Das Schneebrett an der Nesselbodenröti
y. März 1965
Rudolf Glutz, Solothurn
Lawinen im Jura? Zum Lachen. Das gibt es doch nicht!
Wieder einmal Tagwache um 3 Uhr. Es ist Sonntag, und die Familie darf nicht zu kurz kommen. Also: Marsch nach Balm bei Günsberg, wo starke Verwehungen bereits den Gebrauch der Ski aufdrängen. Im Dunkeln habe ich Mühe, den Weg nach der oberen Brücke zu finden. Wohl kann ich auf der freien Weide im Zickzack aufsteigen, nicht aber die wechselnde Neigung des Geländes rechtzeitig erkennen. Da wieder einmal die sattsam bekannte Schneestruktur vorliegt — harter Altschnee mit einer Schicht Pulver darüber -, passiert es nicht selten, dass ich plötzlich einen Steilhang anschneide und völlig hilflos ein paar Meter hinunterrutsche. Dabei gerate ich zu weit nach rechts, und der Hohlweg wird ebenfalls zu stotzig, so dass ich in den Bergwald ausweiche. Schon freue ich mich, wie leicht hier der Aufstieg gelingt; da wachsen die Schwierigkeiten ständig. Je steiler das Gelände, desto flacher muss die Spur werden. Büsche, kleine Rutsche, steile Partien zehren an Kräften und Nerven. Unglaublich, welch absurde Tücken Bindungen und Felle entwickeln können! Hundert Kleinigkeiten, die man einfach nicht glaubt, wenn man sie nicht selber erlebt hat. Trotz mehrmaligem Abtasten z.B. merke ich nicht, dass ein Kabel noch immer im Diagonalzug eingehängt ist. Und wenn das eine Fell zu straff gespannt wird, löst sich auf unerklärliche Weise die Klammer von selbst. Das Gelände wird immer steiler und mühsamer, und ich bin glücklich, als endlich eine weisse Schneekante auftaucht, welche unzweifelhaft das Ende der Plage bedeutet.
Ich quere unten durch nach rechts und setze möglichst weit oben an, um im Bogen nach links den zu einer Steilstufe angeblasenen Schneew'll zu überlisten. Und da geschieht es: Ein dumpfer Knall, wie von weither, lässt mich gespannt um-herspähen, denn ich habe schon weiter unten ähnliche Töne gehört. Da gewahre ich wenige Meter über mir einen klaffenden Spalt - und schon rutsche ich auf einem bestens ausgebildeten Schneebrett in die Tiefe.Vom Schreck wie gelähmt, stehe ich in der wogenden Masse und wage mich nicht zu rühren aus Angst, durch eine ungeschickte Bewegung das Gleichgewicht zu verlieren und mit dem Kopf unter den Schnee zu geraten. Dies ist aber auch die einzige « Handlung » bzw. Überlegung, die ich zu meiner Rettung anstelle. Ich starre wie hypnotisiert auf die Schollen in der Hoffnung, sie möchten zum Stillstand kommen Denn Bindung und Schuhe sind sofort nicht mehr erreichbar, und mit jedem Meter abwärts sinke ich tiefer ein. Nach etwa 15 Metern kommt der Rutsch zum Stehen; bis zum Bauch bin ich verschüttet, schräg hangabwärts in den Schnee gelehnt. Nur zögernd und vorsichtig, in ständiger Furcht, erneute Bewegung der Schneeblöcke über mir zu verursachen, beginne ich meine Beine zu befreien. Ein Fuss ist bereits aus den Tourenbacken geschlüpft, aber die zur Sicherheitsbindung gehörenden Riemen halten ihn fest! Nachdem ich mich an den sicheren Rand gerettet und etwas beruhigt habe, gehe ich daran, auch die Ausrüstung zu bergen, wobei ich einen Ski mit Hilfe einer Reepschnur aus sicherer Entfernung herauswuchte. Endlich sind die Felle wieder angeschnallt, und ich bin sogar kühn genug, nun die Zunge des Rutsches unten zu queren, um im lockeren Gebüsch des gegenüberliegenden Randes der Mulde die Höhe zu gewinnen. Natürlich braucht es noch etwelche Mühe, bis ich die Kante erreicht, mich im haltlosen Pulverschnee hinaufgewühlt habe. Drei Stunden Kampf sind vorüber.
Die Analyse zeigt klar, wie dieses geradezu musterhafte Schneebrett entstand: Woche um Woche hatte der Westwind Schnee über den Sattel geblasen und im Lee zu einer Düne ab- gelagert, wie sie in den schneearmen Wintern oft dem Vergnügen der Wanderer dienen. Ausserdem bildete sich ein gleitfähiger Horizont, gegen den ich ja schon den ganzen Morgen gekämpft hatte. Das Schneebrett selber löste sich in einer Dicke von etwa 70 Zentimeter und auf einer Breite von etwa 20 Meter mit sauberem Anriss rechtwinklig zum Hang. Die ersten Büsche und Bäume und vor allem die abnehmende Neigung des Hanges verhinderten ein weiteres Abrutschen, wodurch ich glücklicherweise vor Schlimmerem bewahrt wurde. Die Auslösung erfolgte eindeutig durch die zusätzliche Belastung, und nicht durch das Anschneiden des Hanges mit den Ski.
Mittags im Lawinenbulletin hiess es dann prompt: « Besonders gefährdet sind ostgerichtete Kammlagen » - Wie gehabt!
Der Weg auf die Rötifluh ist nach dem Erlebten ein Kinderspiel, auch wenn ich mich allein auf weiter Flur durch eine Suppe von Nebel taste. Keine Anhaltspunkte, dafür leichter Schneefall — und wirklich mutterseelenallein. Es wäre zum Fürchten, aber ich liebe diese Spannung, diese Einsamkeit, dieses Suchen nach dem Ziel, nach Wärme, Geborgenheit und einer dampfenden Suppe. Nicht anders mag sich der urzeitliche Jäger nach dem Feuer in seiner Höhle gesehnt haben.
Leise Fahrt im grauen Nichts. Nur das Pfeifen des Windes in den Ohren lässt das Tempo abschätzen. Ich bemühe mich, nach rechts zu halten, um nicht in den Schwelligraben zu geraten, dessen Bäume eine dunkle Wand zu bilden scheinen. Doch welch Erstaunen, als plötzlich ein Mast im Nebel auftaucht! Das kann doch nicht der Skilift auf dem Geiferlätsch seinEndlich wird mir klar: Ich habe während der langgezogenen Abfahrt, im Bestreben, leicht zu bremsen, einen vollen Halbkreis geschlagen und marschiere nun in der entgegengesetzten Richtung. Darum: rechtsum kehrt - und wieder hinein in das endlose Weiss. Abgekämpft und hungrig erreiche ich schliesslich das Kurhaus, wo ein kräftiges Frühstück bald seine Wirkung zeitigt.
2 1 Weiter geht 's, den Schitterwald hinunter, wegen des gewaltigen Zeitverlustes auf der Strasse. Die Stöcke unter die Achseln geklemmt, stehe ich in die Geleise und ziehe notfalls die Textilbremse. Langweilig, aber sehr zeitsparend. Ein Zug kommt wie gerufen zur Stelle; Tunnel -Bahnhof- Solothurn. Die Welt hat mich wieder.