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Bergfahrten in Oisans

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

Mit 7 Bildern.Von Christian Meisser.

In einem der wenigen wetterfesten Steinhäuser von La Bérarde richteten wir unser Standlager ein. Wenn wir auch viel von unserm Gepäck hier zurückliessen, die Rucksäcke waren immer noch rund und schwer für den nächsten Tag. Mildes Mondlicht leuchtete über Berge und Gletscher, das Tal lag in Dunkel gehüllt. Zum offenen Fenster herein klang das einförmige Rauschen des Vénéon, die letzten Stimmen in der « Dorfstrasse » waren verklungen. Bergsommernacht!

In der frühen Morgendämmerung verliessen wir das kleine Dorf. Unser nächstes Ziel war das Refuge Temple-Ecrins 2450 m. Dem Laufe des Vénéon folgend zogen wir stumm fürbass. Hoch hinten welche Riesenmauer!

Langsam schoben sich die nahen Bergflanken vor, und die Meije verschwand. Der Steingarten trat zurück, und ein schöner grüner Rasenboden breitete sich vor uns aus. Diese kleine Abwechslung war angenehm, für Auge wie Fuss. Kurze Zeit hernach führt der Weg durch einen Bergföhrenwald. Hier bogen wir scharf links ab und die Steigung wurde grösser. Am Refuge Carrelet vorbei erklommen wir in vielen Windungen die steile Bergflanke und betraten drei Stunden nach unserm Aufbruch in La Bérarde die Hütte. Niemand war da. Im Buch, welches wir eifrig durchblätterten, hatten sich nur ganz wenig Schweizer eingetragen. Allerdings reichte es nur bis zum Jahre 1927 zurück, in welchem die Hütte vom Club Alpin erstellt worden ist. Wie wir später beim Besuche anderer Hütten vergleichen konnten, ist sie eine der grössten und bequemsten. Der rechteckige Holzbau bietet Unterkunft für 32 Personen. Die Lage ist schön: im Südwesten der wilde Westgrat der Ailefroide, im Süden Les Bans mit ihrer schwarzen Nordostflanke, der Glacier de 1a Pilatte hat in seinem obern Teil gegen den Col des Bans hin viel Ähnlichkeit mit dem Sellagletscher im Engadin.

Pic Coolidge 3756 m.

Inzwischen war es 11 Uhr geworden, und wir wollten den Tag nicht ungenützt zur Neige gehen lassen. Also beschlossen wir, eine Kundfahrt gegen den Col de la Temple, 3283 m, zu unternehmen. Mit leichtem Gepäck, nicht aber ohne Seil, Steigeisen und Pickel, folgten wir in der heissen Mittagssonne dem steilen Fusspfade aufwärts. Eine gute Viertelstunde oberhalb der Hütte teilt sich der Weg. Der eine führt Richtung Col des Avalanches und verliert sich sehr bald in den Gletschermoränen. Die Kette vom Flambeau über Pic Lory zur Barre des Ecrins ist von dieser Seite gesehen eine jähe Felsenmauer, besonders der östliche Teil. Der Col des Avalanches selbst ist nicht sichtbar, doch konnten wir ihn leicht in der Schneidelinie vom Fifre und Ecrins-Südwand ermitteln. Wir wandten uns nach rechts und überquerten den Westgrat des Pic Coolidge, um über dessen Südflanke die Moräne des Glacier de la Temple und den Col zu erreichen. Zwei Schritte vor und Die Alpen — 1939 — Les Alpes.10 einundeinenhalben wieder zurück, dies war eine Zeitlang die Gehweise, bis wir endlich den weichen Gletscherschnee betreten konnten. Der Aufstieg war mühsam. Unangeseilt folgten wir den spärlichen Spuren früherer Gänger; der Gletscher war ungefährlich. Zur Linken zieht eine steile Schneerinne hinauf und mündet in den obersten Teil des Coolidge-Westgrates. Diesen Weg wollten wir einschlagen. Ein Blick auf die Uhr sowie die Beschaffenheit des Schnees brachten uns aber von diesem Vorhaben ab, und weiter stapften wir dem Passe zu. Ein kalter Windstoss empfing uns hier. Wolken waren inzwischen aufgezogen; die tiefsten hatten bereits die Gipfel der Ailefroide und der Pointe Puiseux eingehüllt. Was sich hier ost- und südwärts unsern Blicken bot, war von einer seltenen Wildheit. Von Eis- und Steinschlag überstrichene Wände steigen zum schroffen Grate auf, der von der Ailefroide zur Pointe Puiseux und Pyramide führt und einige Gipfel bildet, von denen Petit Pic Sans Nom und Pic Sans Nom besonders auffallen durch ihren trotzigen Bau. Senkrechte Wände führen hinab in tiefe Scharten, welche von dieser Seite vernünftigerweise wohl nicht ersteigbar sind. Ständiges Krachen und Poltern dröhnte aus diesen Wänden herüber und ergab zusammen mit dem Heulen des Windes einen richtigen Berghöllengesang.

Wir schlüpften in unsern Zdarskysack und gaben die Hoffnung auf den Pic Coolidge noch nicht preis. Der Gipfel schien nicht mehr weit, von ihm aus versprachen wir uns eine gute Einsicht in die Wände der Barre des Ecrins. Das Wetter schien nicht schlechter werden zu wollen, allerdings war die Kälte empfindlich, und der Wind brauste mit voller Kraft über die Grate. Aber die Ostflanke, die wir ein Stück weit begehen mussten, bot ja einigen Schutz. Also zogen wir denn unsere Hüte tiefer ins Gesicht und schnallten die Steigeisen an. Einen Rucksack liessen wir zurück. Etwas Bindenfleisch, für das besonders Pidi eine Schwäche hegte, und ein paar trockene Früchte verstauten wir in unsern Taschen.

Eiligen Schrittes stiegen wir den leichten Geröllgrat bergan. Ein jäher Felssatz zwang uns in die Ostseite des Berges. Der Wind hatte nachgelassen, und gegen die Kälte waren wir geschützt. Schräg aufwärts durchkletterten wir ein paar schnee- und eiserfüllte Couloirs, die zu dieser Tagesstunde etwas Vorsicht erheischten. Rasch kamen wir höher und konnten wieder den Grat betreten, der sich hier stark verflachte. Teils über Schnee, teils über kleines Geröll führte unser Weg weiter. Wir blieben mehr rechts der Fallirne und gewannen auf diese Weise sehr leicht und ohne Kletterei den Ostgrat. Den öden Schneestampf in der steiler und steiler werdenden Bergseite gestalteten wir dadurch etwas angenehmer, dass ein Zwiegespräch in Fluss kam über verschiedene Triebkräfte in der Bergsteigerseele, über Führen und Geführt-werden und anderes mehr. Endlich konnten wir unsere Köpfe über den scharfen Grat strecken. Die Wand war schnee- und eisdurchsetzt und fällt 1000 m auf den Glacier Noir hinab. Nun folgte ein stellenweise schmaler und steiler Schneegrat, in den wir nicht zu viel Vertrauen setzten. Eine kurze Kletterei in gutem Gestein führte uns auf den Gipfel, 3756 m.

Der Wind hatte aufgehört zu blasen, und die Sonne schien. Das oberste Stück der Ecrinswand verschwand im Nebel. Von unserm Standort aus wirkte sie geradezu unheimlich, und es erschien kaum glaubhaft, dass Menschen dort hinauf einen Weg gesucht und auch gefunden hatten. Ein Ausgleiten auf diesem starkgeneigten Gletscher würde einen Freifall von 600 m zur Folge haben. Meine Augen glitten mehr nach links, zwischen Pic Lory und Dôme de Neige entdeckten sie eine schräg hinaufziehende Rinne. Bei festem Hartschnee müsste dort am frühen Morgen mit Steigeisen durchzukommen sein. Der Einstieg zu dieser Rinne ist bedeutend höher als alle dem Col des Avalanches näherliegenden. Wir beschlossen nichts Endgültiges, zuerst wollten wir vom Hüttenwart Auskunft haben. Die Aussicht also war nicht wolkenlos und unbegrenzt, die unmittelbare Umgebung dafür ungemein stimmungsvoll. Die Wolken führten einen erbitterten Kampf. Die höheren Gipfel staken im Nebel. Unter uns ein Licht- und Schattenspiel, wie ich es selten zuvor gesehen hatte. Mehr als eine Stunde mochten wir geschaut und gelauscht haben. Fast waagrecht pfeilte die Sonne ihr Licht auf diese wilde Bergszenerie herüber, denn es war 1730 Uhr geworden. Nachdem wir noch die Gipfelvisitenflasche auf schweizerischen Inhalt hin untersucht hatten ( wir fanden dabei die Karte von Simon Rähmi, Bergführer in Pontresina ), stiegen wir ab. Dort wo wir den Ostgrat verliessen, um in die Schneeflanke zu treten, meldete sich der Skifahrer in uns. Wenn auch nicht in stiebenden Christianias auf gut gewachsten Hikorys, so doch schnurgerade und auf Trunsertuch landeten wir sicherlich fast ebenso schnell auf dem flacheren Teil des ungefährlichen Gletschers, der eigentlich eher ein Schneefeld zu nennen ist. Langsamer und vorsichtig kletterten wir jetzt in der Ostflanke hinunter und umgingen so ein unbegehbares Gratstück.

Auf dem Col de la Temple nahmen wir das zurückgelassene Gepäck auf, rollten das Seil zusammen und sprangen den Gletscher hinunter. Auch hier konnten wir wieder durch gefahrloses Abrutschen Zeit gewinnen. Unten auf dem Gletscherboden machten wir einen kurzen Halt und schauten noch einmal hinauf, wo wir noch vor kurzem gesessen hatten. Die eingeschlagene Route war die leichteste und kürzeste. Alle andern, speziell von der Ostseite, vom Glacier Noir her sind länger und schwieriger. Eine Begehung des Westgrates wäre wohl interessanter gewesen, wir waren aber auch so zufrieden. Um 20 Uhr betraten wir die Hütte, die sich nun mit Männlein und Weiblein bevölkert hatte. Einigen sah man allerdings den Neuling in Kleidung und Gesicht an. Nun, bis hier herauf konnte man ja zur Not noch mit Stöckelschuhen gelangen. Wir wollen unser Mahl zubereiten. Das beste für ortsfremde Bergsteiger wird sein, wenn sie das notwendige Essgeschirr mit-heraufbringen. Vor allem soll man Kocher und Spiritus nicht vergessen, denn die meisten Hütten in dieser Gegend besitzen keine Holzvorräte, wie wir es in der Schweiz gewohnt sind. Um 22 Uhr wurde vom Hüttenwart Ruhe geboten. Von ihm erfuhren wir, dass am nächsten Morgen eine Zweier-seilpartie die Ecrinsüberschreitung durchführen wolle. So weit waren wir noch nicht und beschlossen, auf alle Fälle noch einen Tag zu warten. Wie gut wir daran taten, sahen wir allerdings erst zwei Tage später, als die beiden über Refuge Cézanne-Weiler Ailefroide-Col de la Temple wieder zurückkehrten. Arg mitgenommen sahen sie aus, mit erfrorenen Händen und zerrissenen Kleidern. Sie hatten einen furchtbaren Schneesturm mitgemacht in der Ecrinssüdwand, nahe dem Gipfel, den sie erst um 22 Uhr erreichten. Bei grosser Kälte und viel Neuschnee erzwangen sie den Abstieg über den Glacier Blanc zum Refuge Caron. Da hiess es also vorsichtig sein.

Wir brachen am Nachmittag auf zu einem Kundgang Richtung Col des Avalanches und beabsichtigten, hier unten überflüssiges Gepäck an geeigneter Stelle abzulegen.

Les Ecrins 4103 m — Pic Lorg 4083 m.

Diesmal hielten wir bei der Wegzweigung links und erklommen die endlos scheinende, langweilige Moräne. Zur Linken war der Gletscher abschüssig und spaltendurchfurcht, also wandten wir uns mehr gegen den Coolidge-Westgrat hin und stiegen in einiger Entfernung von dessen untersten Felsen an. Metertiefe Löcher veranlassten uns, stillzustehen und deren Entstehung zu ergründen. Zuerst glaubten wir an Schmelzlöcher. Ein Blick die hohe Wand hinauf gab uns aber eine andere und richtige Erklärung. Irgendwo hoch oben in der Wand hatten sich Steine gelöst und dann nach 150 m freiem Fall hier tief eingegraben. Wir strebten infolgedessen nach links von dieser gefährlichen Wand weg und gelangten bald auf einen nur massig geneigten Gletscherboden. Am Rande einer schwach überbrückten Spalte querten wir hinüber zu einem grossen Steinblock, wo wir unsere Ablage einrichten wollten. In einem Schlafsack verstauten wir Nahrung und Kleidungsstücke, auch Steigeisen und Seil liessen wir zurück. Es begann zu regnen, und im Laufschritte erreichten wir die Hütte, nass bis auf die Haut; die Windjacken lagen ja trocken verwahrt auf 3100 m. Das Refuge war wieder ziemlich bevölkert.

Um 2 Uhr zog mir der Hüttenwart die Decken vom Leibe und berichtete, das Wetter könne auf beide Seiten gehen, die Möglichkeit bestehe aber, dass ein Sonnentag anbreche. Begleitet von Vater Gaspards guten Wünschen traten wir bei flackerndem Laternenschein in die Nacht hinaus. Das Hüttenlicht verschwand bald im dichten Nebel. Dem einförmigen Takt von Pickel und Tricouninägeln lauschend, schritten wir den nun bekannten Weg hinan. Eine drückende Stimmung lag über uns. Ich als Pessimist rechnete mit einer Möglichkeit des Durchkommens von 20 %, wenn man das unsichere Wetter mit in Betracht zog. Unter keinen Umständen wollte ich mich in dieser Wand vom Unwetter erwischen lassen. Geisterhaft trat der Felsblock, wo wir abgelegt hatten, aus dem Dunkel hervor. Wir schnallten die Steigeisen an und verbanden uns durch das Seil. Die Säcke wurden schwer, zu schwer für diese lange Fahrt.

Im Osten begann es zu dämmern. Die Nebelwand war gewichen, nur noch Fetzen zogen langsam den Bergflanken entlang. Wir schritten weiter und erreichten, einige grosse Spalten überquerend, den obersten Gletscherkessel, den Pic Coolidge und Fifre einrahmen. Hier lag Windharsch, der nicht zu tragen vermochte und daher das Spuren mühsam gestaltete. Wir bogen links ab, um über den Rücken einer riesigen Wächte, die der Fifre-Westwand entlang nach oben führte, den Col des Avalanches, 3511 m, zu erreichen. Kalter Wind und Flockengewirbel fegten durch den engen Pass, so dass wir Mühe hatten, die Augen offen zu halten. Grausig war der Blick die enge, steile Rinne hinunter, die 800 m tiefer auf den Glacier Noir mündet und in deren Tiefe wohl nie ein Sonnenstrahl zu gelangen vermag. Oft mögen die ersten und einzigen Ersteiger, Coolidge mit den beiden Almer, ihre Blicke angstvoll zur Höhe gewendet haben, als sie sich den Zugang zum Col durch diesen Sammelkanal für Steine und Eis erzwangen. So geschehen am 20. Juni 1877.

Bei diesem Wetter in die Wand einzusteigen, wäre unverantwortlich gewesen. Wir wollten abwarten und suchten also nach einem geeigneten Rastplatz im Windschatten. Im westlichen Ausläufer der am tiefsten herabreichenden Ecrinsfelsen entdeckten wir so was. Zwei Seillängen kletterten wir in einer Rinne empor und fanden leidlich Schutz. Jeder schlüpfte in seinen Einerschlafsack, zusammen stülpten wir hierauf den Doppelzdarsky über uns und warteten der Dinge, die da kommen sollten. Das Thermometer zeigte bald 14° C, derweil draussen die Temperatur unter Null gesunken war. Durch das kleine Fenster sahen wir dem dichter werdenden Flockengewirbel zu. Die Fifrewand hatte sich bereits weiss überzogen und blieb zeitweise unsichtbar. Wir schliefen ein. Als wir erwachten, hatte sich eine ansehnliche Schneeschicht über unsern Sack gelegt. An eine Fifrebesteigung war auch nicht zu denken und daher ein weiteres Verweilen hier zwecklos. Wir beschlossen den Rückzug. Bald erreichten wir den Gletscher und hielten nach einem geeigneten Ablegeplatz Umschau. Am Übergange vom Schnee zu den Ecrinsfelsen fanden wir ihn. Spiritusflasche, Kocher und Mauerhaken waren weiter unten überflüssig. Mit einem Schlafsack deckten wir dies alles zu und beschwerten es mit Steinen, damit es nicht die Beute des Windes werde. Unsere Aufstiegspuren waren zugedeckt, und in dichtem Schneetreiben und Nebel suchten wir den Abstieg. Beim schon erwähnten Steinblock liessen wir Steigeisen und Seil zurück. Und so zwei Lager am Berge haltend, kehrten wir in später Nachmittagsstunde zur Hütte zurück, freudig begrüsst von Vater Gaspard. Zwei Bergsteiger waren angekommen, die das C. Abzeichen trugen und mit denen wir im Laufe der nächsten Zeit gute Kameradschaft schlössen. Der folgende Tag sah noch trüber aus. Spät krochen wir aus den Decken.

Nachts um 3 Uhr waren wir wieder bereit für einen Versuch. Den Weg kannten wir jetzt zur Genüge, und in Schwung geraten waren wir auch wieder. Früher als am Vortage wurde es hell. Beim Steinblock hoben wir Lager I auf. Eine Dreiergruppe folgte ein Stück weiter hinten. Kurz nach 5 Uhr trafen wir beim obern Lager ein.

Tüchtig beladen spähten wir nach dem Couloir en Y, welches den Einstieg zur Wand vermittelt. Ich sah überhaupt ein X- und kein Y-Couloir. Wir wurden nicht klüger vom langen Hinstarren und Raten. Schon Andreas Fischerx ) hatte hier ein falsches genommen und sicher noch mancher andere nach ihm; durchgekommen waren sie alle, mehr oder minder schnell und leicht. So packten wir denn eines an, welches von links nach rechts steil aufwärts leitete und dessen oberes Weiterführen nicht deutlich sichtbar war. Die jähe Schneerunse zu ihm war hart, aber mit den Eisen gut zu erklimmen. Nun links in gutem Stein ein paar Meter hinan. Die steiler werdende Wand zwang uns jetzt in den Grund des Couloirs hinein. Seine Felsen waren mit Eis überzogen, so dass jeder gute Griff mit dem Pickel zuerst freigelegt werden musste. Den Stufen im Eis war nicht zu trauen. Mühsam arbeitete sich Pidi voran, derweil ich, noch ausserhalb stehend, ihn sicherte, so gut es ging. Die Kälte war empfindlich und drang bis auf die Knochen. Die Führerpartie hatte inzwischen die ersten Felsen erreicht, hielt aber mehr rechts einem andern parallel laufenden Risse folgend. Ich konnte zusehen, wie sie höher kam, rascher als wir und uns überholte.

Unser Couloir war also nicht das en Y, das hatten wir nun gemerkt. Pidi war mir eine Seillänge voraus, und weiter oben schien es besser zu gehen; auch bestand dort die Möglichkeit, in den richtigen Weg hinüberzuqueren. Aus diesem Grunde und weil ein Absteigen ohne Sicherung für ihn schwer und zeitraubend gewesen wäre, kletterten wir weiter und gingen nicht zurück, um den richtigen Einstieg zu verfolgen. Es ist nicht leicht, Bergsteigern, die ihre Schritte dieser Wand zulenken wollen, den genau richtigen Einstieg zu beschreiben, weil eben eine Fülle von Rissen und Couloirs hier unten münden, deren Begehbarkeit im obern Teil vom Col aus nicht mit Sicherheit ermittelt werden kann. Trotzdem möchte ich versuchen, ihnen mit einigen Worten dienlich zu sein. Vom Sattel aus sieht man eine Schnee- oder Eiszunge, die sich bedeutend höher als die andern an eine Couloirmündung hinaufstreckt. Der nächst rechtsliegende, also östliche Riss wird der beste Weg sein, speziell dann, wenn das grössere, links liegende Couloir mit Eis und Schnee ausgekleidet ist, so wie wir es vorfanden. Dies nach meiner Ansicht und Erfahrung und nach der Versicherung von Bergführer Rodier in La Bérarde, der an jenem Tage lächelnd an uns vorüberzog.

Dort wo wir das Couloir verlassen konnten, um den andern zu folgen, ging es gut und ziemlich schnell. Immer rechts der Fallinie haltend, überwanden wir Risse und Absätze und hatten den letzten Mann der Vorgruppe bald eingeholt. Mit gefühllosen Händen erkletterte dieser die eis- und schneedurchsetzten Felsen. An richtige Handschuhe hatte er nicht gedacht, es war ja Sommerzeit und im warmen Monat August. Pidi gab ihm seine zweiten Handschuhe. An ein Überholen war hier nicht zu denken; dicht aufgeschlossen hintenan zu folgen, war auch nicht ratsam, weil wir einem ständigen Eis-riesel ausgesetzt waren. Wir hielten an und warteten. Ich benutzte den Halt, um zu photographieren.

Steil und glatt schwangen sich über uns die Felsbastionen zur Höhe, so dass man ganz von selbst auf den richtigen Weg gedrückt wurde. Ein tiefes Nebelmeer über dem Vénéon zog talaus, und der Tag versprach nicht schlecht zu werden. Die Vorausgehenden waren verschwunden, nur ihre gegenseitigen Zurufe hallten noch zu uns herab. Stein- und Eisschlag tönte aus den östlichen Couloirs, welche gegen den Glacier Noir abfallen, herüber. Wir begannen wieder zu klettern. Durch eine eisgepanzerte Felsmulde, die wir schräg nach oben querten, gelangten wir zum einzigen ständigen Seil in dieser Wand. Wir waren froh darüber, denn ohne es hätten wir hier viel Zeit verloren, indem ich nicht gewagt hätte, als Erster mit dem schweren Sack diesen schmalen, glatten Riss zu erklettern. Eine Möglichkeit zum Ausruhen gab es nicht. So aber kam ich mehr mit Hilfe meiner Arme als meiner Beine über die schwere Stelle hinweg und war ordentlich froh, beim obersten Verankerungsstift ausruhen zu können, derweil Pidi heraufpustete.

Nachdem wir noch einige kleinere Couloirs schrägan gequert hatten, erreichten wir eine scharfe Rippe, hinter welcher eine richtige Eiskaskade erschien, die in der Tiefe der Schlucht herabstürzte und sich unten in der steiler werdenden Wand verlor. Wir versuchten, in der linken Seite dieser Schlucht anzusteigen. Dies mussten wir aber bald als aussichtslos aufgeben. Waagrecht nach rechts zu queren, war auch nicht ratsam, weil hier der senkrechte Eissturz den Weg versperrte. Daher stiegen wir etwa 10 Meter ab und stiessen dort auf die Führerspuren, welche auf die andere Seite wiesen. Von mir diesseits gesichert, erklomm mein Kamerad die vereisten Felsen gegenüber. Oberhalb des Eisfalles konnten wir, dem Grunde der Schlucht folgend, gut weiterkommen. Der Felssporn, welcher die rechtsseitige Fassung der Schlucht bildet, verlor sich hier in Eis und Schnee. In diagonaler Richtung gegen Osten gewannen wir eine aus dem Firn hervorragende Felsinsel, war es doch angenehmer und sicherer, festen Boden unter den Füssen zu spüren, als in einer Schneeschicht zu stapfen, die auf Eis ruhte. Auch waren wir hier vor allfälligem Stein- und Eisschlag, verursacht durch die vorangehende Partie, besser geschützt.

Der Gipfel des Fifre befand sich bereits unter uns, über den Pic Coolidge hinweg konnten wir bis ziemlich weit hinunter die Wand der Ailefroide erblicken. Weiter oben wurde der Firnhang schmal und zog sich als enge Kehle in die Scharte zwischen Pic Lory und Barre des Ecrins. Eine grosse Wächte neigte auf unsere Seite herab. Dort wollten wir den Durchstieg nicht versuchen. Schon ein Queren vom oberen Ende unserer Felsrippe zu den Felsen rechts des Firnstreifens musste unangenehm sein, weil man dabei in die Fallirne der erwähnten Wächte gelangte. Die Gipfelfelsen des Pic Lory waren aber so steil und brüchig anzusehen, dass wir doch ein Rechts-aufwärtsqueren für das Vernünftigste hielten. Momentan zischten aber noch Eisstücke und Steine von da oben herab, so dass wir es für besser hielten, die Vorgruppe aus der Wand aussteigen zu lassen, bevor wir weiterzogen.

Ein Jauchzer von oben verkündete uns die Erreichung des Zieles, den Gipfel. Schleunigst machten wir uns auf. An langem Seil folgte einer dem andern, damit nicht beide zur gleichen Zeit in der grössten Gefahrzone liefen. Glücklich erreichten wir die untersten Felsen des Gipfelstockes. Einige Seillängen folgten wir der Übergangslinie vom Eis zum Fels, und was nun kam, war nicht eigentlich schwer zu nennen, doch war hier Vorsicht in zwiefacher Hinsicht geboten. Das Gestein war nicht fest, und bei uns machte sich der Einfluss der Höhe und der Traglasten bemerkbar. Nur ein paar Meter unter dem Grate, dort wo man am liebsten in einigen Sprüngen dem Gipfel zustürmen möchte, um der stundenlang angehaltenen Spannung ein Ende zu bereiten und das Ziel völlig zu erreichen, widerfuhr mir ein sehr gefährliches .',.} " Ungeschick. Ich griff nach einem massif ausschauenden Block, und er gab nach. Blitzschnell setzte ich den zum Schritt erhobenen Fuss wieder zurück und stemmte den zum Absturz bereiten Kerl mit aller Kraft in seine alte Lage. Eine Seillänge unter mir stand Pidi, er konnte es kaum bemerkt haben. Vorsichtig wandte ich mich von dem heimtückischen Gesellen ab und rief dem Gefährten zu, er möge ihn ja nicht betasten. Dann kletterte ich auf den Grat. In der Nordflanke liegend, schaute ich in die Tiefe der Südseite, der wir eben entstiegen waren, und zog das Seil ein, bis auch Fidis Locken im Gratwind flatterten.

Und die Aussicht? Undeutlich liess sich durch ein Wolkenloch der lange Strom des Glacier Blanc erkennen. Die meisten Bergspitzen verbarg dichter Nebel. Einige Minuten Wanderung auf dem schmalen Felsgrat brachten uns auf den Gipfel der Barre des Ecrins, den höchsten Berg im Dauphiné. Die Kälte war für unsere erhitzten Körper empfindlich, trotzdem erlebten wir für kurze Zeit richtige Gipfelfreuden.

Bald wandten wir uns auf leicht abfallendem Grate dem Pic Lory zu. Die erwähnte wächtengekrönte Scharte umgingen wir in der Nordflanke. Ein kurzer Gegenanstieg und wir betraten seinen Gipfel, 4083 m. Die Uhr zeigte auf 12 Uhr, und wir hatten keine Eile. In den Gipfelfelsen sitzend, beobachteten wir eine Führerpartie, die über den Nordwestgrat zu uns heraufstieg. Bald erreichten sie uns, zwei Damen und ein Herr mit einem jungen Führer. Ohne Steigeisen und teilweise ohne Handschuhe hatten sie den Berg erklommen. Schon mahnte der Führer seine Schutzbefohlenen zum Aufbruch, wir folgten hintennach, da der Abstieg interessant zu werden versprach. Voran schritt der Herr, gefolgt von den beiden Damen, an letzter Stelle ging der Führer, welcher Kraftworte zu seinen Brotleuten hinunter-schmetterte, dass es eine Art hatte, und sie gehorchten ihm aufs Wort. Als er seinen Zigarettenstummel wieder in Brand setzen wollte, musste die ganze Gesellschaft anhalten, wo sie gerade stand oder sass. Wir gingen mehr in die Flanke, um die humoristische Viererschaft zu überholen.

Bald hernach verliessen wir den Grat und stiegen den steilen, mit Neuschnee bedeckten Firnhang in der Fallirne ab. Die Randspalte war leicht zu überspringen. Zur Linken wölbte sich die schöne Schneekuppe des Dôme de Neige. Und da es noch früh am Nachmittag war, so wollten wir auch ihn besuchen. Die Säcke legten wir hier ab und folgten der Randspalte nach Westen, bis sie in der Brèche Lory ausläuft. Von da erreichten wir über den buckligen Schneegrat in kurzer Zeit den Gipfel, 3980 m. Hatten uns auf der Barre und dem Pic Lory Wind, Kälte und Nebeltreiben belästigt, genossen wir hier der schönsten Sonne.

Mit der Empfindung, an diesem Tage genug geleistet zu haben, kehrten wir zu den Säcken zurück, zogen parallel dem Bergschrunde nach Osten fürbass, auf diese Weise den ungangbaren Gletscherabbruch umgehend. Der Schnee lag tief, und doch konnten wir es nicht unterlassen, an steileren Stellen abzufahren, wobei muntere Lawinchen vor uns her rauschten. Spuren führten nun nach links auf den Col des Ecrins. Dem letzten Ausläufer einer riesigen Eislawine folgend, betraten wir den flachen Teil des Gletscherstromes. Durch nassen Nachmittagsschnee erreichten wir das gegenüberliegende Ufer. Ein kurzer Anstieg über Geröll und Felsen, und wir betraten das Refuge Caron 3169 m, welches auf dem letzten Buckel des von der Roche Paillon herunterreichenden Felsrückens steht. Unsere beiden Kameraden von der Templehütte her, die den Weg über La Bérarde-Col des Ecrins hierher genommen hatten, waren schon da und hatten sich bemüht, zwei schmale Plätze auch für uns zu sichern, was ihnen in Anbetracht der gar nicht bergsteigerischen Schar, die hier zu nächtigen wünschte, nicht leicht gemacht wurde.

Die Barre des Ecrins zeigte nun wirklich ihre schönste Seite. Lange sass ich im Freien und bewunderte ihre stolze Form, die wie eine weisse, geschwungene Schaufel in den Himmel reckt.

Roche Faurio 3716 m — Col des Ecrins 3417 m.

Während mein Gefährte behaglich den Rucksack rüstete, begann ich Richtung Col des Ecrins den Gang über den flachen Glacier Blanc. Rasch und mühelos kam ich über den harten Schnee an. Etwa 20 Minuten unterhalb der schmalen Lücke, die den Abstieg zum Glacier de 1a Bonne Pierre gestattet, machte ich halt, um auf meinen Genossen zu warten. Von da wollten wir den Roche Faurio angehen. Durch dessen Gletscher, der hier in den grossen Hauptstrom einmündet, kamen zwei Gestalten herab. In drei bis vier Meter Abstand folgten sie sich, angetan mit einem Seil, welches Grossmutter vielleicht zum Trocknen von Selbstgewobenem und Gespon-nenem benutzt haben mochte. Mit weissübertünchten Gesichtern kamen sie auf mich zu und fragten nach meinem Ziele, das ich so ganz allein zu verfolgen gedenke. Sie selbst hatten beabsichtigt, den Roche Faurio zu besteigen, aber einer steilen Hartschneehalde wegen umgekehrt. Ich solle einmal versuchen, ob ich mit meinen Eisen mehr Glück hätte. Nun erschien Pidi und berichtete, dass seine Kletterschuhe, die er bis dahin bloss als Hüttenpantoffeln benutzt hatte, im Refuge geblieben seien. Da er sie nicht verlorengeben wollte, zog er mit den beiden komischen Käuzen wieder ab. Indessen zog ich langsam weiter.

Der Gletscher war von Spalten durchfurcht, diese aber hatten gute Brücken und so schwindelte ich mich denn durch, oft mit dem Pickelstiel sondierend und verdächtige Stellen überkriechend. Ich muss gestehen, dass diese Gletscherwanderung nicht zu den angenehmsten Stunden meines Lebens zählt, wollte ich doch nicht meinem Gefährten eine Spur vorlegen, die plötzlich mit einem Loche ihr Ende fand. Sobald es mir daher tunlich schien, verliess ich den Hauptstrom, um nach links über einen steilen Firnhang den Südgrat zu erreichen. Etwelche Schwierigkeiten bereitete mir die Randspalte, deren Brücke an der obern Seite angerissen war und sich gesenkt hatte, so dass die bergseitige Eiswand um mehr als Mannshöhe emporragte. Erleichtert atmete ich auf, als ich dem Bereich der Gefahren entronnen war und den breiten Hartschneegrat betreten konnte. Pidi war immer noch nicht zu sichten, und ich schritt gemächlich weiter. Steiler schwang sich jetzt der Rücken auf, um weiter oben sehr schmal zu werden. Links führten brüchige Felsen hinab zum Glacier de 1a Bonne Pierre, ich blieb in der sicheren Ostflanke und gelangte nun bis zur Vereinigung meines Grates mit dem von der Die Alpen — 1939 — Les Alpes.11 Pointe Xavier Blanc horizontal herüberführenden. Riesige Wächten hingen nach Nordost über und zwangen mich in die schroffe Westseite. Nasser, tiefer Schnee gestaltete diese notwendige Querung zum unangenehmsten Stück des ganzen Aufstieges. Hernach erschien trockener Fels, und hier gedachte ich zu warten. Eine Stunde mochte verstrichen sein, als mein Freund eintraf. Auch er war froh, dass diese Alleingängerei ein Ende nahm. Wir seilten uns an, um das letzte Stück schöne Felskletterei miteinander zu erledigen. Dem ersten steilen Absatz wichen wir links in geneigte Platten aus und erreichten nachher in besserem Fels wieder den Grat. Auf diesem gelangten wir über einen fast ebenso hohen Vorgipfel in gutem Gestein innert kurzer Zeit zum höchsten Punkte, 3716 m. Er trennt drei grosse Eisströme: Glacier Blanc, Glacier de la Plate des Agneaux und Glacier de la Bonne Pierre. Der Tiefblick ist, wie übrigens von den meisten Hochgipfeln dieser Gegend, äusserst wild und trostlos. Kaum konnte das Auge irgendwo grünen Rasen erschauen, allüberall nur Stein und Schnee. Wolken- und Nebeltreiben verdunkelten den Himmel, alles zusammen ein Infernomotiv. Nicht lange hielten wir uns da oben auf, sondern gingen den Aufstiegweg zurück. Anderthalb Stunden später standen wir im Col des Ecrins 3415 m. Dieses schmale Felsentor öffnet sich als tiefste Schwelle im Verbindungsrat Roche Faurio-Dôme de Neige. Wir waren nicht sehr erbaut, als wir das steile Eiscouloir hinunterblickten ( 57° nach zuverlässigen Angaben ). Seine Überwindung versprach die härteste Arbeit des Tages zu werden. Mein Gefährte querte am langen Seil nach rechts in die Wand hinein, während ich in der Scharte sicherte. Sein Zuruf, er hätte ein befestigtes Seil gefunden, das der Wand entlang hinabführe, liess auch mich durch die Scharte treten. In diesem Moment entdeckte ich einen Zettel, der in einer Felsritze flatterte. Er galt uns, und ich las: « Von der Barre kommend, hinterlassen wir euch hier einen Gruss und werden am Gletscherende warten. Dr. Lang und Tenckhoff. » — Eiligst stiegen wir nun ab, wobei das feste Seil gute Dienste leistete. Bald nach dessen Ende betraten wir den Firnhang, der, stark durchfurcht von Schmelzwasser, Eis- und Steinschlagrinnen, zum flachen Gletscherbecken hinabführte. Die beste Methode, hier rasch und sicher abzusteigen, war: Gesicht gegen den Hang — den Pickelstiel tief einrammen — mit langen, tief eingrabenden Schritten der Fallirne folgen. Auf diese Weise erreichten wir die Randkluft und übersprangen sie mühelos. Über den First einer kilometerlangen, dachartigen Moräne, der angenehmsten und höchsten, die ich je betreten habe, gelangten wir zu Tal. Mit Recht führt dieser Gletscher seinen Namen, Glacier de 1a Bonne Pierre. Mit Schutt und Geröll tief überdeckt fliesst hier der Eisstrom hinab, um erst bei der Zunge wieder ans Licht zu kommen.

Mont Giobernay 3350 m — Pointe Richardson 3300 m.

Nachdem wir die schönen und stolzen Les Bans 3615 m über die Südostwand erstiegen hatten, von welchen Hans Gertsch in « Die Alpen » 1931 so lebhaft zu erzählen weiss, gingen wir an zwei sanftere unter den wilden Berggestalten des Dauphiné. Gleichsam als die Ruhe vor dem grossen Sturm, dem Angriff auf die Arêtes de 1a Meije, wollten wir diese beiden Gipfel besuchen. Sonnenschein hatte uns aus der Hütte verscheucht, als wir nach dem Aufstiege zum Mont Giobernay zu suchen begannen. Zuerst verfolgten wir ein Stück weit den Weg zum obern Glacier de 1a Pilatte, also in südlicher Richtung, um hernach in der felsdurchsetzten Flanke südwestlich emporzusteigen. Über Plattengeröllhalden gelangten wir zum Firn, welcher die Südostseite des Berges bedeckt.

Richtung Col de Giobernay 3225 m, der zwischen Pointe Richardson und Mont Giobernay liegt, schritten wir bergan. Einige Schrunde waren gut überbrückt und boten keinerlei Schwierigkeiten. Bald erreichten wir deshalb den Col, die beiden Gipfel grüssten in unmittelbarer Nähe. Der Grat, der in massiger Steigung zum Mont Giobernay hinaufzieht, ist stark verwittert. Indem wir uns aber in der Westseite des Berges hielten, konnten wir schnell vorankommen und den Gipfel betreten. Wahrlich, es hatte sich gelohnt, denn der Einblick ins Ecrinsmassiv war prachtvoll. Und auch die Bans nahmen unsere Blicke gefangen, für alle Ewigkeiten sind sie aufgebaut auf ihrem weissen Sockel.

Wir eilten zurück in den Col und seilten uns an, um den schmalen Nordgrat der Pointe Richardson aufzuhacken. Spät, zwanzig Jahre nach ihrem grossen Nachbar, Les Bans, erhielt sie den ersten Besuch. Unbeachtet, dem Mauerblümchen gleich, war sie einsam geblieben. Ihr Name ist englisch, zu Ehren der berühmten Bergsteigerin Katharine Richardson. Viele Spitzen und Scharten in der Dauphiné tragen Namen von Bergsteigern, so der Jüngern Generation übermittelnd, wie jene Grossen in unserer alten Garde geheissen. In einem'kurzen Gespräch über den einzuschlagenden Weg im Abstiege entschieden wir uns für den Nordgrat, um möglichst früh in La Bérarde einzutreffen. Nach etwa 20 Minuten Abstieg über den Grat konnten wir ihn rechts nach Südosten verlassen, um auf kürzestem Wege den vom Col du Clot herabziehenden flachen Gletscherrücken zu erreichen. Einmal mehr bot sich hier Gelegenheit abzufahren. Das geschah so trefflich, dass wir uns aus dem letzten steilen Stück buchstäblich heraushacken mussten, denn um keinen Preis wollten wir wieder zurücksteigen. Der Weiterweg war unschwierige Gletscherwanderung. Anfangs spendeten Schrunde einige Kurzweil, dann folgte Monotonie. Als wir dann noch durch Wassertümpel den Weg zum Ufer suchen mussten, waren wir doppelt froh, auf trockenen Boden zu treten.

Eine Stunde mochten wir talaus gelaufen sein, als wir vom Wege abkamen, Beerensammlern gleich. In hohem frischem Grün wiegten sich formschöne Blumenkelche im Wind, weisse, rote und blaue auf schlanken Trägern, und es schien wirklich, als ob die lebenskarge Natur hierzulande all ihre Kraft einsetze, um dieses kleine Fleckchen Erde in ein Paradies zu verwandeln. Ein schöner Abschied vom wilden Vénéon. Von der Ecrinsseite herunter grüssten die in der Nachmittagssonne glitzernden Scheiben der Templehütte ein letztes Mal. In La Bérarde trafen wir mit lieben Leuten aus der Heimat zusammen, die hierhergekommen waren, um zu sehen, was die « beiden Schweizer » bereits angerichtet hatten.

Überschreitung der Meije.

Mit dieser Fahrt schlössen wir die Reihe unserer Besteigungen im Dauphiné. Viel, sehr viel ist über Erlebnisse an der Meije geschrieben worden. Ich möchte hier an Andreas Fischer erinnern, der an einem der Höchsten seiner heimatlichen Berge auf tragische Weise den Tod fand. Im ersten Bande seiner « Hochgebirgswanderungen », würdig von jedem Bergsteiger gelesen zu werden, hat er seine zwei Meijebesteigungen geschildert. Ein grosser Könner in Eis und Fels, einer unserer allerbesten alpinen Schriftsteller spricht darin zu uns in belehrender und zugleich sehr unterhaltender Art. Mit einigen persönlichen Eindrücken hoffe ich immerhin einen kleinen Beitrag liefern zu können zum guten Gelingen einer Meijeüberschreitung, die vielleicht der und jener beabsichtigt.

Der Zugang zur Promontoirehütte, der leichter von La Bérarde als von La Grave über die Brèche de 1a Meije erfolgt, ist deutlich gekennzeichnet durch einen Fusspfad bis zum Refuge du Châtelleret 2225 m. Hier verliert er sich, man halte aber links westlich auf die Moräne zu, wo er weiterführt, um erst kurz unterhalb des Promontoirefelsens im Gletscher unterzugehen. Heute erreicht man die Hütte schneller durch die Felsen, und wenn man Glück hat, wird man in diesen sogar ein Drahtseil finden, welches den Weg zur Höhe erleichtert. Keines andern Berges Platten, Risse und Zacken in solcher Zahl tragen Namen wie hier, die an Begebenheiten erinnern oder formver-gleichenden Charakters sind. Wenn man richtig geht, so kommt man an ihnen vorbei, man erkennt sie, und sie bleiben für immer im Gedächtnis. Die Grande Muraille, bei Bergsteigern verrufen, weil man an ihr oft unbeabsichtigte Varianten geht, hat uns nicht genarrt, und die Steingeschosse habe ich ihr verziehen, nachdem ich erfuhr, dass vorangehende Führer die Sünder waren. Hernach aber kletterten wir ohne Zwischenfall bis zum Gipfel des Grand Pic.

50 m Seil und ebensoviel Reepschnur trugen wir mit. An der grossen Abseilstelle in der Ostwand der Meije Occidentale brauchten wir sie und gelangten damit glücklich zur Brèche Zsygmondy hinunter. Dann folgte eine Feuerprobe, das Einziehen des Seiles vermittelst der Reepschnur. Und diese versagte ganz. Wohl wären die Unterstehenden imstande gewesen, die Schnur zu zerreissen, nicht aber das Seil einzubringen. Von herab-rinnendem Schmelzwasser durchnässt und dadurch an Gewicht erheblich schwerer, die Reibung am Fels und im Eisenring: das zusammen leistete einen Widerstand, den die Schnur nicht zu überwinden vermochte. Das 30-m-Seil zweier deutschen Kameraden samt ihrem Reserveseil liess auch mich die Fahrt zur Tiefe antreten mit der Gewissheit, dass ein Versagen nicht mehr so leicht möglich war. Vier Mann zogen hernach im Gleichtakt daran, bis es zischend die Wand herunterfuhr. Als wir uns dem Doigt de Dieu zuwandten, waren mehr als zwei Stunden verflossen seit dem Grand Pic. Zweimal noch seilten wir ab, 15 m über eine vereiste Felsplatte im Grate zwischen Doigt de Dieu und Meije Orientale und 50 m über den Bergschrund am Glacier du Tabuchet. Dann gab der Berg uns frei. Wir alle waren überzeugt, dass hiermit eine Fahrt ihren Abschluss fand, die von Anfang bis Ende unsere gespannteste Aufmerksamkeit und unsere ganze Kraft gefordert hatte. Doch wir würden sie wieder unternehmen, und dies bedeutet viel. Überflüssig, unsere gebrauchte Zeit mit der normalen zu vergleichen, sie war sehr lang, aber wir haben 60 Aufnahmen mit nach Hause gebracht.

In den Abendstunden des folgenden Tages kehrte ich allein nach La Berarde zurück, um das letzte Lager aufzuheben und Abschied zu nehmen. Und als ein neuer Morgen begann und die ersten Sonnenstrahlen die höchsten Gipfel verklärten, fuhr ich talaus. Morgenstille lag noch über dem stillen St-Christoph-en-Oisans. Hier hielt ich inne. Hinter der Kirche trat ich durch ein Eisentor zum Friedhof. Jene Bergsteiger wollte ich grüssen, die ihr Leben den Bergen gegeben, die ich beschritten und nun verliess. Blumen legte ich auf Führer Gaspards Grab, die sein Sohn, der Hüttenwart, im Vénéontale gepflückt. Und dann fuhr ich der Heimat zu.

Bemerkung. Ich kenne zwei Führer über die Alpen des Dauphiné: 1. « Dauphiné-Führer » von W. A. B. Coolidge, H. Duhamel und F. Perrin, herausgegeben vom österreichischen Alpenclub. 2. « Les Alpes du Dauphiné », von E. Gaillard, in zwei Bänden. Der letztere behandelt die Gebiete eingehender und, wie mir scheint, genauer. Zudem enthält er zahlreiche, nützliche Wegskizzen. Die normalen Besteigungszeiten sind darin eher zu kurz angegeben, die Schwierigkeitsgrade aber nirgends übertrieben. Als topographische Karte haben wir die von Duhamel benützt: « Cartes du Haut-Dauphiné », 1: 100 000. Die einzelnen Blätter sind in gefälligem Taschenformat zum Buche geheftet. Noch eingehendere Auskunft kann man von den Führern im Dauphiné erhalten, deren äusserst freundliches und zuvorkommendes Benehmen auch Führerlosen gegenüber hervorsticht. Viel Gutes haben sie von ihren Vätern in die neue Zeit herübergenommen. Sie haben Humor, klettern wie Katzen und laufen gleich Gemsen. Keinen sah ich an der Arbeit mit Kletterschuhen oder Steigeisen, auch bei schweren Fahrten tragen sie nur den guten, altbewährten Kappennagelschuh.

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