Blümlisalphorn
3670 m = 11,298 Par .F.
Von R. Lindt.
IN ach der trefflichen, lebensfrischen Beschreibung der Blümlisalp in „ Doldenhorn und Weisse Frau " durch unsere Freunde Roth und Fellenberg möchte es als ein gewagtes Unterfangen erscheinen, die nämliche Berggruppe zu behandeln, wenn nicht einige Abweichungen in der Reiseroute vielleicht doch einiges Interesse für dieselbe erwecken dürften. Zudem erweitert jede neue Reise die Kenntnisse eines Reviers; man lernt dasselbe in verschiedenen Jahren unter abweichenden Verhältnissen kennen und erleichtert dadurch Andern die Begehung desselben. Im Kranze unserer Hochgebirge entzücken wohl neben der herrlichen Jungfrau vorzugsweise die leuchtenden Firne der Blümlisalp das Auge des Kenners wie des einfachen Touristen, und nicht nur aus der Ferne erfasst uns heisses Sehnen, diese Zinnen zu erklimmen; je näher wir dem mächtigen Gebilde kommen, desto verführerischer üben diese reinen Linien, diese in aller Wildheit merkwürdig regelmässige Anordnung der siebengipfe-%en Baute ihre Zauberkraft an uns aus. Bern, Thun, Heustrich, was bedeutet euere Schönheit ohne Blümlisalp? Heustrich, dieses rasch emporstrebende Bad, verdient nur um des prächtigen Anblicks dieser Gruppe willen einen raschen Besuch, und wohl Dem, der im Anstaunen dieser Herrlichkeit den Entschluss in sich reifen lassen kann, seinen Geist und seinen Körper in jener reinen Gletscherluft zu baden und zu erquicken, statt fau- liges " Wasser verschlucken zu müssen.
Merkwürdigerweise war unser Schneeberg, einige missglückte Anläufe abgerechnet, bisher wenig besucht worden; den höchsten westlichen Gipfel, 3670 m, erstieg 1860 R.L. Stephen. Nach der kurzen Notiz im Alpine Journal, vol. I, war die Ersteigung leicht und scheint daraus hervorzugehen, dass keine Stufen gehackt wurden, während Herr Stephen ein Jahr vorher dieselbe verschoben hatte, weil „ der heisse Sommer den Gipfel zu einem Eispfeiler umgewandelt hatte ". 1862 bezwangen Roth und Fellenberg den Mittelgipfel, die Weisse Frau, 3661 m, welche meines Wissens seither nur von Herrn Fröhlich und Vogt wieder besucht wurde. Eine zweite Besteigung des Blümlisalphorn's, und zwar durch einen Schweizer, erschien mir also wünschenswerth, abgesehen von allen individuellen Liebhabereien. Erst mehrere Monate später erfuhr Herr W. Brunner, dass eine Amerikanerin mit ihrem Bruder von der Bundalp aus die zweite Ersteigung ausgeführt hatte, die aber gänzlich unbeachtet geblieben war. Nachdem nun auch das Morgenhorn, der östliche niedrigste Gipfel, durch Herrn Bsedecker bezwungen, dürften nach bisheriger Erfahrung bald zahlreichere Besuchesich folgen zu Lust und Freude wahrer Clubisten. Im vorigen Jahre hatte ich auf einer ganz missglückten Exkursion die Ueberzeugung gewonnen, dass es für diese Höhen gerathen sei, die grosse Firnschmelze nicht abzuwarten, sondern im Gegentheil eine Jahreszeit zu wählen, in welcher die Schrunde noch solid überbrückt sind, und der Firn in der Höhe das Glatteis bedeckt, ohne dass Lawinen zu befürchten wären, also der Monat Juli-Ich entschloss mich um so leichter hiezu, als in mehreren der verflossenen Jahre der August mir gar nicht günstig gewesen war. Lange suchte ich vergebens einen Begleiter; der Eine wollte erst noch sich einlaufen, der An- dere hatte andere Pläne im Kopfe;
es war, als wenn der Berg verschrieen und gemieden sei. In der zwölften Stunde aber wurde mir beinahe bange, ob der nun sich meldenden grossen Gesellschaft; die Matterhorn-Katastrophe mahnt in dieser Beziehung zur Vorsicht, und möchte ich Karavanen, wie sie die Sektion Aarau organisirte, nicht empfehlen. Doch die Mannen waren gut: mein Bruder Dr. Lindt, Freund Fellenberg und Vetter W. Brunner mit Peter Sulzer. Also auf nach dem Blümerich!
Hinter Frutigen beginnt der Reiz der Alpenwelt mehr und mehr sich zu entwickeln; idyllisch liegt Kirche und Pfarrhaus von Bunderbach auf grünem Plateau, und nahe dabei siedelte sich in den letzten Jahren nach altem Berner Brauch ein einfaches, aber, wie man vernimmt, gut gehaltenes Pensionshaus an mit prachtvollem Ausblick auf die den Thalgrund abschliessenden Balmhorn und Alteis. Wer den blauen See noch nicht gesehen, scheue ja den kleinen Abstecher zur Rechten nicht. Um-kränzt vom dunkeln Tannenwald, liegt ein stummes Märchen vor deinen Augen; das kraterartige, mit krystallhellem blauschimmerndem Wasser erfüllte Bassin, die versunkenen, mit Kalk moosartig inkrustirten Tannenstämme, gegenüber die mächtige Felswand: sie bilden eines der vielen lieblichen Räthsel der Alpenwelt.
Eine gewaltige Thalsperre trennt weiter oben das obere vom untern mildern Thal; in schönem Zickzack führt die neue Strasse bergan, um oben in den flachen Boden von Kandersteg auszumünden. Wasser, Eis und Fels haben hier ihre verderblichen, aber auch ihre nützlichen, befruchtenden Spuren zurückgelassen. An der festlichen Thalwand fällt uns sogleich eine ungeheure kugelförmige Endmoräne des Blümlisalpgletschers in die Augen, theilweise mit schönem Wald bestanden; der Thal- boden, oft kiesig tiberführt, weist aber auch fruchtbare " Wiesen und Felder und könnte vielfach verbessert werden;
aber leider scheint die Bevölkerung nicht, wie vielerorts im Gebirge, im Kampfe mit der Natur sich emporzuarbeiten. Die Häuser sind häufig im Verfall, die Gärten und Felder vernachlässigt. Kandersteg, früher der Stapelplatz für Leuk, hat seit Eröffnung der Walliser Bahn allerdings viel verloren; der reiche Verdienst der Bäu-merei über die Gemmi nahm ab, nicht aber gleichzeitig die Gewohnheit, auf Reisende zu warten, und statt in anderer Arbeit in Feld und Haus Ersatz zu suchen, begnügt man sich mit Dem, was der Zufall bringt. Zwar trifft man im Thal mehrere Zündhölzchenfabriken, welche bei richtigem Betrieb Verdienst bringen sollten; leider aber wurde von Anfang an sehr mangelhaft für die Arbeiter gesorgt, so dass viele von der schrecklichen Phosphor-nekrose heimgesucht wurden. In den letzten Jahren schritt die Regierung kräftig ein, und wie man hört, soll es jetzt gebessert haben; doch braucht es steter, grösser Vorsicht und zwekmässiger Ventilations-Einrichtungen, welche in den alten, schlechten Gebäuden kaum überall durchzuführen sind, um das Uebel vollständig zu beseitigen.
Um 3 Uhr langte unsere Gesellschaft in Kandersteg an, wo wir den von Herrn v. Fellenberg bestellten Führer Bischoffvon Lauterbrunnen trotz rätliselhaftenAusbleibens unseres Freundes sogleich engagirten und rasch die nöthigen Vorbereitungen zur Weiterreise trafen. Als dritter Führer wurde Chr. Harri auserkoren, welcher sich in der Folge nicht nur als sehr zuverlässig, kräftig und gewandt erwies, sondern auch durch seinen muntern Humor und seine Dienstfertigkeit unsere volle Zufriedenheit sich erwarb. Wir hatten beabsichtigt, den gleichen Abend noch bis auf die obere Oeschinenalp zu steigen und dort zu über-. nachten;
Bischoff rieth aber dringend an, so hoch oben
als möglich zu bivouakiren, da bei der ausserordentlichen Hitze dieser Julitage das Beschreiten von auf Glatteis gelagertem Schnee, wie wir es zu erwarten hatten, wahrend der Mittagsschmelze nicht rathsam sei. Der Rath war gut, es wurde demgemäss rasch gespeist, und da mm auch Decken mitgenommen werden mussten, ein Träger, Ogî Sohn, requirirt. Vor einem Jahre hatte ich bei Gelegenheit der Vorbereitung zu der gleichen Besteigung eine scharfe Strafpredigt von der besorgten " Wirthin zu erdulden gehabt, welche ein solches Unternehmen eines Familienvaters als gottlos und ganz unerlaubt in so energischer Weise uns auszureden suchte, dass mir bald die Lust vergangen wäre, so muthwillig in 's Verderben zu rennen. Damals muss das Blümlisalp-Weibchen aus ihr gesprochen und mich gewarnt haben, und ich musste auch meinen Vorwitz gehörig büssen und froh sein, vor der losgelassenen, tobenden wilden Jagd mit heiler Haut mich zu flüchten. Ob heuer die gute Frau mit solchen Exkursionen vertrauter geworden, oder ob ihr Weissagungsvermögen uns Glück verhiess? das gute Omen trog nicht, Himmel,. Berg und Menschen machten helle, frohe Gesichter. Mit grösster Zuvorkommenheit und Raschheit ging uns der'Wirth, Herr Glauser, sammt der ganzen Bedienung an die Hand, so dass schon nach einer Stunde unter freundlichen Glückwünschen die kleine, schwer beladene Karavane ^m noch Ungewissen Nachtlager entgegen sich in Bewe-?ung setzte. In gesetztem Tempo ansteigend, fesselte die ro$sartige Umgebung unsere volle Aufmerksamkeit; ^öch prüfender, verstohlener Blick flog die Höhen hinan ^ ermass die Schwierigkeiten, die uns dort erwartenmoch-eilj dann ruhte das Auge auf dem blauen, stillen Gewässer esOeschinensee 's und seinen klaren Spiegelbildern, folgte den flatternden Sturzbächen über grüne Alpterrassen und grausige Schuttfelder empor zu himmelhohen, mit blendenden Firnen gekrönten Felsen.
Dieser Marsch in goldener Abendbeleuchtung bietet Schritt für Schritt reichen Genuss; hoch über dem See die mächtigen Balmen, wo merkwürdiger Weise das unsern Bergen sonst fremde, fein gezackte Sisymbrium Sophia massenhaft sich angesiedelt hat; weiter unten im Wald duftet in Menge Orchis odoratissima. Dann öffnet sich der Weg in die schöne, mit anständigen Sennhütten besetzte untere Oeschinenalp. Yon dieser führt eine steinerne Treppe über Felssätze steil hinauf zur obern, nur mit einigen ärmlichen Hütten versehenen Alp, wo noch eine Pfanne und Holz aufgeladen wurde.
Die Alpenflora, welche durch diese Felsstufe deutlich in eine niedere und höhere Zone getheilt wird, bietet dem Sammler auf dem ganzen Wege von Kandersteg bis auf den Dündengrat reiche Ausbeute, wie das beigefügte, auch das benachbarte Gasternthal einschliessende Yer-zeiehniss nachweist. Dasselbe ist namentlich durch die gütigen Mittheilungen der Herren Professoren Fischer und Gutbnick wesentlich vervollständigt worden.
Als Wahrzeichen der Blümlisalp sei es mir gestattet, dem freundlichen Leser ein Sträusschen schweizerischer Alpenviolen zu bieten.
Der Marsch beginnt nun sich zu dehnen. Das Terrain wird steiniger, öder; allmälig bricht die Dämmerung herein, und noch wartet unser die unangenehmste Partie, die rutschigen Halden des Dündengrates. Auf rauhem, über einer Gletscherzunge sich erhebendem Felskopf sammelt sich allmälig die Kolonne zum nächtlichen Referendum. Einige Stimmen riethen, weiter unten in geschützter Lage zwischen Fels- und Moränenwall zu lagern, wo offen- bar schon Jäger oder verirrte und verspätete Reisende gehaust hatten.
Da, im entscheidenden Moment stieg voll und klar der Mond hinter dem Blümlisalphorn hervor; alles Zaudern war verschwunden, und einmüthig hiess es vorwärts! Nur Licht — und sogleich fühlt sich der Mensch in seinen Entschlüssen sicherer, kühner. Wenn auch bei trügerischem Mondschein mancher Fehltritt gemacht wurde, langte die Gesellschaft doch um 9 Uhr auf dem Kamme an, verfolgte diesen einige hundert Schritte und stieg über Fels und tiefen Schutt gegen den Gletscher hinunter, um längs den Felswänden des Hohthürligrats wieder emporzukrabbeln und die beste Stelle zum Lagerplatz auszuwählen.
Gegen 10 Uhr wurde am Fusse einer etwas überhängenden Kalksteinwand, wahrscheinlich dem Quartierloch Lauener's, das aber keine eigentliche Höhle vorstellt und daher passender Hohthürli-Balni genannt würde, abgeprotzt, und bald loderte ein lustiges Feuer, zu welchem die glücklich aufgefundene alte Leiter Fellenbergs mit herhalten musste. Nach Genuss einer vortrefflichen Feldküche hiess es: „ Nun wollen wir den Herren die Federn schütteln ", und rasch wurden die unbequemsten, eckigen und scharfen Steine den Berg hinunter geworfen, die Decken ausgebreitet, und Einer um der Andere füllte sein knapp zugemessenes Steinbett aus, durch kurzen Schlaf zu grössern Anstrengungen sich zu stärken. Schlaftrunken schweift das Auge noch auf die in silbernem Glänze strahlenden Firne, nach den in den Nachthimmel tauchenden Spitzen und hinaus in 's räthselhafte Dunkel des Thals. Feierliche Stille ruht auf der Erde und umfängt allmälig mit ruhigem Schlummer die durch das Jagen des ermüdeten Wanderer. Doch was ist das? Leise flüstern von der Blümlisalp herab; es wird in der Hohe lebendig;
die Eisterrassen verwandeln sich in Treppen, aus mächtigen Käsen erbaut; ringsum beginnt es zu sprossen; der Boden prangt in den prächtigsten Farben, den herrlichsten Blumen, und was seh'ich? Muntere Sennen ziehen ohne Ahnung der kommenden Erstarrung hochzeitlich geschmückt den stattlichen Sennhütten entgegen. Gedämpfter ferner Jodel dringt an unser Ohr, und bald ertönen lustige Lieder; jetzt tritt die Schaar in die auf schöner Alp thronende Hütte, der stolzen Maid ihre Huldigung darzubringen, und von Neuem herrscht geheimnissvolle Stille. Ist das nicht Gläserklingen? Ein frischer Hauch weht liebliches Aroma fremder Zonen zu uns herüber und umstrickt unsre Sinne mit sehnsüchtigem Behagen. Da hallen weiche, melancholische Liebeslieder an die Felsen, also auch in dieser stummen Welt das alte Lied von Lieb und Leid, und hier sollte es ein so unseliges Ende nehmen! Zwischendurch ertönen ausgelassene, helle Jauchzer; ein Feuerschein durchzuckt die Luft, lauter Donner kracht vom Berg herab, der Spuk " wird zu toll, mit einem Sprung fahren wir in die Höhe, und ach! der schaurige Zauber ist zerrissen! denn eng zusammengeschmiegt sitzen unsre wackern Führer am erlöschenden Feuerchen und vertreiben sich die Zeit bis aur Morgendämmerung mit allen erdenklichen, alten und neuen, bekannten und unbekannten Liedern und Possen, damit ja keine Minute zum Aufbruch verloren gehe. Nun mag die Lawine krachen, wie sie will, wir wickeln uns wieder lachend in unsre Hüllen und ergötzen uns halb wachend, halb träumend an dem von Bischoff vortrefflich dirigirten Gesang unsrer fidelen Mannschaft. Und welch'ein Concertsaal! Die helle Fluh, der blinkende Gletscher, die von tausend Brillanten glitzernde Himmelsdecke, und als Leuchter das milde Licht des treuen Erdbegleiters!
Das erste Tagesgrauen traf uns in festem Marsch auf den untern Schneefeldern, die wir in der Richtung zwischen den Vorgipfeln der Wilden Frau und Stock durch, direkt gegen den Fuss der Weissen Frau zu, überschritten, ohne irgendwie durch Schrunde, wie sie die ersten Expeditionen Fellenberg's getroffen, belästigt zu werden. Hinter dem Blümlisalpstock durch wurde rechts abgeschwenkt und der niedrige Sattel, welcher die zwei Hochplateaux trennt, überschritten und das schöne westliche Firnbecken rasch durchmessen. Ein steiler Firnhang mündet vom Sattel zwischen Roth- und Blümlisalphorn in dieses ein und bildet die eigentliche Auffahrt zum Berg, der in spätem Jahreszeiten durch einen mächtigen Schrund vertheidigt wird. Schon deuteten gewaltige Löcher an, wie unbequem derselbe sich später gestalten könne; jetzt ging es, wie ich gehofft, ohne Gefahr hindurch; noch einige Beilhiebe, und überraschend schnell hatten wir in IV2 Stunde den Sattel erreicht. Hier wurde alles Entbehrliche zurückgelassen und nach kurzem Imbiss die einzig zur Spitze führende nordwestliche Abdachung betreten, Ueber die unterste, ziemlich steile Firnhalde gelangten wir bald zu aberen Felsen, welche beim Hinaufklettern gute Dienste leisteten. Schon spöttelten wir über alle die eingebildeten Schwierigkeiten; da versenkten sich die Felsen, und an ihrer Stelle erschien festes Eis, so dass Tritt um Tritt, und zwar in Berücksichtigung des Niedersteigens tief und breit gehauen werden musste. An Halt wäre beim Ausgleiten nicht zu denken; denn jäh und jäher stützen sich die Firne auf senkrechte, Tausende von Fussen in den Oeschinensee tauchende Flühe. Mit einem Schritt wähnt man in den See treten zu können, so unmittelbar blaut das klare Wasser zu ÜI1s hinauf.
Nun machte sich auf einmal die Macht und Grosse der Hochregion geltend; die widerstrebende Natur beginnt die Ausdauer und Entschlossenheit der Menschen zu prüfen. In der Absicht, den trügerischen Gwächten auf dem Grate auszuweichen, suchten wir schräg an der Wand hinauf gegen die oberste, aus dem Firn herausragende Felsplatte anzusteigen, gerieth en aber so in 's blanke Eis, dass wir nur sehr langsam vorrückten. Lange wollte Bischoff die Hackarbeit nicht abgeben, und bereits wurde Harri unwirsch, nur in zweiter Linie nachzubessern; allein auch er kriegte noch so genug zu thun, dass „ die Aermlein ihm zuletzt wehe thaten ". Klirrend surrten die kalten und scharfen Eisstücke an uns vorbei in 's Bodenlose; aber trotzdem Jeder emsig an den Stufen arbeitete, verspürte man doch nach und nach den kältenden Einfluss der Umgebung und der Morgenluft. Gegen 8 Uhr insonderheit nahm dieser empfindlich zu, um die gleiche Stunde ( de » 20. Juli 1869 ), zu welcher Herr Hofmann von Basel wegen grimmiger Kälte den Aufenthalt auf der Spitze der Jungfrau abkürzen musste.
Langgezogene Gähnlaute unterbrachen ansteckend die monotone Stille, und mit sehnsüchtigen Blicken wurde die Distanz zur Höhe gemessen; sie schien nicht abnehmen zu wollen, und unverrückt lag die Felsplatte hoch über unsern Köpfen. Da wurde beschlossen, links gegen den Grat zu halten, wo offenbar noch Firnschnee lag; glücklicher Weise betraten wir die Schneide gerade oberhalb der letzten Gwächte, und nun ging 's direkt über den Grat dem Ziele zu. Der Kopf war zwar bereits gewöhnt, in mächtige Tiefen zu schauen, und doch überrascht es; immer, plötzlich den letzten seitlichen Anhaltspunkt zu verlieren und rechts und links freies Sehfeld zu gewinnen, hier in die Tiefe der Gletschermulde zwischen uns und dem Oeschinenhorn 3492 m* ), und etwas weiter rückwärts in das Seebecken, da die gewaltigen Eisbänke und reingefegten Lawinenbahnen hinab in den Blümlisalp-kessel.
Jetzt entfaltete sich die wahre Pracht des herrlichen Sommermorgens, und die liebe Sonne durchwärmte auf einmal hochwillkommen die frostigen Glieder. Noch äfften uns zwar mehrere Wölbungen des Kammes; doch um 83/4 Uhr ist die letzte mächtige Gwächte erstritten, hinter welcher der plötzliche Absturz Halt gebietet.
Wir hatten also 6 Stunden vom Hohthürli gebraucht, während Stephen in nur i$% Stunden bei gutem Firn den Gipfel erreicht hatte. In gleich viel Zeit erstiegen Roth und Fellenberg die Weisse Frau; bei einem frühern Versuche hatten aber 7 Stunden nicht genügt, die Spitze des famosen Dreiecks zu erreichen. Das sind die Launen der Gletscherwelt!
Sorgfältiges Sondiren mit den Stöcken muss erst die sichere Grenze bestimmen, bevor die Karawane sich ordnen und lagern kann. Heuer sind wir Glückskinder und freuen uns in vollen Zügen der errungenen, lang ersehnten Herrlichkeit. Das Gebirge erstrahlt in weissem Schmelz; die Höhen zeichnen sich in seltener Deutlichkeit und Farbenfülle, die nahen Thäler sind erfüllt von sommerlichem Duft; nur in die Ferne nach Norden vermag der Blick den mächtigen Dunst nicht zu durchdringen, der letzten Sommer oft wochenlang unsere Niederungen erfüllte. Kaum erkennen wir das Ende des Thunersee's, kaum die Stockhornkette, dann verschwimmt Erde und Himmel. Herwärts dieser Grenze aber, welche Détails, welches Suchen und Finden der bekannten Orte, Thäler Höhen!
) In der neuen Ausgabe des Blattes XVIII wird dieses Bern erhorn genannt.
Schweizer Alpenclub.9
Tief zu unsern Fussen guckt das vordere Wirthshaus von Kandersteg aus dem Thalgrund herauf; wir wünschen, dass es noch oft Gelegenheit erhalte, muntere Clubisten zur Erklimmung dieser freien Alpenzinne auszurüsten, von der Stephen sagt, sie sei eine der angenehmsten Exkursionen, welche er je gemacht habe. In diesem Blick in 's Kanderthal liegt so recht der Maassstab der Höhe, während ringsum die benachbarten Rivalen um den Preis der Schönheit ringen. Zunächst durch einen welligen zierlichen Firnsaum mit unserm Standpunkt verbunden, reicht uns die Weisse Frau die Hand. Der letzte Aufstieg zu ihr wie zum Morgenhorn mag noch steiler sein als der, den wir soeben gemacht; hingegen ist die schmale Brücke zum Hörne länger, und während jene einen ziemlich langen Grat bildet, gipfelt dieses keck spitz zu. Ueber die rundliche Gipfeigwächte hinunter überblicken wir das Becken des Tschingelhorngletschers. Die Tiefe wäre schaurig, wenn nicht die hellschimmernde Firnfläche mit der der Gwächte sich zu verschmelzen und ein Ganzes zu bilden schiene. Die weisse Farbe hebt den tiefen Boden empor und mildert den gräulichen Abstand.
Sehr schön entfaltet sich die Doldenhorngruppe mit dem Balmhorn; an sie schliessen sich in dichter Reihenfolge Wildstrubel, Wildhorn, die Diablerets mit allen ihren zugehörigen Zacken und Firnen. Eigenthümlich verschieben sich koulissenartig die Heroen des Oberlandes; verwegen schwingt sich der Eiger in die Luft; die Jungfrau weist uns ihr breites westliches Felsenpostament. Dieser Eckpfeiler wird durch die wilde Kette des Gletscherhorns, der Ebnefluh, des Mittag-, Gross-undBreithornsbis zum Tschingelhorn mit dem weiten Sattel des Petersgrats verbunden, über welchen der Blick offen liegt gegen die südliche Thalwand des Lötschthals, gekrönt mit den gigantischen losen Pyramiden des Nest- undBietsehhorns.
Das Aletschhorn erhebt sich direkt über dem Tschingelhorn. In der Lücke zwischen Aletsch- und Gross-Nesthorn erscheint die Kette des Ofenhorns, zwischen Gross - Nest - und Bietschhorn die Höhen des Monte Leone. Rechts vom Bietschhorn beginnt in ununterbrochener Reihenfolge der majestätische Kranz der südlichen Walliser Kette, in den mannigfaltigsten Gestalten gipfelnd und in gewaltiger Ausdehnung vom Fletschhorn und den Mischabeln bis zum Montblanc den südlichen Horizont schmückend. Ein freundlicher Blick in 's grüne Nicolaithal führt uns gerade auf die herrliche Monterosagruppe. Zwischen Weisshorn und Dent blanche steht trotzig der Felsenkegel des Matterhorns, eine imposante Verbrüderung der kühnsten Hochgipfel. Auch der dreigipfelige Grand Combin steht in reiner Zeichnung würdig da neben seinen mächtigen Nachbarn.
Wie sehr wünschte ich mir den meisterhaften Griffel unseres verehrten Herrn Präsidenten; ich wagte es nicht, die Arbeit zu unternehmen, welche in ihrer Grossartigkeit einen Meister, keinen Stümper erfordert. Daher erlaube ich mir, auf das wohl am besten passende Panorama des Herrn Studer vom Rinderhorn hinzuweisen, dessen Standpunkt, wenn auch niedriger und etwas seitlich gelegen, doch für die gewaltigen Walliser Riesen keinen erheblichen Unterschied machen kann.
Auf Fels ist immer ein gemüthlicheres Rasten als in kalten, an steiler Böschung eingehauenen Schneesitz^n; allmälig dringt doch die umgebende Kälte in Mark und Bein ein und mahnt zu neuer Bewegung; auch war es rathsam, die köstlichen Morgenstunden zu benutzen. Die Temperatur der Luft schwankte während unseres Aufenthalts zwischen + 3 und 4° C.
9* Nach ^ständigem wonnevollem Aufenthalt und Erledigung der Clubpflichten im Essen, Trinken undNieder-legung der Notizen wurde der Rückmarsch in möglichst gesicherter Ordnung angetreten.
Harri voraus, sollte, wo nöthig, die Tritte in guten Stand setzen und stets auf feste Stellung Bedacht nehmen; auf ihn folgte Brunner, dann Ogi, der heute seine Neulingsprobe gut bestanden, ohne dass man sich aber schon unbedingt auf ihn verlassen konnte. Es wurde ihm eingeschärft, sich solid einzustechen. Ihm folgte mein Bruder und Peter als sicherer Hintermann, endlich meine " Wenigkeit und zuletzt Bischoff, welcher die ganze etwas lange Karawane überwachen und leiten sollte. Allen war dringend empfohlen, auf 's Pünktlichste dem Kommando Bischoffs zu gehorchen. Langsam und ruhig bewegten wir uns in den tiefen Stufen abwärts; in diesem Moment wurde von Kandersteg aus der Marsch beobachtet, während eine Gesellschaft vom Schilthorn uns auf dem Hörn selbst ausgekundschaftet hatte. Leider entging die schöne Ersteigung des Gspaltenhorns durch Bohren, von der wir erst auf Murren Kunde erhielten, unserer Aufmerksamkeit. Die Felsrippe erwies sich beim Niederstieg unangenehm; Alles rutschte auf den glattgeriebenen, parallel der Neigung der Wand abge-schärften und nassen Platten von Hochgebirgskalk, und so müssten auch Hosen, und Kniee ihren Tribut zahlen. Nach kurzem Halt auf dem Sattel ging 's durch den weichen Schnee wieder hinab in den Gletscherkessel, wo inzwischen die Sonne ihre Julistrahlen wie in einen Glüh-öfen hereinwarf. Zwei Führer schliefen unter diesem Druck im Marsche ein 5 die Andern warf das wellige Terrain links und rechts wie Betrunkene herum, bis die momentane Abspannung wieder überwunden war. Um Dreiviertel auf 2, also nach 11 Stunden, war unsere Balm am Hohthürle wieder erreicht, allwo eine gelungene Liebig'sche Fleischsuppe auch die Appetitlosen vollständig restaurirte.
Am glühenden Felsen wurde Siesta gehalten, dann den wackern Kanderstegern zum Abschied die Hand geschüttelt und über den Dündengrat, Schnee und kahle Schutthalden hinab der Bundalp zugesteuert.
Hier wollten wir unser Tagwerk beschliessen; denn noch über die Furke nach Murren zu marschiren, erschien uns doch nach unserm Tagewerk zu „ fuhrig ".
Wer den tiefen Niedersteig in den Thalkessel vermeiden will, um jenseits eben so hoch wieder zur Sefinenfurke zu steigen, kann, aber nur bei guter Führung, den Felswänden der Wilden Frau entlang dem untern ebenen Theil des Gamchigletschers zusteuern, diesen überschreiten und schräg am jenseitigen Hang sich emporziehen. Mit ziemlicher Sicherheit kann man darauf rechnen, auf diesem Kletterwege ganze Rudel von Gemsen zu überraschen, welche auf den abgelegenen Terrassen, wie es scheint, ziemlich unbelästigt sind. Vor einem Jahre schlichen wir auf halbe Schussweite an eine grosse Heerde von 25 bis 30 Stück; zwei Thiere rannten beim Allarm bis auf wenige Schritte an uns heran, und längere Zeit konnten wir uns ergötzen an den elastischen Sprüngen und Sätzen die scheinbar senkrechten Felswände hinauf. Jede Geiss war gefolgt von einem 2-3 Wochen alten Jungen, deren Kraft noch nicht überall ausreichte, und es war höchst reizend zu beobachten, wie andere Wege gewählt und eingeschlagen wurden, um den Kleinen die Flucht zu ermöglichen. Und doch! da purzelt eines rückwärts eine hohe Wand hinunter, und schon jubelte ich, eine solch'seltene Beute zu gewinnen; da springt der Racker wieder auf die Beine und glücklich die Wand hinauf. Von Zeit zu Zeit spähen noch einzelne Köpfe hier und dort über die Felsen herab;
dann und wann ertönt noch die Signalpfeife, und Alles ist zerstoben und geborgen, nur wir nicht, denen ein gräuliches Schneegestöber das unwillkommene Geleite gab den ganzen Gamchigletscher hinauf über die Gamchilücke auf den Tschingelgletscher und vom Tschingeltritt zur Abwechslung ein sündfluthartiger Regen bis Lauterbrunnen.
Unter andern Verhältnissen wäre dies gewiss eine sehr lohnende, doch nur im Frühsommer auszuführende Partie, welche vom Dündengrat aus circa 10 Stunden in Anspruch nimmt, nämlich:
Dündengrat—Gamchigletscher.... l*/a Stunden. Gamchigletscher—Gamchilücke 3
Gamchilücke—Tschingeltritt2
Tschingeltritt—Lauterbrunnen.... 3V2 „ inclusive eine Irrfahrt in eine falsche Schneekehle und ein kurzer Aufenthalt. Später ist der steil abfallende Gamchigletscher arg zerschunden und wird man dann genöthigt, sich in die Felsen zu ziehen und tüchtig zu klettern. Die Gamchilücke ist bekannt wegen des Reichthums einer Bank an Pentacriniten, in welcher Hr. Prof. J. Bachmann ausserdem Spirifer rostratus Schloth., Pecten textorius Schi, und einige andere auf untern Lias weisende Species fand. In einer tiefern, durch Abschmelzung des Gletschers blosgelegten Bank erbeutete spater Hr. v. Fellenberg Pleurotomaria trocheata Tirq., Lima exaltata und tuberculata T., Hinnites liasicus T., Pecten sp. indet ., welche alle den allertiefsten Schichten des Lias angehören. Ein aus einer alten Sammlung stammender grösser Ammonites Parkinsoni Low. und Eisenoolith wahrscheinlich von den Felsen der " Wilden Frau oder des Morgenhorns auf den Gletscher gestürzt, deutet daraufhin, dass die Eisenerze von Rufistein und des " Wetterhorn-Sätteli,
Die Violen der Schweizer-Alpen.
1. Viola palustris L. auf sumpfigen Wiesen bis in die höhern Alpen hinauf.
2. » pinnata L. südliche Alpenkette.
3. » heterophylla Bert, declinata W. in Felaritzen des Corni di Canzo.
4.biflora L. durch das ganze Alpengebiet in feuchten Wäldern und zwischen Gestein.
5. » calcarata L. auf steinigen Alptnfton.
6. » calcarata n flava, Zoïsii Wuli. ebendaselbst, nur seltener.
7. » lutea Huds., grandiflora L. mittlere Schweizer- Alpon.
8. » trioolor, v. alpestris Jord. auf Alpwiesen.
9. » oenisia L, auf höhern Schutt- und Schieferhalden der Berner-Alpen uud der südwestlichen Schweiz.
dem mittlern braunen Jura ( Dogger ) oder Bathonien angehörend, auch hier vorkommen müssen.
In der Bundalp wurden wir gastlich empfangen, sogar das Bett des Grossätti wurde zu unserer Verfügung gestellt; allein uns lockte vielmehr das köstliche Heulager auf der Bühne, auf dem wir dann auch eine herrliche Nachtruhe genossen. Eine wundervolle Abendbeleuchtung schloss würdig den genussreichen Tag, und wahrlich fast schien es ein Traum, in so kurzer Zeit von zwei Tagen eine solche Summe der lieblichsten und erhabensten Naturscenen gekostet zu haben. Die Blümlisalp bietet zwar nicht die ganze Grossartigkeit mächtiger Gletschergebiete; allein die Symmetrie und Reinheit ihres Baues können jede Yergleichung aushalten, und wenn auch nicht aussergewöhnliche Schwierigkeiten zu überwinden sind, so gewährt es doch grosse Genugthuung, mächtige Freude und hohen Genuss, auf ihrem kühnen Gipfel zu stehen.
Flora der Umgebung der Blümlisalp. Oeschinensee.
ArctostapyMos uva ursi. Spr. ) Globularia cordifolia. L.auch in Kandersteg.
» nudicaulis. L. Orchis odoratissima. L. Oeschinenholz. Coronilla vaginalis. Lam. Petasites nivea. Baumg. Saxifraga cœsia. L. ] pumila. Jacq. ( T, „, v ,In den « Freunden », « ola cenisia. L.
poa distichophylla. GaudJ Sisymbrium Sophia. L. Bei den Balmen.
Leontopodium. L.
Zwischen der untern und obern Lamarckii. Seh.Oeschinenalp an steilen Orten, ^«rysanthemum coronopifoliimi. Vill. Obere OescMnenalp und Schafberg.
tloydia serotiua. Salisb.
Santeria alpina. Nus. Gentiana nivalis. L. » acaulis. L. » bavariea. L. Viola calcarata. L. Carex frigida. All.
> atrata. L.
» nigra. All. Erigeron uniflorus. L. Lycopodiuin alpinum. L. Saxifraga androsacea. L. Cherleria sedoides. L. Alchemilla pentaphyllea. L. Geum moutanum. L.
Dünden- und Hohthürligrat
Campanula cenisia. L.j Ranunculus glacialis. L. In GeröU und Schutthalden.
Thlaspi rotundifolium. Gaud. ] Androsace helyetica. Gaud.
» pubescens. Dl.
Draba frigida. Sant.Kalkfelsen.
Artemisia spicata. Wolf. Geum reptans. L. Saxifraga Kochii. Hörn.
Chrysanthemum alpinum. L. f „.,.
lHalden gegen Bundalp.
Irirolium alpinum. L.V Gentiana brachyphylla. Mill. I
Gasternthal.
.Thalictruni fœtidum. L. Clus.
Aethionema saxatile. Br.Geröllhalden am Eingang des Thals.
Pyrola uuifiora L. Corallorrhiza innata. Br.l Wald unterhalb Gastern.
Epipogium Gmelini. Eich.Asplenium septentrionale. Sed. I „.
c..,. Ti An Gramtblöcken.
bilene rupestns. L.r.