Das Breitlauihorn
Pierre Sala, Delémont
Direktanstieg durch die Nordwand Es scheint mir, dass die Berge des Lötschentals bei den Alpinisten zuwenig bekannt sind, und dies, obschon sie ein herrliches Tal umsäumen, das durstige Skifahrer zwar oft, aber meist ohne sich umzuschauen, durcheilen.
Jedermann kennt das Bietschhorn, doch weniger das Breithorn - südlich vom Breithorn von Lauterbrunnen gelegen —, und zwischen diesen beiden Gipfeln erhebt sich das Breitlauihorn, ein heute fast vergessener Berg ( 3655 m ).
Unter bleierner Sonne, die Augen auf die Gipfel in der Umgebung geheftet, steige ich zur Fafleralp auf. Fast all die prächtigen Hüter des Tales tragen noch ihren winterlichen Schmuck. Unterwegs wird mein Blick immer wieder von der Nordwand des Breitlauihorns angezogen; aber nicht nur mein Blick, sondern auch meine Gedanken sind dort oben, als ich plötzlich durch eine be- kannte Stimme in die Wirklichkeit zurückgerufen werde: Es ist mein Freund Ernst Reiss, der unter einer Lärche auf mich wartet. Er sitzt dort, seinerseits träumend von unserer morgigen Tour. Ermuntert durch seine Gegenwart, eile ich mit einem Lächeln auf den Lippen zu ihm, und, einmal von meinem Rucksack « erleichtert », nehme ich die Nordwand des Breitlauihorns etwas genauer unter die Lupe: Von diesem Punkt aus betrachtet, macht sie mir fast ein wenig angst und lässt einen kalten Schauer über meinen Rücken rieseln. Sie ist von langen, grauen Eisplatten bedeckt... Aber klugerweise steuert Ere meinen Blick zum Gipfel. Da gibt 's ein langes konisches Couloir zu bewundern, unterbrochen von Felsriegeln, die sich fast bis zum Gipfel hinaufschwingen, dann den Gipfelsporn selbst... kurzum, eine herrliche, neunhundert Meter hohe Wand! Ausserdem scheinen mir die Schneeverhältnisse ausgezeichnet, und es ist keine einzige braune Spur von Steinschlag zu sehen. Jetzt gibt es kein Zweifeln mehr; die Würfel sind gefallen.
Wir nehmen den Weg zur Fafleralp wieder unter die Füsse und frischen während des Marsches Erinnerungen an unsere letzten Bergfahrten auf. Vor Sonnenuntergang machen wir noch ein paar Kletterübungen; dann treibt uns der knurrende Magen zum Abendessen. Nach der Mahlzeit versuchen wir dem Gastwirt einige Auskünfte über unser morgiges Ziel zu entlocken, aber ohne Erfolg... Egal, wir wollen es riskieren! Dann ziehen wir uns in unsere Zimmer zurück, um dort die Rucksäcke zu packen; dabei kommt Ere alle paar Augenblicke herein, um mir zu empfehlen, jedes unnötige Material hierzulassen, und wenn am Ende dieser Berechnung unsere Säcke 6 kg wiegen, so ist dies wirklich das Maximum, d.h., besser gesagt, ein Minimum! Schon eine Stunde später weiss ich die Vorzüge eines guten Bettes zu würdigen. Doch der Schlaf will nicht kommen; vielmehr tritt eine immer grösser werdende Nervosität an seine Stelle; die Uhrzeiger scheinen stillzustehen... Aber schliesslich wird es doch morgens 3 Uhr.
Der Himmel ist mit Sternen übersät, und eine leichte Brise streicht uns ums Gesicht. Es wird Zeit, sich zu sputen! Mit Riesenschritten und in weniger als zwei Stunden erreichen wir den Fuss dieser ungeheuren Wand. Doch je mehr Stunden verstreichen, desto mehr Zeit ist vergeudet. Der Gipfel steckt schon unter einer Nebelkappe. In aller Eile schnallen wir die Steigeisen unter, seilen uns an und knabbern noch schnell ein paar Radieschen, die Ere vorsorglich mitgenommen hat - ohne Salz!
Beim ersten Halt stehen wir auch schon im ersten Schneefeld. Das Tempo ist gut, aber etwas schnell für den Anfang, ganz nach Eres Geschmack. Einige etwas eintönige Seillängen führen uns in einen Wirrwarr von Schnee, Eis und Fels; die Verhältnisse haben sich krass geändert. Eine 40-Meter-Länge folgt ohne Unterbrechung der andern, und unter uns wächst unheimlich schnell die Leere. Die Wand wird steiler und steiler — bis 55 Grad. Die Hälfte ist nun bezwungen, und um uns zu versöhnen, besinnt sich das Wetter eines Bessern. Mein Kamerad benützt die Gelegenheit, um ein paar Photos zu knipsen; dann zieht er aus seinem Sack ein ebenso mysteriöses wie ungewöhnliches Objekt: ein Stück BambusMit dem Pickel und diesem Stöckchen bewehrt, das er energisch in den harten Schnee stösst, steigt er mit erstaunlicher Behendigkeit bergan. Wie Stafettenläufer wandert nun dieses köstliche Werkzeug, das sich wirklich als sehr praktisch im Gebrauch erweist, vom einen zum andern.
Unterdessen hat sich das Wetter wiederum verschlechtert; aber diesmal scheint es ernst zu werden; ja,schon tanzen die ersten Schneeflocken um uns herum. Von Zeit zu Zeit streifen uns heruntersausende Steine, doch ist die Gefahr nicht allzu gross.
Gegen I o Uhr nehmen wir eine höchst interessante Stelle im Sturm: Es ist ein kleiner heikler Eistrichter, umgeben von zwei Felsvorsprüngen. Ere wagt sich hinein, indem er einige Stufen schlägt und Haken setzt. Dann gleitet das Seil langsam, aber sicher durch meine Hände. Nach längerem Warten folge ich den Spuren meines Kameraden. Aber mein Elan wird bald gebremst, denn es ist gar nicht leicht. Mit wuchtigen Pickel-Hammerschlägen sammle ich die Haken wieder ein. Dann verlasse ich, einigermassen erleichtert, mit einem Sprung diesen schrecklichen Trichter und übernehme die Führung auf einem mit gutem Schnee bedeckten Grätchen, wo es nach dieser heiklen Stelle angenehm vorwärtsgeht.
Wir erreichen die Gipfelfelsen und sind beruhigt, als wir über unseren Köpfen ein kleines Fleckchen blauen Himmels sehen. Die meisten Felsen sind mit Schnee und Eis bedeckt, weshalb wir nur langsam und mit Mühe vorankommen. Ein wenig zögernd strenge ich mich an, den besten Weg zu finden, und gewinne an Höhe. In regelmässigen Abständen schlage ich einen Haken in den Fels und setze den Anstieg fort. Am Ende der 40-Meter-Seillänge werfe ich einen Blick zurück, und was ich sehe, verschlägt mir den Atem: Von meiner winzigen Plattform aus kommt mir Ere wie eine Fliege an der Wand vor. Das Seil, das uns verbindet, berührt kaum den Fels. Das Hotel Fafleralp, 1800 Meter unter unsern Füssen, ist nur noch ein kleiner, heller Punkt. Nachdem ich mich wieder gefasst habe, lasse ich meinen Kameraden nachkommen, der beim Klettern vor Freude, hier oben zu sein, aufjauchzt. Es ist nicht mehr weit bis zum Gipfel, und Ere setzt die Besteigung fort, ohne überhaupt anzuhalten. Und da steht er schon im Sonnenglast auf dem Gipfel. Ich folge ihm nach, wir klettern über die letzten Blöcke, und dann drücken wir einander die Hand, glücklich über die wärmenden, so sehnlich erwarteten Sonnenstrahlen. Noch während wir die benachbarten Berge bewundern, geniessen wir — und mit was für einem Vergnügenherrli-che Ananas mit Kirsch. Eine Wonne nach dieser Anstrengung!
Nach der kurzen, wohlverdienten Rast machen wir uns gleich an den Abstieg. Äusserst vorsichtig geht 's durch ein kleines Couloir mit weichem, tiefem Schnee. Mit Steinen versuchen wir eine Lawine auszulösen, aber ohne Erfolg; sie verschwinden in diesem Schmelztiegel. Es dauert nicht lange, bis sich die Schuhe meines Freundes in vollgesogene Schwämme verwandelt haben; aber er beachtet es kaum. Unter einer drückenden Sonne kommen wir endlich auf dem Kühberg an, wo wir absteigen wollen.
Leider überzieht sich der Himmel von neuem, und der Donner rollt schon über dem Petersgrat. Diesmal wollen wir uns nicht versäumen. Am gespannten Seil erreichen wir das Kühhorn. Der Grat ist lang und gefährlich, und riesige Klumpen pappen sich unter unsern Steigeisen zusammen. Schnee fliesst überall herunter. Auf den Felsen angelangt, schnallen wir erst mal unsere Steigeisen ab und verstauen sie in den Rucksäcken. Nach der Überschreitung des Kühhorns lösen wir eine Schneeplatte und folgen ihr, wie gehorsame Schäfchen ihrem Hirten, bis zum Augstkummen-gletscher. Dort befreien wir uns von unsern « Banden » und eilen von Schneefeld zu Schneefeld hinab zur Fafleralp, wo wir von einem zünftigen Gewitter empfangen werden.
Die Kleider gewechselt, ein Tee getrunken -und schon sind wir auf dem Heimweg. In Kandersteg - es regnet in Strömenerwartet uns Familie Reiss. Und erst dort wird uns eigentlich bewusst, was für ein Glück wir gehabt haben und was für eine grossartige Bergfahrt wir erleben durften.Übersetzung R. Vögeli