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Bergwild

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Von Frifj Hutjli.

Du triffst auf der Lichtung im Bergwald ein äsendes Reh. Gleich darauf kommt aus der hintern Waldecke eine Gemse. Einen Augenblick steht sie sichtend da, dann geht sie ohne viel Federlesens mit den Hörnern auf das Reh los und jagt es fort. Dann erst fängt auch sie an zu fressen. « Das ist jetzt aber ein rabiates Biest », denkst du dir und gehst damit über die Sache hinweg. Aber da steckt mehr dahinter. In diesen beiden Tieren sind dir zwei verschiedene Zeitepochen der Erdgeschichte begegnet, und die Antipathie, die der ältere Bruder gegenüber dem neuem Eindringling empfindet, geht zurück bis auf dié Eiszeit.

Als damals die Eisströme aus den Alpen vorrückten, über Luzern eine Mächtigkeit von 1000 m erreichten, in Basel immer noch eine Dicke von 300 m aufwiesen und hineinragten bis nach Süddeutschland, rückten natürlich auch von Norden her die Eismassen vor. Sie mochten nicht ganz zusammen, die vom Pol und die von den Alpen. In dem freien Raum, den sie zwischen sich freiliessen, drängte sich die ganze Tierwelt zusammen. Als sich die Gletscher später wieder zurückzogen, wurden die Tiere vor die Wahl gestellt, welchem der beiden Gletscherenden sie folgen sollten. Das Renntier und der Moschusochse entschieden sich für die Seite des Nordpols. Die Gemse aber, der Steinbock und das Murmeltier wandten sich den Alpen zu. Das Klima wurde milder, die weiten Tundren begannen sich mit Wald zu bedecken. Das bedeutete für das Mammut den Tod, denn der Wald nahm ihm seine Bewegungsfreiheit. Für die andern Tiere aber bedeutete es zum mindesten neue Bedrängnis. Denn mit dem Wald kam eine neue Gruppe von Tieren — der Edelhirsch, das Reh, der Dachs samt dem Fuchs, der Bär — sie alle drängten mit dem Walde vor und engten die alten eiszeitlichen Tiere immer mehr zwischen Gletscherrand und Waldsaum ein, und wenn du da die Gemse auf das Reh hast losgehen sehen, so war das mehr als widerborstige Unhöflich-keit da wehrte sich ein Vertreter einer zurückgedrängten, zwischen Wald und Gletscher eingeklemmten Tierwelt gegen einen Vertreter der nachrückenden Bedränger — der alt angestammte Herr des Gebietes gegen den fremden Eroberer, der Indianer des wilden Westens gegen den weissen Ansiedler.

Wenn du das einmal weisst, dann gehst du mit ganz anderen Augen in die Berge, vielleicht auch mit ganz anderem Herzen, mit einem Herzen voll Mitgefühl mit dieser Tierwelt am obersten möglichen Lebenssaum. Denn noch weiter hinauf zurückweichen als bis an den Rand des Gletschers können sie nicht — weiter oben käme unweigerlich nur noch eines: der Tod! Und dass da jeder denkende und fühlende Mensch von selber dazu kommt, eine schützende Hand auszubreiten über dieses Tierleben der Berge, ist nur natürlich. Und nun wollen wir diesen Tieren einmal zusammen etwas nachgehen vielleicht zuerst den Die Alpen — 1936 — Les Alpes.10 Gemsen.

Viele Leute haben mir schon geklagt, wenn sie in die Berge gingen, sähen sie keine Gemsen. Das ist sehr begreiflich, denn die beste Regel, um Gemsen zu finden, ist die, dass man sie nicht da sucht, wo sie nicht sind, sondern eben da, wo sie sind. Du wirst also nicht ins Wallis gehen, wo sozusagen alles abgeknallt ist, sondern in unsere speziellen Wildschutzgebiete, wie z.B. in das Kiental im Berner Oberland. Und nicht mit einer ganzen Gesellschaft, deren Geschnatter den stillen Bergwald füllt; auch nicht um die Mittagszeit, sondern am Morgen früh, wenn die Sonne kommt, oder am Abend, denn über Tag liegen die Tiere im Steingeröll oder unter Balmen am Schatten und sind äusserst schwer zu unterscheiden. Und dann merke dir noch eins: über Gräte und Bodenwellen, die dir den Ausblick über ein neues Stück Gelände freigeben, gehe immer nur langsam, gebückt oder kriechend, aber nie aufrecht mit dem stolzen Bewusstsein: Alle Welt stehe still und staune, hier kommt Christen Binggeli 1 Sonst verjagst du die Tiere nur, und das ist doch schade. Denn der wahre Reiz besteht darin, in ihrer Nähe zu liegen, ohne dass sie etwas von uns ahnen, und ihnen zuzuschauen in der ganzen Natürlichkeit ihres ungezwungenen Seins.

Im Herbst ist 's noch fast am günstigsten, wenn langsam ihre Brunstzeit naht und sie für nichts mehr Auge haben als für ihre Rivalen. Da weidet so einer 200 m von dir auf einem grünen Bödelein. Plötzlich schiebt er ab, lautlos verschwindet er im Wald. Warum auch? In zwei Minuten bist du informiert... da kommt in kurzem, abgehacktem Setzgalopp von oben ein grosser schwarzer Bock herab. Nun steht er auf dem grünen Bödelein, ist ganz verdutzt, dass es jetzt leer ist... schaut da zwischen den Steinen herum, geht unten der Fluh nach und sucht den andern. Plötzlich erspäht er ihn... dort drüben am Waldspitz. Aber auch der andere hat ihn gesehen, der Jüngere. Er wird von früher her den alten Herrn kennen, und ohne weitere Komplimente macht er sich aus dem Staube — der Alte ihm nach. Eine atemraubende Hetze geht los, über Gräben, über Grasschöpfe, durch Fluhbänder, mit einer fabelhaften Schnelligkeit und Sicherheit über die schwindligsten Wandpartien, dass dir schon vom blossen Zuschauen fast Hören und Sehen vergehn. Der Alte gibt schliesslich die Verfolgung auf und kehrt langsam als Sieger zurück... der Rivale ist aus seinem Gebiet verjagt. Und wenn du Glück hast, bekommst auch du noch Besuch. Die Quaste deiner Zipfelmütze weht im Gratwind und schaut hinter deinem Felsblock hervor, und diese wehende Quaste fällt dem zurückkehrenden Bock auf. Die Neugier, die allen Gemsen in höchstem Masse eigen ist, wird geweckt. Dazu kommt die Kampflust, die hier einen neuen Rivalen vermutet, und nun kommt er heran, in paar kurzen Sprüngen, dann bleibt er wieder ein paar Augenblicke stehen. Jetzt ist èr vor dir auf sieben, acht Meter. Was für ein Prachtskerl I Diese Hörner, elegant zurückgebogen, auslaufend in eine Spitze, die einem Dolche nichts nachgibt... wenn die von unten her losziehen, dann kann mit einem einzigen Ruck ein ganzer Leib aufgerissen werden! Dieser fest zugekniffene Mund, diese dunkelbraunen, energisch blickenden Augen und über den ganzen Rücken nach hinten laufend diese Reihe langer Grannenhaare, aus denen sich der Tiroler seinen « Gamsbart » zusammenbindet. Und dann diese Beine, fein und doch stahlhart. Jetzt hebt er seinen rechten Vorderfuss und klopft damit ein paarmal hintereinander fest auf die Erde. Ach so, du bist zornig, du ärgerst dich? Nicht zum Verwundern, wenn man immer so ein wehendes Quastchen sieht und nicht recht weiss, was es ist! Die Sekunden, in denen das Tier so vor dir steht und dein Auge durch eine Ritze hindurch in das seine taucht und das ganze Bild dieses edlen wilden Geschöpfes in sich aufnimmt — diese Sekunden werden dir zu Stunden was wird er tun, kommt er noch näher? Jetzt ist 's, wie wenn aufs Mal ein unsichtbarer Berggeist neben ihn hinträte und ihm eine gewaltige Ohrfeige versetzte es wirft ihm den Kopf nur so auf die Seite, das ganze Tier fliegt ihm nach, und in riesigen Sprüngen, völlig langgestreckt, rast es die Berglehne hinab und taucht in den Bergwald ein. Jetzt ist 's verschwunden. Ja, aber — was ist denn los gewesen? Warum auch dieser plötzliche Umschwung? Der Wind trug ihm auf diese nahe Distanz deinen Geruch zu, und damit war alles aus. Damit ist aus dem freien stolzen Geschöpf der einsamen Eiszeit die bedrängte, verfolgte, fast ausgerottete Kreatur der spätem Zeit geworden, die im Banne der Furcht steht — im Banne der Furcht vor seinem grössten Feind... dem Menschen. Was bedeuten dem gegenüber die Unbilden der Witterung! Die langen Regentage, in denen das Rudel trübselig beieinander steht und in denen sich bald das eine, bald das andere die Regentropfen aus dem Fell schüttelt — wie ein Hund, der aus dem Wasser kommt. Was bedeuten die Lawinen, die im Winter sie durch die Gräben hinab in die Tiefe reissen; was bedeuten die eiskalten Nächte, die jedes isoliert verbringt ( sie schmiegen sich nie so aneinander, wie etwa die Schafe es tun ) I Was bedeutet die Gefahr durch den Adler... da machen sie höchstens, dass sie aus der Zone der steilen Felswände, in der sie durch Flügelschläge über die Fluh hinauszustürzen wären, herauskommen und ein Stücldein ebenen Boden unter den Füssen haben — da sind sie mit ihren Hörnern jedem Adler gewachsen. Aber der Mensch, der ist ihr Grauen. Aus diesem Banne der Furcht können sie sich nicht lösen. Und wenn er hundertmal ihr Freund wäre, sie wissen das nicht. Wenn sie ihn sehen, das ist noch eins. Aber wenn sie ihn riechen, dann greift ihnen der Todesschreck an ihr zitterndes Herz, der Todesschreck, den Jahrtausende menschlicher Jagd und Erbarmungslosigkeit in ihrer Brust aufgezogen haben, ein Schreck, der keine Gemse normal deine Fusspur im Schnee kreuzen lässt — nein, mit allen Vieren nimmt sie einen hohen Flug über diese Spur hinweg, wie wenn sie flüssiges Feuer wäre! Es gibt nur eines, das den Bann dieser Furcht durchbricht, und das ist die Macht der Liebe. Die Liebe ist stärker als alle Furcht. Die Liebe zum Kind — die Mutterliebe. Ich war einmal dabei, wie Gemsen vor uns in ein Fluhband hineinflohen, das aber nach 100 m in eine furchtbare steile Platte über schwindelndem Abgrund ausmündete, über die nur ganz kräftige und ausgewachsene Tiere hinaufmögen, oft auch sie noch ausrutschend und über die Fluh hinunter zu Tode fallend. Vielleicht 40 Stück rasten über das Fluhband hinein. Als die Platte kam, setzten 10 hinauf. Das andere waren Muttertiere mit kleinen Kitzlein. Diese Muttertiere versuchten es nicht einmal, über die Platte hinaufzukommen. Sie wussten: für unsere Kleinen ist das aus- BERGWILD.

sichtslos. Was machten sie? Sie jagten denselben Weg zurück auf den Menschen zu, der am Anfang des Fluhbandes stand, also für ihren Begriff direkt dem wartenden Tod in die Arme. Mit weit offenen Mäulern, mit heraushängenden Zungen und Todesangst im Blick kamen sie daher, das Kleine immer dicht hinter der Mutter, und vorn, neben dem Menschen durch, schwenkten sie ab, in gängigeres Terrain unter die Fluh. Da verstand ich, was das heisst: Sei getreu bis an den Tod auch als es ihr Leben galt, haben sie ihrem Kind die Treue nicht gebrochen. Die Liebe war die Siegermacht, die auch den Bannkreis der Furcht durchbrach.

Wie gut ist 's, dass das Leben reich ist auch über ihnen und sie andere Tage auch wieder erleben lässt, goldne Frühlings- und Sommertage, wo die Alten herumliegen und die Jungen nach Herzenslust spielen können. Sie rutschen über die Schneehänge hinab, sie tollen in närrischen Kapriolen umeinander herum, necken sich und laufen schnell fort, suchen einander mit den kurzen Hörnchen niederzuringen oder mit der Wucht des niederfallenden Körperchens zu Boden zu springen, und erst, wenn der letzte Abendschein am Grat verglüht, lassen sie sich zwischen den sonnenwarmen Steinen nieder zur stillen Rast.

Wenn du einmal den Tieren hier oben selber nachgegangen bist, dann begreifst du langsam, warum unsere Bergbewohner immer wieder sagen: Die Gemse ist das schönste Tier, ein tapferes, unverzagtes, zähes, trotzig-wildes Geschöpf. Wenn du eines fangen wolltest, du könntest noch deine Heiligen erleben! Das gibt 's nämlich, man kann Gemsen fangen, und zwar mit Salz... Man nimmt ein Hämpfeli Salz, streut es der Gemse auf den Schwanz, und dann hat man sie! Doch Spass beiseite — Salz ist wirklich das beste Mittel. Fast auf jeder Alp gibt es kleine Käsespeicher, oft in einer kleinen Waldlichtung nebenaus versteckt. Die Speicher sitzen nicht direkt dem Boden auf, sondern stehen auf Pfosten oder auf einem Mäuerlein, so dass unter dem Speicher ein Hohlraum entsteht. In diesen Hohlraum sickert Salzwasser aus den aufgespeicherten Käsen des obern Gelasses, und wenn die Gemsen das merken, dann kriechen sie unter den Speicher, um das Salz zu lecken. Wenn du nun Wildhüter bist und hast den Auftrag, für irgendeinen Tierpark eine Gemse zu fangen, dann kann die Geschichte nett werden. Bevor du aus dem Waldrand auf die Lichtung hinaustrittst, bleibst du einen Augenblick sichernd stehen... Schau, kommt dort nicht eine Gemse unter dem braunen Speicherlein hervorgekrochen? Jetzt steht sie auf, plustert sich das Fell zurecht und geht dem Wald zu in den jenseitigen Graben hinunter. Wo eine ist, könnten andere auch sein... aber nun schnell, bevor der Wind dich verrät und die Gemse, die draussen ist, mit ihrem warnenden Pfiff dir die andern aufschreckt! In grossen Sätzen überquerst du die Lichtung und stellst dich vor das 2 m breite Loch im Grundmäuerlein des Speichers. Wahrhaftig, da unten bewegt sich etwas — 3 Stück sind da! Aber jetzt geht der Tanz los, sie wollen heraus. Glücklicherweise können sie nicht ganz aufrecht stehen, so dass sie ihren Angriff nicht mit der ganzen Wucht des vorwärtsgeschnellten Körpers ausführen können. Kommt eine, so wirfst du sie zurück, immer auf schärfster Hut vor den Hörnern. Ist sie zurückgeworfen, hält sie sich einen Augenblick still, aber derweil hast du mit der zweiten, mit der dritten zu tun. Immer und immer wieder greifen sie an. Was machst aber du, ewig kann das nicht so fortgehen! Nun kommt dir etwas in den Sinn: in den kurzen Pausen, wo du nicht abwehren musst, ergreifst du die herausgefallenen Steine dieser Mauerlücke und baust sie wieder auf, fügst sie wieder ein, das Loch wird kleiner und kleiner, und nach zwei Stunden wischest du dir den Schweiss von der Stirn: jetzt sind sie drinl Nun bleibt dir nur noch eines: schnell Hilfe holen und Kisten her, in die man die Tiere stecken kann. Wenn das alles auf dem Platz ist, kommt noch der Schlusseffekt... du brichst ein Stücklein der Mauer wieder aus und kriechst nun hinein zu den Tieren. Eins nach dem andern musst du zu überwältigen suchen und es durch das Loch hinausgeben. Wenn du ohne ernstliche Wunden und nur mit zerfetzten Kleidern wieder da herauskommst, kannst du von Glück sagen, und die Purzelbäume, die noch folgen, nimmt man gern in Kauf. Denn die Tiere halten sich natürlich in der Kiste nicht bockstill. Sie schnellen darin auf und nieder, und wenn die Kiste nun auf ein Räf geschnallt ist und hoch über deine Schulter hinausragt, dann bringt dich so ein unverhoffter, schnellender Stoss gar leicht aus dem Gleichgewicht, so dass du zuletzt deine hundert Franken vom gefangenen Tier ehrlich verdient hast.

Wenn nur für die Tiere jetzt nicht diese elende Gefangenschaft käme, in der sie langsam dahinserbeln — immer noch wild, nie kommen sie zum Gitter, um dir etwas aus der Hand zu fressen, arme Kreaturen, entthront, geschändet, der Freiheit beraubt! Wenn sie wünschen könnten, ob sie nicht diesem elenden Dasein den Tod durch eine Büchsenkugel vorzögen, eines Morgens, in der Heimat, wenn der Herbstschein über den Bergen liegt und der goldene Ahorn glüht? Vielleicht hätte ihm der Wind ein leises Fetzelein eines Geruches zugetragen, der den gewöhnten, alltäglichen Gerüchen dieser oder jener Kräuterart nicht gleicht. Noch wüsste er nicht, was es sein könnte, aber vorsichtig würde er sich aus seiner liegenden Stellung aufrichten, um auf alle Fälle gerüstet zu sein. Und nun ist 's geschehen, das unsäglich Fremde dass ein harter Knall durch die Flühe peitscht und zugleich ein stechender Schmerz sein Herz zerreisst. Weiss nicht, was es ist, aber fort, nur fort! Wie ein Pfeil von der Sehne schnellt, setzt er an zum Sprung, wird noch hundert Meter dahinstürmen mit seinem Herzschuss und dann das erstemal in die schwach werdenden Knie sinken. Noch einmal auf und weiter, dann verlässt die Kraft ihn wieder... immer wieder rafft er sich auf und fällt doch von neuem, bis er endlich still liegt zwischen den Steinen, die seine Heimat waren und die nun sein Totenbett werden. Noch einmal umfängt sein brechender Blick die Bergheimat, und dann kommt der Tod und zieht den grauen Flor leise über die braunen Augen...

Ein greller Pfiff, ein blitzschneller Schatten — und still und einsam liegt der Felsblock wieder da in glastender Sonne. Seltsam, irgend etwas schien vorhin doch noch da zu sein? Gewiss, aber es hat dich schon gesehen und ist nun verschwunden, das Murmeltier.

Aber nur Geduld. Leg dich einfach hinter den nächsten Stein und warte ab! Du darfst sogar deine Pfeife weiter rauchen, denn vom Aufenthalt in der stickigen Höhlenluft ist der Geruchsinn deines Freundes schon erheblich rampo-niert worden. Wenn es nichts von dir sieht, wird dich das Murmeli schon nicht merken. Denn allerdings, sein Auge ist unheimlich scharf, es erfasst die kleinste Bewegung, die.geringste Veränderung im Landschaftsbild. Stelle eine Steinplatte schräg auf und schaffe dir damit eine Deckung für den Kopf, lass irgendwo eine Ritze frei, durch die du hinausschauen kannst, und nun ergib dich einfach dem Dolcefarniente! Bist du, als es dich sah, direkt auf seine Höhle zugegangen oder war das Tierlein schon voll gefressen, dann kannst du schon deine geschlagene Stunde oder zwei warten, bis du wieder etwas von ihm siehst. Ist es aber noch früh am Tag, knurrt sein Magen noch oder bist du nur neben der Höhle vorbeigeschlendert, so dass es die Meinung bekam, du interessierest dich nicht speziell für es, dann geht 's kaum 10 Minuten. Schau, schon kommt ja sein Kopf unter die Haustür, um zu schauen, ob die Luft wieder rein ist. Der Kopf, mehr nicht. Unbeweglich ist er da, vier, fünf Minuten, und nichts hat Leben an diesem Kopf als die kleinen, braunen Augen die alles sehen, auch wenn sie scheinbar gar nicht auf dich gerichtet sind. Aber du hältst dich still. Und da drängt schon ein Junges neben der Alten durch zum Loch heraus, und bald ein zweites, ein drittes. Sie fangen an, sich zu balgen, sie kugeln herum, raffeln an den Blütenstauden neben dem Eingang — nur den blauen Eisenhut, der als herrlicher Torwächter kerzengerade über dem Loch steht, den lassen sie unberührt. Und nun kommen auch die Alten, um ihr unterbrochenes Frühstück wieder aufzunehmen. Sie grasen an der Berglehne, heben ab und zu den Kopf. Dann liegt der Herr Papa in der Nähe der Höhle und hält Siesta. Alle Viere streckt er von sich, in seinem bräunlichen Pelz ein recht wohlgenährter, würdiger Herr. Aber was ist das? Kannst du deine Beine nicht still halten? Hat die Frau Mama dort drüben auf ihrem Stein eine Ecke von deinem Ellenbogen gesehen? Item, sie setzt sich auf und pfeift. Die Vorderpfötchen hält sie auf dem feisten Bäuchlein, und allemal, wenn der Pfiff aus ihrer Kehle kommt, wackelt das Bäuchlein und die Tälplein drauf — ungefähr so, wie wenn ein gottergebener Rentier nach dem Mittagessen einen Hustenanfall kriegt und dabei sein Wänstchen hält. Zwei, drei Pfiffe, und schon ist die ganze Haushaltung verschwunden.

Nun, jetzt kannst du auch gehen, viel mehr wirst du ja sowieso nicht sehen können. Höchstens noch hättest du 's treffen können, wenn der Adler kommt. Da und dort fressen die Murmeli zwischen den Steinen, es ist ein Hin und Her, viel Leben in der ganzen Kolonie, aber plötzlich schreckst du auf. Eines pfeift, aber das ist nicht mehr der gewöhnliche Pfiff, das ist ein ganz eigentümlicher Schrei wie aus den tiefsten Tiefen einer lebendigen Urangst, und ehe du dich versiehst, ist alles leer. Alles hat sich geflüchtet, mit unglaublicher Geschwindigkeit sind die grasenden Tierchen ihren Höhlen zugerannt und darin verschwunden. Und wie du nun den Kopf hebst, siehst du die Ursache... ein Adler zieht vom Grat her in weiten Schleifen über die Alp. Der hat die Todesangst und den seltsamen Schrei ausgelöst. Auf einem Felsblock setzt er einen Augenblick ab, dann reckt er die Schwingen und entschwindet den Blicken... wenn heute nicht, dann vielleicht morgen — mein Hunger bleibt!

Oder wenn es ein schöner Septembertag gewesen wäre, hättest du vielleicht noch sehen können, wie die Murmeltiere heuen. Ein Hämpfeli Gras, so gross wie eine Kinderfaust, nehmen sie in ihr Maul und tragen es in die Höhle. Hier machen sie sich damit ihre Lagerstatt zurecht, auf der sie dann den Winterschlaf verbringen und von der sie im Frühjahr fressen, wenn sie erwacht sind und ringsum noch alles im Schnee liegen sollte. Die bekannten Märlein über dieses « Heuen » schick nur ruhig ins Reich der Fabel dass eines sich auf den Rücken lege, alle Viere in die Höhe strecke, dann von den andern mit Heu beladen und am Schwanz in die Höhle hineingezogen werde als lebendiges Heufuhrwerk! So etwas existiert nur in Stubenhirnen oder im lächelnden Jägerlatein von Sennen, die den Städtern gern einen Bären aufbinden.

Wärest du aber noch später im Herbst bei ihnen dort oben gewesen, so um Mitte Oktober herum, dann hättest du noch ein Letztes sehen können. Schwer und immer schwerer hat es ihnen in den letzten Tagen in den Gliedern gelegen, auch der goldigste Herbstsonnenschein hat sie nur noch selten aus dem Bau zu locken vermocht, und dann kommt der Tag, wo sie den Gang zu ihrer Behausung schliessen. Denn Schnee und Kälte sollen hübsch aussen bleiben den langen Winter lang. Einen Augenblick vorher haben sie sich beim Eingang noch gehörig entleert, wodurch auch sehr viele Würmer abgegangen sind... eine sehr weise Einrichtung, denn der verwesende Darminhalt würde sonst während des langen Winterschlafes Vergiftungserscheinungen hervorrufen können. Nun wird also der Eingang mit einem ca. 20 cm langen Pfropfen aus Erde, Steinen und Grasmutten verstopft. Dann ziehen sich die Tiere in eine Ausweitung des Ganges — ihren Kessel — zurück und rollen sich hier zum Winterschlaf zusammen, einem Schlaf, dessen Tiefe vom Mondwechsel abhängt im aufgehenden Mond ist der Schlaf leise, so dass sie erwachen würden, wenn etwa ein Wilderer ihren Kessel aufgrübe, aber beim abnehmenden Mond schlafen sie tief und fest, auch wenn die Pickelschläge über ihnen hart in dem gefrorenen Boden auftönen würden.

Der Gang, der zum Kessel führt, geht zuerst schräg abwärts, dann aber wieder aufwärts. Würde er ständig schräg abwärts führen, so könnte im Frühling das Schmelzwasser ganz einfach in den Kessel hinablaufen und die ganze Familie würde verfaulen. Warum es dem Gang wieder die Aufwärtsrichtung gibt — davon hat ja gewiss das Murmeltier keine Vorstellung, es macht es einfach, weil es so in es gelegt ist. Da kann auch an einem so einfalten Tierlein, wie es diese grosse Schlafmaus ist, in uns etwas erwachen von der Ehrfurcht vor dem Schöpfer, der jedem seine Art und seine Lebensmöglichkeit gab.

Ei, der tausend, das gäbe ein Bild! Über die Bergmatte bist du herabgekommen, am lauter hellen Tag, kommst hinein in ein Wassergräblein, und was steht da dreissig Meter vor dir?

Ein Reh!

Wahrhaftig, ein Reh. Es beugt sich herab zum Wasser, hinter ihm ist ein grosser, beschatteter Felsblock, und allemal, wenn es sichernd den Kopf hebt, dann tropft es eine Weile wie flüssiges, gleissendes Silber aus seinem Mäulchen — all die Wassertröpflein, in die vor dem dunklen Hintergrund die strahlende Sonne scheint! Einmal schaut es dich an, wie du da ohne irgendwelche Deckung auf den Weideboden dich niedergekauert hast... aber es sieht dich nicht, denn ihm würde nur die Bewegung auffallen, und du hältst dich ja ganz still. Gleich darauf senkt es seinen Kopf wieder und trinkt in langen, durstigen Zügen. Dann verschwindet es dem Wasserlauf nach im Steingeröll der Höhe. Was bist du doch für ein feines, zartes Geschöpf lein I Freilich, du bist Ausländer hier oben, du kamst mit dem Wald, und wenn dich die Gemsen da oben treffen, dann jagen sie dich zurück, aber feineres Kind als dich hat der Wald keines. Fein und scheu. Mit unendlicher Vorsicht schiebt sich am frühen Morgen — es ist noch der zeitigere Frühaufsteher als die Gemse — der zarte Körper aus dem schützenden Wald hervor. Aufmerksam drehen sich die Ohren nach allen Richtungen diese Ohren, die sein hilfreichster Freund sind, ihm noch bessere Dienste leisten als seine Augen: das leiseste Geräusch erfassen sie, das blosse Herabwirbeln eines dürren Ahorn-blattes verursacht schon einen jähen, erschreckten Seitensprung, aus dem die eilige Flucht werden kann. Bleibt vielleicht am Waldrand noch einmal stehen, schaut zurück, stösst den seltsamen Schrei aus, der so gar nicht zu dem zarten Tierlein passt und wie ein heiseres Hundegebell klingt. Aber Augen hat das Tierlein, Augen, diü j*och im Sterben dich unendlich traurig, wehmütig, fragend ansehen — ganz anders als der wilde, energische Hasser-blick, den das brechende Auge der sterbenden Gemse auf dich wirft. Waffe hat dieses Tier eigentlich keine... Fliehen, das ist seine einzige Möglichkeit, um sich zu retten.

Aber wie, wenn so ein zierliches Rehkitzlein auch zum Fliehen noch zu klein und schwach ist, dann ist es ja gänzlich schutzlos allen Gefahren preisgegeben? Doch sieh, was der Schöpfer auch diesem wehrlosesten aller Berggeschöpfe mitgegeben hat! Weisse Flecken hat er gesät auf sein braunes Fell. In der beigegebenen Photographie siehst du sie gut, hier, wo es auf dem Arm des Holzers ist. Duckt es sich aber ins Gras, dann siehst du von ihm sozusagen nichts mehr. Jeder Grashalm am Boden hat seine beleuchtete und seine beschattete Seite, hell und dunkel wechseln da ab genau so wie auf seinem gesprenkelten Fell helle und dunkle Stellen abwechseln, so dass sich das Tier von seiner Umgebung überhaupt nicht mehr abhebt. Ist es einmal grösser, kann es sich mit Springen retten, dann vergehen ihm die Flecken von selber wieder, weil es sie nicht mehr nötig hat. « Von selber » sagen wir und denken dabei doch im stillen an die Güte des Schöpfers, der auch an die Schwachen denkt — diese Güte, die auch die ganze Not des Lebens durchzieht und in der vielen Not so oft wie ein fremdes Rätsel empfunden wird.

Denn freilich, Not gibt es viele für das Reh. Wenn der Schnee im Walde meterhoch liegt, unter den Tannen nicht gefrieren kann, dann hörst du oft von den Berglehnen herab den Schrei des hungrigen Rehs. Seine Hufe sind zu klein, um es über den Schnee tragen zu können, es sinkt ein und immer wieder ein, hat nicht die stählerne Elastizität der Gemse, um lange durch den tiefen Schnee waten zu können. Und dann kann es geschehen, dass du eines Morgens am Waldrand in der Frauenweid ein noch warmes, verendetes Rehkitzlein neben seiner toten Mutter findest und weisst: sie haben sich noch hieher geschleppt vor drei, vier Tagen. Die erschöpfte Mutter starb. Und dann ist das Kleine um sie herum gegangen, hat sie mit dem warmen Naschen gestossen: Du, Mutter, beweg dich doch! Steh doch auf!... Hat sich an sie geschmiegt. Aber keine Wärme kam mehr von diesem schützenden Leib, es wurde alles so fremd und starr und unheimlich. Und ringsum die drohende Welt, in der Ferne das Gekläff eines hungrigen Fuchses was soll ich auch machen? Zu meinem Mütterlein gehöre ich doch, wo sollte ich auch sonst hin? Und da trippelt es drum herum, Nacht und Tag und Tag und Nacht — und endlich, als der dritte Morgen graut, fällt sein fahles Winterlicht über ein Geschöpf lein, das in der Kälte der Nacht für immer erstarrt ist... verhungert, erfroren neben der toten Mutter. Da hast du etwas gesehen vom Leid der Kreatur, und die Worte jenes Mannes mit dem unendlichen Tiefblick in den Grund alles Seins kommen dir in den Sinn: « Wir wissen, dass alle Kreatur sehnet sich mit uns und ängstet sich noch immerdar; aber auch die Kreatur soll frei werden zur herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. » Wie gut, dass über ihnen und uns dieselbe Hoffnung und Verheissung leuchtet!

Und jetzt hättest du noch ein Letztes gerne gesehen:

Adler!

Nicht nur so aus der Ferne, wie damals über den Höhlen der Murmeltiere... nein, von nahem! Gut, komm mit!

Der Morgen graut, da wir durch den Bergwald hinaufsteigen. Der Weg hat aufgehört, nur ein Gemsweglein führt unten an der Fluh durch und schwingt sich plötzlich an einer weniger senkrechten Stelle zwischen Flühen empor über Steinsätze und Rasentritte. Nun geht 's durch Krummholz und Alpenrosenstauden zur obern Kante der gelben Fluh, von der man so schön hinaus ins Tal sieht. Aber nähere Aussicht lockt uns heute! Ganz still, den Fuss nur in schwellendes Moospolster absetzen! Schau, dort zur Tanne hinüber müssen wir, die auf der Gratkante ihre Wurzeln eingeschlagen hat. Einen halben Meter wächst sie waagrecht hinaus in den Abgrund, und erst dann reckt sie ihren kurzen, gedrungenen Stamm aufrecht zur Höhe. Auf diesen « Schlit-tenkrump » wollen wir hinaustreten, dann können wir hinunterschauen zum Die Alpen — 1936 — Les Alpes.11 Horst. Nun sind wir da — leise, leise — jetzt stehst du draussen. Halt ihn nur fest umschlungen, den Tannenstamm! Er ist ja freilich kein molliges Liebchen, aber desto ungenierter darfst du zugreifen und musst es auch, denn unter dir ist jetzt Luft. Hundert Meter tief ist der Abgrund, unten mit nettem Geröll, das für einen Körper eine richtig gehende Fleischhackmaschine abgeben würde. Ach bah, dummes Zeug, das da unten geht uns jetzt gar nichts an, wir wollen viel näher schauen 1 Siehst du in der obern Mitte der Fluh den Felsvorsprung mit der krüppeligen Erde, die da kümmerlich aus dem Stein heraus wächst? Und auf dem Vorsprung liegen dicke und dünne Äste, Erdschollen dazwischen gestopft, deren Gras noch lustig weiter wächst — und jetzt: Hast du aber Glück! Jetzt siehst du auch den alten Adler, der vor seinen beiden Jungen hockt und langsam Stück für Stück aus einem Steinhuhn reisst, das er vor sich in den Fängen hält. Zum Morgenfrühstück hast du 's getroffen... herrlich! Wie das Fleisch verschwindet! Immer wieder sind die Jungen fertig, immer wieder reisst ihnen die Alte Stücke aus dem Steinhuhn.

Die Kinderchen sind schon recht gross — unser Kompliment, Frau Mama! Vom weissen Kleid der ersten Jugend, aus dem die schwarzen Federspitzen herausschauen würden, ist schon nichts mehr zu sehen. In knapp einer Woche werden sie fliegen können. Sie sind braun, mit starkem Schwanz, dessen wunderschöne Zeichnung voll heraustritt, als sie sich nun nach beendetem Mahl wohlig ausgereckt an den Felsen schmiegen und dabei die Federn fächerartig ausbreiten. Auch wir da oben würden es nicht verschmähen, uns irgendwo an einen Ofen heranlassen zu können, denn es wird frisch da in der luftigen Höhe. Ein leichter Morgenwind weht, es friert dich an die Finger, du rutschest etwas auf dem Stamm herum — o weh, nun ist 's geschehen! Ein kleines Stücklein Rinde hat sich gelöst und sinkt nun kreiselnd langsam in die Tiefe. Nun wird 's aus sein! Jawohl, es ist aus! Wie das Rindenstücklein am Horst vorüber in die Tiefe wirbelt, wird die Alte aufmerksam. Von selbst fliegt keine Rinde in der Luft herum, etwas muss sie gelöst haben! Sofort breitet sie die Flügel aus und gleitet waagrecht hinaus ins Leere; ein Flügelschlag, eine kleine Schräg&tellung des Schwanzes, und sie ist schon in gleicher Höhe wie du. Eine halbe Sekunde später fliegt sie 10 Meter höher über deinen Kopf hinweg. Dunkel huscht ihr Schatten über dich, über die besonnte Fluh, dort über die Heidelbeersträucher... unwillkürlich ziehst du den Nacken ein. Denn wenn du sonst gedacht: « König der Lüfte»__ das sei nur so eine dichterisch übertreibende Phrase, so weisst du es in diesem Augenblick besser. Denn es ist wirklich etwas Gewaltiges, etwas Majestätisches, etwas Furchteinflössendes in diesem mächtigen Tier und besonders jetzt, wo du so prekär auf der Tanne draussen stehst und mit ein paar Flügelschlägen gar nicht so schwer in den Abgrund zu befördern wärest.

Aber keine Angst. Die Zeiten sind vorbei, wo in Aris draussen ein Lämmergeier einen Knaben überfiel und fortzuschleppen suchte. Die Lämmergeier sind ausgestorben. Unsere Steinadler sind kleiner und sind dabei so wild und scheu, dass sie nicht um ihre Jungen kämpfen. Die Alte ( von einem Herrn Papa sieht man überhaupt meist nichts bei der Aufzucht der Jungen ) fliegt weg, und du siehst sie den ganzen Tag nicht mehr. Nun könntest du doch hinunter zum Horst! Freilich, eine Marmortreppe wird wohl kaum für dich gebaut werden, aber deine Gefährten sind doch bei dir. Und zwei lange Seile habt ihr ja auch. Also los, es wird abgeseilt. Nimm dein bisschen Mut aus dem Sack und lass dich hinunter ins Leere, genau senkrecht über dem Horst. Es geht besser als du gedacht, und bald fühlen deine Füsse wieder etwas Festes unter sich. Du bist auf dem Fluhabsatz. Die Wand, die Erle, die Knüppel, alles ist von der Losung der Tiere wie weiss bekalkt. Die Jungen haben sich in die äusserste Ecke geflüchtet, ganze zwei Meter weit — so gross ist die Welt hier oben! Eines duckt sich, das andere steht aufrecht. Du kitzelst eins mit einem Rütchen. Da breitet es die Flügel weit aus, macht einen Buckel wie eine Katze, reisst den gelben Schnabel auf, dass die rote Zunge bis weit in den Schlund hinein sichtbar wird, und kommt ein paar Schritte auf dich zu wie der leibhaftige Satan! Das andere duckt sich nur tiefer, auch wenn du es kitzelst. Es wird wohl das Weibchen sein — aber nur vermutlich, denn bei den Menschen wäre es doch umgekehrt: da fahren beim Gusein die Weibervölker meist hitziger auf als die Männer! Doch ich will nichts gesagt haben. Stehst oder kauerst du dann still im Nest, dann sitzen auch die jungen Adler still, schauen ins Tal hinab als richtige stoische Philosophen und tun, als wenn du gar nicht da wärest.

Wie still es hier oben ist, wie weit hinaus man sieht, wie wohlig mild, da nun die Fluh von der Sonne mit warmen Händen gestreichelt wird! Aber wie wird es da oben sein, wenn der Regen peitscht, kein schützend Dach sich vorwölbt, wenn der Nebel durch die Tannen schleicht und die Mutter keine Sicht mehr hat, um die Beute zu erspähen? Durchnässt, frierend, hungernd werden die Kleinen dann da liegen — das gibt lange Tage und Nächte, da fängt das Ringen um das bisschen Leben schon früh an und muss recht lange durchgehalten werden, denn man spricht ja von hundert Jahren, die ein Adler erreichen könne. Ab und zu merkst du, wie eine angespannte Aufmerksamkeit in die Jungen kommt; das Tal interessiert sie nicht mehr, mit schiefem Kopf äugen sie in die Höhe und stossen ihren dünnen, rufenden Adlerschrei aus: wigg, wigg wigg... Sehen sie ihre Mutter als Pünktchen im Blau? Es wird schon so sein. Du zwar siehst nichts, siehst rein nichts trotz all deiner Anstrengung — aber sie, sie werden nicht umsonst « Adleraugen » haben. Die Alte kommt wohl, um zu schauen, ob die Menschen wieder gegangen seien. Sofort, Madame, nur noch einen Augenblick, bitte! Du hättest zum Abschied so als freundliche Erinnerung an dieses Reich der Lüfte noch gern eine Adlerfeder... nicht eine grosse aus dem Schwanz, die das Kind doch zum Fliegen nötig hat, nein, nur so eine kleine, die es nicht zum Fliegen braucht, so eine diskrete aus seinem Dessous — seinem « Underchuttli » würde der Oberländer sagen. Dass uns der junge Herr so eine als Gastgeschenk offerieren würde, dürfen wir kaum hoffen... Nun, so leid es uns tut, müssen wir es auf einen Hosenlupf ankommen lassen. Einen kunstgerechten « Brienzer » braucht es ja nicht; du schlägst ihm einen ganz gewöhnlichen Haken, hebst ihm den Schwanz auf... raus mit zwei, drei Federn, und stellst ihn dann wieder in Positur. So, Madame, jetzt können Sie Ihr Kind wieder haben — unversehrter als manche Menschenmutter ihr Kind wieder bekommt! Und nun noch einmal ein Stück luftige Fahrt, diesmal nach oben — dann stehst du wieder mitten in den Alpenrosen... um eine schöne, seltene Erfahrung reicher.

Und nun komm und sieh selber, denn es geht nichts über das eigene Schauen; dann wird es dir lieb, das Bergwild, und wird ein Teil deiner Bergfreude.

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