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Das Märchen vom Geissstock

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

VON M. EISENHUT-PERROULAZ, ZUG

Vor vielen, vielen Jahren lebten in einem Städtchen ein Schärlein Männer und Frauen. Zufrieden taten sie ihre Arbeit. Der eine war Gärtner, der andere Schlosser, der dritte Buchhalter und der vierte Agent; jeder hatte einen andern Beruf, und während sechs Tagen unterschieden sie sich durch nichts von den übrigen Bewohnern des Städtchens. Doch am Vorabend des siebten Tages, wenn die Leute die feinen Sonntagskleider richteten und die Stiefel auf Hochglanz polierten, schnürten sie einen Sack an den Rücken, steckten ihre Füsse in hohe grobe Schuhe und zogen aufwärts. Denn dieses Schärlein Männer und Frauen hatte ganz andere Herzen als ihre Mitmenschen... sie hatten Bergherzen. Es war Sonnabend, den 1.Oktober. Eingepfercht sassen sieben Männer in einer Kutsche, und ein zweiter Wagen folgte. Mit hellen Augen fuhren die Leutchen durchs herbstliche Land, obwohl ihnen ein böses Erdmännchen für den morgigen Tag schlecht Wetter prophezeit hatte. Nach einer ständigen Fahrt hielten die Kutschen... der Schnauf ging ihnen aus... zu steil war ihnen der Weg. Da schnallten die Männer die Säcke an die Rücken, und zwei ganz beherzte nahmen sich einer beleibten Korbflasche an. Ein goldgelbes Nass gurgelte darin. Auch kleinere Flaschen wurden heraufgetragen mit rotfunkelndem Inhalt. Nach kurzem Aufstieg gelangten die Berggänger an ein einfaches Häuschen. Sie kannten es alle, das braune Hüttlein mit dem Sonnendach. Müsliweid nannte man es, weil hier in hellen Nächten die Mäuschen der ganzen Gegend Zwiesprache hielten. Die Wanderer traten ein, warfen ihre Ränzlein ab und machten sich gleich an die Arbeit. Sie wuschen Berge von Geschirr, trockneten es fein säuberlich, versorgten alles ans richtige Plätzchen, putzten die Schubladen und streiften bunt gewürfelte Anzüge über die Kissen. Einer trug Holz, und in kurzer Zeit knisterte ein lustiges Feuer im Ofen. Am Herd aber stand eine Frau, die rührte in einer grossen Pfanne, und ein feiner Duft verbreitete sich in der ganzen Hütte. Es war nur eine einfache Suppe, aber weil sie mit so viel Liebe gerührt wurde, mundete sie wie eine Götterspeise, und all die Männer und Frauen konnten gar nicht genug bekommen davon. Dann spielten sie Karten, denn die Arbeit war getan. Sie leerten auch von den Flaschen, die sie heraufgetragen, und die verschiedenen Flüssigkeiten verliehen einem jeden, was er gerade brauchte. Der eine benötigte Mut, der andere Schlaf und der dritte Vergessen. Die meisten aber tranken nur aus Durst. Sie sagten es wenigstens so. Es gab solche, die sehr viel und sehr lange Durst hatten. Die andern legten sich schlafen. Da war auch eine Frau, der war etwas bang ums Herz, denn morgen wollte sie mit den Männern ausziehen und über den Adlerspitz zum Geißstock gelangen. Dies bedeutete eine Reise voll Hindernisse, doch der Lohn war verlockend. Oben auf dem Geißstock wohnte der Berggeist, und er hatte eine Gabe für jeden bereit, der den Weg nicht zu beschwerlich fand. Die Frau wäre so gerne... ach so gerne mitgegangen, aber sie hatte kein ganz tapferes Herz, und sie fürchtete sich ein bisschen vor dem Kamin, das man zuoberst durchsteigen musste. Und dann dachte sie ans böse Erdmännchen, das schlecht Wetter prophezeit hatte. Eine lange Weile lag sie mit wachen Augen, dann stand sie auf, hob den schweren Dielendeckel und huschte ins Freie. Tausend Sterne funkelten. Ein kalter Wind hatte die dunklen Wolken vertrieben. Ein strahlender Tag stand bevor. Da schlich die Frau wieder auf leisen Sohlen zum Lager, aber sie fand keinen rechten Schlaf, und das Herz blieb unruhig.

Am Morgen aber machte sie sich mit den Kameraden auf den Weg. Wie sie das erste Hügelchen erreichten, legten sich grosse Nebelschwaden um die Berge. Die Wanderer achteten nicht darauf und schritten weiter. Da wurde der Pfad schmal und verlor sich bald zwischen grossen Steinblöcken. Der Nebel narrte die Suchenden, keiner fand den Einstieg zum Adlerspitz. Man redete von Umkehr. Doch wie wild schlugen sich zwei Junge durchs hohe Gras. Sie wollten den Einstieg finden... sie mussten ihn finden und sie fanden ihn auch. Es war eine luftige Kletterei, ohne besondere Schwierigkeiten, und ein Hochgefühl war in allen Herzen; oben der blaue Himmel, in den Händen der warme Fels und zu Füssen das Nebelmeer. In einer knappen Stunde war die Adlerspitze erreicht. Da gönnten sich die Wanderer eine Weile Rast, um dann den Geißstock in Angriff zu nehmen. Die erste Flanke war steil, aber griffig, und so wurde im Eiltempo ein Stein nach dem andern um- und überklettert. Es folgte der anstrengendere Teil. Der erste Schuhnagel war verloren... Aber auch diese Schwierigkeiten wurden alle gut überwunden, und froh leuchteten die Augen. Sie standen vor dem Kamin. Er war hoch... 40 Meter... und steil, manchmal fast ein bisschen überhängend, bauchig und eng. Es ist schwer zu sagen, wie da jedem zu Mute war, denn man sieht doch nie genau in das Herz des Bruders. Da war einer, der schimpfte, der Kamin sei viel enger geworden, und einer glaubte, böse Geister hätten ihm die allerbesten Griffe abgeschraubt Solche Worte und die von Zeit zu Zeit herunterprasselnden Steine wirkten nicht gerade aufmunternd auf die dritte Seilschaft, die lange wartend am Einstieg stand. Doch der erste dieser letzten Gruppe war ein grosser Mann mit viel Mut; auf ihn konnte man sich verlassen. Immer wieder fand seine Hand eine Ritze, sein Fuss eine Unebenheit im abweisenden Fels, und langsam schaffte sich sein Körper aufwärts. Nur einmal zitterten seine Beine; er musste sich ausruhen. Dann ging wieder alles gut, und er lieh von seiner Kraft der nachfolgenden Frau. Der dritte am Seil bot dieser bei Bedarf seine Schultern, denn ganz allein hätte sie 's nicht geschafft.

Wenn es auch eine beschwerliche Reise war, voll Tücken und Schwierigkeiten, sie erreichten ihn doch alle, den Geißstock. Da kam ihnen der Berggeist entgegen und gab einem jeden zwei grosse Geschenke: das Erlebnis und die Erinnerung. Alle Bergherzen klopften voll Glück und Freude, und sie zogen frohgemut der Hütte zu. Die zurückgebliebenen Kameraden hatten schon Tee und Fleisch und Suppe bereit. Es wurde gegessen von all den guten Sachen und getrunken aus den funkelnden Flaschen, denn das Wasser war dort nicht geniessbar. und das war gut so.

Schon legten sich die Abendschatten auf die grünen Matten, die Ränzlein wurden wieder angeschnallt, und es ging heimzu. Die Geschenke des Berggeistes nahmen sie mit in den Alltag. Und wenn auch jeder das gleiche erhalten hatte, war es doch für jeden wieder ganz anders.... Noch einmal hielten die Kutschen am Wegrand, noch einmal schauten die Berggänger hinauf zum Geissstock, noch einmal bedankten sie sich still für die grossen Geschenke, die sie erhalten... für das Erlebnis und die Erinnerung.

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