wollen, leider ohne Erfolg. Die Photos scheinen diese These einfach nicht bestätigen zu wollen. Bei einem Berg müsste ich allerdings wirklich den Namen Münchhausen annehmen, wollte ich auch hier behaupten, ich wäre « einfach hinaufgegangen ». Das traf nämlich beim Dom wahrlich nicht zu. Die Strapazen - oder zum mindesten ein Vorgeschmack davon — fingen schon in Randa an, wo wir den Hüttenweg verpassten. Die Strassenbauer hatten sämtliche Wegweiser verpflanzt oder beseitigt. Als wir dann den richtigen Anstieg gefunden hatten, zeigte sich bald, dass dieser wieder einmal zu steil war, ausserdem die Rucksäcke zu schwer und die Sonne zu heiss. Bei mir machten sich darüber hinaus Beschwerden aller Art, vom Magen bis zum Kopf, bemerkbar, die erst ab-klangen, als die Kletterei in den blumenübersäten Felsen begann. Nach Beendigung der recht angenehmen Turnerei konnten wir dann zu unserer Genugtuung feststellen, dass das Erreichen der Domhütte nur noch eine Frage von wenigen Minuten war. So weit der Prolog.

Schon während des Schlafes machte sich eine für diese Höhe ziemlich ungewohnte Wärme bemerkbar. Die Domhütte liegt immerhin auf 2928 Meter über Meer. Bu der Tagwache machte der Himmel ein ganz entsprechendes Gesicht: feder- und streifenartige Wolken, kaum sichtbar, dämpften das Sternenlicht. Am Festijoch schwitzten wir bereits wie in der Sauna. Über dem Kummer ob des unsicheren Wetters vergassen wir jedoch nicht, den weltabgeschiedenen Fels- und Eiskessel zwischen dem Nadelgrat und unserem Rastplatz eindringlich auf uns wirken zu lassen. Bald aber nahm die Nordflanke des Doms unsere ganze Kraft in Anspruch. Damit kein Missverständnis entsteht: Es war tatsächlich jene Dom-Nordflanke, deren Anblick uns auf dem Nadelhorn so gefesselt hatte. Nur ist es ein Unterschied, ob man sie von weitem betrachtet oder in ihr steckt in des Wortes wahrster Bedeutung. Wir steckten nämlich im Firn, zunächst bis über die Knöchel, dann bis an die Knie, schliesslich bis zu den Hüften. Und als mir das weiche Zeug bis an den Gürtel ging, da glaubte ich beinahe, von 4Täschhom ( 4490 m ), links, und Dom ( 4545 m ), rechts, über dem wildzerklüfteten Feegletscher. Blick vom Egginerjoch 5Strahlhorn ( 4190 m ), links, und Rimpfischhorn ( 4198 m ), rechts, vom Feejoch aus gesehen 6 Das Strahlhorn über dem Allalingletscher Photos Karl-Wilhelm Specht, Mülheim a. d. Ruhr Gletscherspalte zu Gletscherspalte zu waten. In der Tat, der Eindruck, den die Wand auf uns gemacht hatte, schmolz dahin mit jedem Schritt. Wenn jetzt harter Firn wäre, wie würden wir mit den Steigeisen hinaufstürmen! Ja, wenn...

Noch nicht einmal Sicht hatten wir. Wolken umhüllten uns, dass wir kaum erkennen konnten, in welche Richtung diese Plackerei führen musste. Immer wieder versuchten wir, irgendwo festeres Terrain zu finden. Erst am Nordwestgrat selbst wurde es erträglicher. Ich war auch fast soweit, der Quälerei durch Rückzug ein Ende zu bereiten. Aber das alles umsonst? Nein! Wir überlegten scharf: Diese Dinosaurierspuren, die wir hinterliessen, konnten auch bei schlechtestem Wetter nicht so ohne weiteres verwischt werden. Ausserdem würde es ja kaum schneien bei dieser Wärme. Und für diesen Fall gab es ja auch immer noch den Grat, der direkt ins Festijoch mündet. Also war auch bei verhangener Szenerie der Rückweg klar. Diese Gedanken trieben uns vorwärts. Im übrigen ging es den anderen Dombesteigern heute nicht anders.

Es waren siebeneinhalb Stunden vergangen, als wir, mehr erlöst als glücklich, am Gipfelkreuz eintrafen. Wahrhaftig, viereinhalb hätten es auch getan, und etwas mehr als 20 ( in Worten: zwanzig ) Meter Sicht hätten wir auch zu schätzen gewusst. Das einzig Erfreuliche war die Schneekammer, die freundliche Menschen auf dem 4545 Meter hohen Gipfel errichtet hatten. So konnten wir wenigstens in Ruhe, bei Windstille und Trockenheit, unseren Rucksackinhalt einer gründlichen Inspektion unterziehen. Diese Beschäftigung dauerte einige Zeit, während die Kameras wenig zu tun hatten; es gab wirklich fast nichts zu photographieren. Doch das Gefühl der Freude, unter pikanten Umständen doch noch diesen höchsten Schweizer Berg bestiegen zu haben, Hess sich nicht ab-leugnen. Immerhin hatten wir unsere eigene « Höchstmarke » um gute 200 Meter nach oben QH deutsch gesetzt, und als uns zudem bewusst wurde, dass es nur noch den Mont Blanc und vier Monte-Rosa-Gipfel über uns gab, genehmigten wir uns gleich einen Schluck aus dem ominösen flachen Fläschchen. Nachdem sich nach einer Stunde Gipfelrast keine Besserung der Sichtverhältnisse eingestellt hatte, gaben wir das Warten auf; es war ja bereits Nachmittag geworden, eine Zeit also, wo ordentliche Bergsteiger ohnehin längst am Hüttenfeuer sitzen. Uns aber konnten weder die vorgerückte Zeit noch die firnversumpfte Dom-Nordflanke Eindruck machen, geschweige denn Respekt einflössen, und so wühlten wir uns mit einer gewissen « Wurstigkeit » talwärts. Ein paar Ruderblätter hätten zweifellos unsere völlig unalpinistischen Bewegungen verbessert und mehr genützt als die armseligen Pickel, für die solch ein Brei eine grobe Beleidigung darstellen musste. Obwohl sonst gar nicht wetter-empfindlich, musste ich am Festijoch mit Hilfe eines Tablettenstosses heftige Kopfschmerzen bekämpfen, die ihre Ursache nur in dem ungewöhnlich warmen Föhneinbruch haben konnten. Der Erfolg der Behandlung stellte sich bei der Domhütte auch ein, und als wir nach Randa abstiegen, trösteten wir uns mit dem Gedanken, dass, nachdem wir mehr als einem Drittel der Schweizer Viertausender zu Leibe gerückt waren, sich auch einer einmal in Matsch und Nässe präsentieren durfte. Man muss eben alles einmal durchgemacht haben!

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