Bergerlebnis am Sunnig-Wichel (Südwestgrat) | Club Alpin Suisse CAS
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Bergerlebnis am Sunnig-Wichel (Südwestgrat)

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

( Südwestgrat )

Walter Kenel, Arth

Gemütlich sitzen wir beisammen in der heimeligen Stube einer Clubhütte in den Urner Bergen. Draussen ist es Nacht und kalt, denn es ist Ende Oktober.

Eine einfache Mahlzeit verzehrend und heissen Tee schlürfend, hocken wir um den Tisch. Toni erzählt Bergerlebnisse aus den Dolomiten, von bangen Stunden in blitzumzuckter Felsenwand, von kalten Nächten, von Schnee und langem Warten auf besseres Wetter. Da meint Anni, es müsste mal interessant sein, von einem Wetterumsturz überrascht zu werden, ein Biwak erleben zu müssen, um dann doch noch heil herauszukommen. Sepp aber, als ältester von uns, meint, er könne gut darauf verzichten.

Nach kurzer Nacht schon macht Toni unerbittlich Tagwache. Wolldecken zusammenlegen, Tee aufkochen, einen kurzen Imbiss zwischen die Zähne - und hinaus geht 's in die kalte Nacht. Unser Weg wird nicht kurz sein heute; ein langer Aufstieg und eine saftige Kletterei warten auf uns. Wie die Sonne ihre wärmenden Strahlen über die Berge sendet, erreichen wir bereits die ersten Schneereste, die ein früher Wintereinbruch zurückgelassen hat. Mühsam stampft Toni aufwärts, hinter ihm seine Frau Rösli, dann Anni, während Sepp und ich den Abschluss machen. Auf dem Vorgipfel, bereits etwas über 2700 Meter, wird haltgemacht, denn der Magen knurrt und verlangt nach seinem Recht. Der wolkenlos blaue Himmel verspricht einen schönen Tag, während drunten, tief im Tal, die Herbstnebel alles in ein trübes Grau hüllen.

Doch wir müssen weiter, über den Grat, in zwei Seilschaften, unter kundiger Führung von Toni. Vorbei geht 's an bizarren Felstürmen, über Platten im festen Granit. Das Auge freut sich an der Bergespracht, und tief im Herzen erwacht ein Gedanke des Dankes an den Schöpfer.

Sepp müht sich mit einem Steilaufschwung im Grat ab, während ich sichere. Tastend sucht er nach einem sicheren Griff- kein leichtes Unterfangen auf der vereisten Platte. Da — plötzlich gleitet er ab. Eine schnelle Drehung - doch die Hände greifen ins Leere. Am Seil gesichert, landet Sepp ziemlich unsanft auf einem rauhkantigen Granitblock. Hörbares Aufatmen! Doch zu früh! Sepp kann nicht aufstehen. Hat er wohl...Hoch steht die Sonne am Himmel; es ist Mittag, kühl streicht der Gratwind von Norden her und lässt uns leicht erschauern.

Sepp erträgt standhaft die Schmerzen, während Toni und ich mit Pickel und Kletterhammer sein gebrochenes Bein schienen. Was nun? Zurück - aber wie? Über den langen Grat mit den vielen Türmen und Zacken, auf und ab? Unmöglich, denn Sepp ist über achtzig Kilo schwer. Vielleicht über die schneebedeckte, vereiste Nordflanke? Mich friert es, wenn ich nur schon daran denke. Bleibt also nur noch der Weg nach Süden, über eine fast senkrechte Wand mit nur kleinen Gesimsen und grossen Überhängen.

Rösli und Anni brechen auf, um auf der Anmarschroute zurückzuklettern und unten im Tal Hilfe zu holen. Toni schlägt bereits Eisenstifte in den Fels, um das Abseilen einzurichten. Mit Stricken binden wir Sepp so gut als möglich ans Seil. Langsam und an einem zweiten 1 Unser kleines blaues Zelt, die « Missgebz auf dem Egg des Erezberges Photo Albert Kenel. Zug beil gesichert, lassen wir ihn hinunter auf ein kleines Band. Noch scheint die Sonne, aber wie lange noch? Wiederum wird der Verletzte gut gesichert, die Seile werden ausgezogen, neu eingerichtet - und hinaus über den nächsten Überhang. Frei geht der Blick in die Tiefe auf ein steiles Schneefeld, auf Geröll und Alpweiden. Ja, dort unten sollte man sein, dann liesse sich die hereinbrechende Nacht leichter überstehen!

Von neuem wiederholt sich das Spiel: abseilen, Seil ausziehen, neue Haken schlagen; ein Rennen mit der Zeit, denn es ist Herbst, und früh schon kommt die Nacht.

Unter einem Überhang, eingeklemmt in eine kleine Nische, bereiten wir unser Nachtlager vor. Ein kleiner Platz, kaum zwei Quadratmeter gross, soll unser Nachtquartier werden. Bange Fragen steigen auf. Was machen sie wohl zu Hause? Und bange Fragen werden zu Hause aufsteigen: « Warum kommen sie nicht? Sie sollten längst zurück sein! Sind sie verletzt, abgestürzt? » -Ja, wir können es fühlen, wie sie zu Hause Angst um uns ausstehen.

Schwarz schon ist die Nacht, als wir im schwachen Schein einer Kerze unser Biwak einrichten. Der kleine Metakocher erwärmt ein Restchen Wasser. Es gibt ein Süppchen, nur ein paar Löffel für jeden; doch wie wärmt es uns auf! An Haken und Repschnüren festgebunden, warten wir auf den Morgen. An Schlaf ist nicht zu denken. Langsam kriecht die Kälte die Beine herauf. Die feuchten Stellen am Fels, wo das Schmelzwasser tagsüber niederrann, überziehen sich mit Eis. Es wird nicht viel gesprochen; jeder ist mit seinen Gedanken allein. Ja, gestern noch hat Anni davon gesprochen: von einem Biwak. Heute schon ist es Wirklichkeit. Der Fels ist unser Bett, der Himmel unsere Decke. Glanzvolle Sternenpracht. Hie und da zieht eine Sternschnuppe am grossen Firmament, leuchtet auf und erlischt. Ist nicht unser Leben genau so, ein kurzer Traum, ein Aufblitzen und Niedersinken zurück in den Schoss des Schöp-fersLang wird die Nacht, kalt, unbequem - und doch so schön, denn wir fühlen uns ganz in Gottes Hand, nicht wissend, ob wir die Sonne morgen wiedersehen.

Doch alles geht zu Ende, auch diese Nacht. Langsam steigt der neue Tag herauf. Die Kälte nimmt noch zu, aber sie kann uns nichts mehr anhaben; wir können uns wieder bewegen. Nach zwei Überhängen haben wir den Fuss der Wand erreicht, wo uns die Rettungskolonne in Empfang nimmt.

Um ein Erlebnis reicher verlassen wir die herrlichen Berge, vergessen die Kälte, vergessen die Angst. Wir werden wiederkommen, denn die Berge sind unsere Welt.

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