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Das Hochfaulengebiet

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Von Heinrich Raab-Baumann

Eine sprachliche Wanderung durch eine Welt verkappter Namen Mit einem Bild ( 89 ) und einer Skizze ( z. Z. Altdorf-Uri ) Südöstlich des Urner Sees steigt das Hochfaulengebiet auf; es ist dies ein Höhenzug, der zwischen den Tälern der Reuss, des Schächen- und des Brunnibaches gelagert ist und sich gegen die es überragende Windgällen-Ruchen-Kette durch eine merkliche Furche absetzt, die von der Brunnialp durchs Griestal über die Seewlifurka ins Evitai zieht.

Unser sprachliches Eindringen in diese Welt soll in einer Art Bergwanderung durchgeführt werden, die auf der beigefügten Skizze ersichtlich ist. Da die Faulenkette einen nach Nordwesten offenen Bogen bildet, in dessen Mittelpunkt Bürglen liegt, so wollen wir von Teils Heimat unsere gemeinsame Fahrt antreten.

Beim ersten unmerklichen Schimmer eines Sommermorgens brechen wir auf. Noch wachsen die alten Türme steingequadert ins Dunkel und löst sich die Nacht nicht von Bäumen und Bergen. Begleitet vom Plätschern des Wassers geht 's durchs Riedertalgässchen. Bei Obrieden überschreiten wir das Bächlein und steigen auf zum Kratzi, einem Heimwesen auf beengtem Platz, das seinen Namen herleitet von « kratzen ». Es bezeichnet also einen zerkratzten, zerschrundenen Platz. Wir müssen daher im fahlen Dämmerlicht sehr achthaben, in diesem zerrissenen Gelände und Gehänge den schmalen nach Südosten ansteigenden Kamm nicht zu verlieren.

Im zügigen Anstieg durch gemischten Wald erreichen wir bei 1170 m Höhe eine köpf artige Rückfallskuppe, den Vierschrott. Schweizerisch « schrot », das ist das Abgeschrotete, die Ecke, der Winkel. Ein « vierschrötiger » Mensch ist ein kantiger, rechtwinkeliger Mensch. So ein felsiger Vierkant ist auch der Vierschrott. Wir schauen von ihm hinüber über den Schächen, wo östlich von Trudelingen eine Runse, das Schrotengässli, aufwärtsführt. « Schroten-gässli » ist ein verwinkelter, abseitiger Weg.

Weiter steigt unser Pfad zum Eggbergli auf, wobei wir rechter Hand ins tiefeingeschnittene Riedertal hinabblicken. Anno 1535 werden .matten im Riedertal' urkundlich erwähnt, und so leitete sich der Name her von ,riedir ', das heisst die Rodungen. Es ist die ältere, schon vor mehr als 1000 Jahren gebrauchte Wortform, während das « Rüti », Mehrzahl Rütenen oder Grüti, erst vor 800 Jahren gebräuchlich wird. « Reuten », roden, heisst « die Bäume fällen und die Strünke ausgraben », damit Acker- und Wiesland gewonnen werde. « Schwenden » ( von Schwändi ) heisst « schwinden machen », nämlich die Bäume durch Entrinden allmählich zum Verdorren zu bringen. Aus dem Riedertal luegt das rote Hütchen der uralten Kapelle herauf, von der es 1759 in Leus Lexikon heisst: « Ein Capell im sogenannten Urnisch-Thal in dem Land Ury, die ehmals wegen der Bildnuss ,Maria im Riederwald' geheissen. » Immer höher geht 's und immer weiter schweift der Blick und fasst die Plastik des werdenden Tages. Wohlig setzen wir Schritt vor Schritt in den weichen Teppich der Wängialp. ,Wängi ', urkundlich 1556 « im Wängi ob Riedertal » ist abgeleitet von ,wanc ', das ist die hochgelegene offene Grasfläche ( vgl. « die Wange » die erhöhte gerundete Gesichtsfläche ). Dass die auf die Weidewirtschaft angelegte, germanische Völkerwanderungszeit die würzige Grasfläche als Inbegriff menschlichen Glückes ansah, ersieht man daraus, dass im « Heljant » das Himmelreich « godes wang » genannt wird. Das Wort taucht in zahlreichen Ortsnamen der Schweiz auf, oft auch vom Volk umgedeutet wie in Nesselbank ( Nesselwang ), Holderbank ( Hollerwang ), Affel-trangen ( Apfelbäumewang ), Maseltrangen ( Massholder- oder Wacholderwang ), Wiesendangen ( Wisentwang ).

Über freies, üppiggrünes Gefilde schreiten wir, und immer drohender türmt sich das Wängihörnli ( 2170 m ) empor, das auch Fälsch genannt wird. Zunächst sperrt sich der Name einer Deutung wie sein Träger unserem Zugriff von Norden her. So müssen wir ihn umgehen, die Rasenplanggen der Westseite traversieren und von Süden her fast spielend den Widerstand brechen. Und ebenso leicht erschliesst sich uns das Rätsel seines Namens. Der Fätsch erhielt seinen Namen von den einst hier lebenden Romanen, die dieses Felshorn nach den streifenartigen Gras- und Felsbändern nannten, die besonders für die Ostseite charakteristisch sind. Lateinisch ,fascia'heisst die Binde ( die Fäsche, italienisch fascio, die gebundenen Ruten ). Der Fätsch wird im Altdorfer Volksmund auch ,Napoleon'genannt nach den von dort aus einem Napoleonkopf gleichenden Umrissen.

Und von unserem luftigen Hochsitz auf der schmalen Krempe des napoleonischen Zweispitzes gleitet unser Blick hinab in das sich ostwärts zu unsern Füssen befindliche Tobel des Sulzbaches. ,Sulz ', verwandt mit Salz bedeutete das Salzwasser dann den versumpften Boden. Und diese Bedeutung stimmt bei diesem schattenseitig gegen den Schächen in einer schwer zugänglichen Mündungsschlucht abfallenden Tal. Die modrige Art des Sulzbaches wird noch bestätigt dadurch, dass er im Oberlauf Schwarzwasser genannt wird. Dieser kommt vom Rossboden, einer Halde zwei Kilometer östlich des Fätsch am Nordhang der Spitzen. In diesem Namen steckt das keltische ,drousa ', das « das Gestrüpp aus Alpenerlen und Legföhren » bedeutet. Heute noch wird in Nidwaiden das Gestrüpp oberhalb der Baumgrenze .droslen'genannt. Das anlautende ,d' wurde in den Mundarten als verstümmelter Artikel aufgefasst und d(ie ) Drossalpe sprachlich als d'Rossalpe gefühlt. So wuchern denn überall, wo Alpenerlen wachsen, auch wo Alpenrosen blühen — der Name Rose ist von dem lautähnlichen ,dros'beeinflusst — Flurnamen mit ,dross ', ,ross ', .rossla '. Da sich öfters ,o'zu ,u'abdunkelt, so sind auch Namen, wie die Drusberge ( Kt. Schwyz ) und der Ruossalperkulm ( östlich der Schächentaler Windgälle ) danach benannt.

Doch nun ist genug über diesen Namen sinniert und gerastet. Sonnen-durchtränkte Alpenluft spornt an, die Glieder zu regen und noch tiefer und höher einzudringen in diese sonnig-wonnige Bergwelt.

DAS HOCHFAULENGEBIET Denn nun geht 's ja in eine scheinbar urweltliche Landschaft; nichts stört hier die Stille als der Pfiff eines Murmeltieres und der Schrei eines Bergfalken. Man kann da tagelang weilen, ohne einen Menschen zu sehen, in diesem romantischen Areal der Burg, einem verkarsteten Hochkar mit zwei blauen Augen, dem Burgsee und dem Plattisee. Burg nannten wohl die Bewohner des Haldi diesen nach Westen bastionartig abstürzenden Kalkklotz.

Durch die Lücke 2106 erreichen wir dieses Karrenfeld und verschwinden in dem steinernen Meer zwischen Burg und Blinzi.

Der Blinzi, 2464 m hoch, ist ein gezackter Gipfel, dessen Name sich vom Zeitwort .blinzen'ableiten dürfte: « Blinzi », das ist einer, der blinzt, das heisst, der infolge seiner Helle ,blinzeln macht '. Und es ist in der blendenden Sonne diese grellgraue Kalkmauer wie sengender Stahl. Glattgeschliffen vom Regen und Schnee flimmern seine Platten.

Das Auge sucht auszuruhen auf dem dunkleren Nordhang des Sittliser ( 2450 m ), der auf lockersitzendem Gestein vielfach Rasenpolster trägt. Er ist benannt nach der auf seinem Ostfuss liegenden Sittlisalp. Sittlis geht auf romanisch ,ad situlas'zurück, das heisst « zu den Mulden ». Lateinisch situla ist der « Eimer » ( vgl. das Seidel ). Die Gebirgsbewohner haben ja gerne nach Gebrauchsgegenständen die umgebenden Örtlichkeiten genannt.

Diese Gegend ist ausgiebig durchromanisiert worden, da sie abseitig lag und den von den Alemannen zurückgedrängten Rätoromanen noch lange Schutz ihrer Sprache bot. So liegt südlich der Sittlisalp der Kärscherler-wald, dessen Name sich ebenso wie der alte Name des Maderanertales « Ker-schelental » von einem spätromanischen carischera herleitet, das ist die mit « carex » ( Riedgras ) bewachsene Gegend.

Wenn wir vom Sittliser ostwärts blicken, so erhebt sich jenseits des Brunnitales der 2319 m hohe Wespen, um den Alpen gelagert sind, die nach Prof. Hubschmied einst Wespen hiessen, das heisst « die kleinen Alpen ». In diesem gallischen « wespon » steckt ja die Wurzel ,vesp ', die .nähren'bedeutet ( vgl. lateinisch vespor ,sich nähren ' ).

Trotz unserer sprachlichen Betrachtung ging es rüstig auf- und abwärts über die Schroffen des Platt:igrates. Dieser « plattige Grat » kann auch über die romantische Plattistiege vom S.A.C. Oberfeld her erklommen werden.

Kein Laut ist zu hören, keine Bewegung zu sehen, nur da und dort bergen sich Schafe vor dem flammenden Sonnenball unter Felsen. Wir schlagen ostwärts einen Haken, um dem Faulen leichter auf die Schulter steigen zu können. So vermögen wir in die flache Mulde des Griestals hinabzusehen. « Gries », das ist das Steingeröll, das in diesen von brüchigen Bergen umrandeten Trog hinabrieselt.

Unterdessen ist 's Mittag geworden, und die Sonne sticht steil hernieder. Doch wir sind schon am Ziele: über rötlichbraunes Blockgewirr, über Runsen und Felsköpfe, über Rasenpolster, Steinplatten und Firnschnee empor und — wir haben es geschafft: der Gipfel des Faulen ist erreicht. Wohlig strecken wir die müden Glieder; wir lassen uns umfächeln von dem erfrischenden Luftzug und uns wiegen von der Symphonie des Himmels, der Sonne und der Berge.

DAS HOCHFAULENGEBIET Nur allmählich finden wir uns zu unserer Aufgabe zurück, nur allmählich drängen wir die Seligkeit des Augenblicks zurück, der uns zwingt zum Schauen, zum Träumen, zum Verweilen.

Schon ist unsere Karte nach der Bussole ausgerichtet, und wir suchen die Namen, die wir darauf lesen, wieder ihren Besitzern zuzueignen. Zunächst der Faulen selbst:

Skizze des Hochfaulengebiehes. Marschroure.

ALTDORF 5PIRIN6EN p BuUenstem/och Schrvarzqral- Faulen Griestel Im Flesch Seenör. Windgälle 6210 BRB 3. X. 39 Der Hochfaulen ( fula ) ist mit seinen 2518 Metern der höchste Punkt dieser Kette, freilich südwärtszu beherrscht von den Dreitausendern der beiden Windgällen und des Rüchen. Wie echt alemannisch diese Namen klingen! Stockig und stotzig, trotzig und dräuend, umkämpft und umgellt. Sie bezeichnen ja die gewaltigste Felsmauer im Urnerland, die in ihrer himmelstürmenden Wucht unserem Panorama den imposanten Hintergrund gibt. Der Faulen selbst ist eine breitgezogene Pyramide, die nach Norden steil abbricht. Er besteht aus brüchigem, mürbem, ,fulem'Gestein, nach dem er den Namen hat. Auf solch faulen Platten lagern wir und suchen uns zu orientieren:

DAS HOCHFAULENGEBIET Da unten schimmert blaugrün ein Spiegel; es ist der ewig junge See, die Wiege der Schweizer Freiheit. Und da, gebettet unter dem Bannwald, weisslich und zierlich wie aus einer Spielzeugschachtel geholt, das liebe Altdorf. Und zu unsern Füssen dehnt sich und streckt sich das Haldi, das Oberfeld, eine Welt im Kleinen. Von der Kopfstation der Seilbahn, 1050 m hoch gelegen, zieht sich diese Hochfläche aufwärts, immer wieder durchsetzt von menschlichen Siedlungen, die bis zum Altstaffel ( 1800 m ) emporsteigen.

Da gibt 's einen Hirzenboden ( von « hirz », der Hirsch ), einen Sonntagsboden, auf dem man am Sonntag das Vieh bequemer hütete, ein Pappental, eine lehmige Gegend ( « Papp », die breiige Masse ), ein Hermanig, sich vom Personennamen Hermann herleitend, einen Süssberg, der durch seine süssen, das heisst saftigen Matten auffiel, einen Billenwald mit einem Heimwesen Billen, das ist der mit Birkengestrüpp bewachsene Buckel, eine Eierschwand, das Ge-schwende ( die Rodung ) auf « auwigem », feuchtem Boden.,Billen'ist herzuleiten von romanisch bidla, « die Birke », heute noch im Tessin ,bedra'genannt, aus gallisch ,betula '. ,Betula'wird zu ,bitula ', dieses zu ,bidla'und schliesslich zu ,billa '. « Billen » ist der dritte Fall aus der Fügung « bei den Birken ». Die Verkleinerungsform dazu ist « Bittleten » aus altromanisch « Ad bittulatis » ( bei den kleinen Birken ). « Bittleten » heisst ein Berggut nördlich von Bürglen. Auch die Tellengüter ob der Tellsplatte hiessen in den ältesten Urkunden « Bittleten ».

Der Altstaffel ist das alte, früher benützte .stabulum ', das Nachtlager des Viehs; der Tschorren, eine Steinwildnis mit einem karartigen Seelein, weist auf ein vorrömisches carium ( Stein, Fels ). Das Butzensteinloch, eine felsige Klamm, durch die ein Steig auf den Belmeten zieht, leitet seinen Namen von ,butz'her, das einen Ort bezeichnet, der im Sommer kotig-schmutzige Spuren von Lawinen oder Geschlipfe zeigt ( von lateinisch puteus, die Wasserpfütze ); weiter westlich sehen wir die Alp Gampellen, wieder ein romanisches Namensrelikt, das sich von lateinisch campellum ( die kleine Weide ) herführt. Darunter liegt die Matte Haseli, die nach dem Haselgebüsch den Namen hat. Von dort zieht unser Blick hinab in die Senke des Gangbaches, früher Gandbach, der seinen Namen von der « Gand », dem Gehenden, dem Geschiebe, herleitet.

Vom Faulen schaut man hinüber zum Schwesterberg, dem Belmeten. Er mahnt uns, die Gipfelrast zu beenden und die Stunden der sinkenden Sonne zu nützen.

Mit einem kleinen Umweg südwärts in die Einsattelung des Stich ( des steilen Anstiegs ) abwärts zur steinigen Schafweide des Belmeten, von der der Berg den Namen bekam. Von dort über Felsgewirr hinauf zur Gratlücke 2251 und weiter auf breitem, sanft steigendem Rücken zum Gipfel.

Der Belmeten, 2417 m, ist ein gegen das Reusstal vorgeschobener Kalkklotz, der seinen Namen von der Schafweide zu seinen Füssen erhielt. ,Bal-mita'ist die Verkleinerung zu ,balm ', aus gallisch balma das ist die Höhle unter einem Felsen als Zufluchtsstätte der Tiere. Im Rätoromanischen wurden sie ,balmittas'genannt, und romanische Hirten haben diese Weide vor 1000 Jahren so getauft. Also ist der Name wieder ein verkappter Rätoromane.

Unser Abstieg erfolgt nun gegen die Lücke 1972 zwischen Beimeten und Schwarzgrat. Hinab geht 's zum Wurmsalpli, das wohl nach der ,gaiswura'der Natter, benannt ist, die auf dieser sonnendurchglühten Steinfläche den Schafen und Ziegen hart zusetzte.

Auf schüssigen, rasendurchsetzten Planggen heisst 's scharf lugen und mit « den Genagelten » vorsichtig tasten. Vorbei an Zacken und Türmen immer steil « nidsi » erreichen wir den Schwandiberg und die Felsterrasse « Uf da Gwart », die Bergstation einer luftigen Seilbahn hinab nach Erstfeld.

Qwart, das ist wohl abgeleitet von altalemannisch ,wardon'( beobachten ). Das Wort drang ins Romanische ( vgl. italienisch guarda, die Wache ). Qwart war also ein Wacht-, Signal- und Beobachtungspunkt, ein « Luegeck » in unruhigen Zeiten, von wo man das Feuersignal das Reusstal entlang weiterleiten konnte.

Schon neigt sich die Sonne, und während wir in der Kiste niedergleiten und die bläulichen Schatten des Reusstales uns umfangen, haben wir Zeit, uns vom Bergerlebnis des verklungenen Tages wie von einem sanften Abendhauch umspülen zu lassen und den Ertrag unseres namenkundlichen Streifzuges zu überdenken. Wir spürten eine Welt in uns eingehen, von der wir fühlen, dass sie unsere Seele dauernd bereichern wird. Und darüber schwebte als menschlicher Anhauch die Welt seiner Namen. Wie ein gewaltiger Eisstrom auf seinem Rücken Gestein weitabliegender Gipfel mit sich weiterführt, so sind auch durch die Tragkraft der lebenden Sprache Worte längstverklunge-ner Zeiten an der Landschaft haften geblieben. Was für ein Reichtum in dieser hintergründigen Gegend! Ein Mosaik aus gallischen, romanischen, alemannischen Worten! Und wie friedlich ruhen sie im Vereine am Busen der Natur! Eine Schweiz im Kleinen, eine Schweiz in der Schweiz!

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