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Den Bergen angetraut

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

Von Arthur Klingele.

Miss M. war zeitlebens eine begeisterte Bewunderin der Berge. Die Walliser Alpen im besondern hatten es ihr angetan. Hoch über dem zerklüfteten, wildzerfetzten Eispanzer des Aletschgletschers, auf Beialps sonnigen Triften verbrachte sie alljährlich, wenn der reife Heuduft über die Almen strich, ihre Ferien. Wenn wildjagende Nebelschwaden gespensterhaft aus den Talschluchten stiegen und alles in ein frostig undurchdringliches Netz hüllten, dann sass sie, weiss in weiss, wie eine Erscheinung in der offenen Hotellaube beim Morgenmahl, verschwand und erschien lautlos in der dichten Nebelwand, und wenn gar der zackige Gipfelhorizont im Blendlichte zuckender Blitze aufleuchtete und die Bergluft von den Donnerschlägen aufheulte, dann steigerte sich ihre Begeisterung aufs höchste. Furcht vor den unheimlichen Launen der Natur kannte sie keine, denn die Natur selbst galt ihr ja als höchste ethische Empfindung. An Sonnentagen aber, wenn die Sonne mit märchenhaftem Farbenspiel ihren goldenen Lichtstrom über das taufrische Hochland goss und auf den Alpweiden ein bimmelnder und muhender Herdenjubel anhob, dann wanderte sie hinaus zu ihren Lieblingsplätzchen im Wald, am Gletscherrand oder zum Tyndallhügel, von wo aus sie den Gletscher, das Rhonetal und den imposantesten Gipfelkranz der Hochalpen vom Weisshorn bis zu den Fiescherhörnern in bildschöner Zusammengehörigkeit überschaute. Hier konnte sie stundenlang schauen und träumen. Bild für Bild nahm sie in ihre hochempfindungsvolle Seele auf und trank der Schönheit Fülle in schwelgerischen Zügen. Sie beneidete die gewaltigen Bergdome um ihre ewige Starrheit, das Firnenlicht und das Blau des Himmels um ihre Reinheit. Ein leiser Schauer durchbebte ihre Gestalt, wenn das unterirdische Stöhnen des Gletschers wie eine Geisterstimme aus fernen Welten zu ihr drang. Öffnete sich aber der anmutige Talgrund mit seinen Wäldern und Matten, mit seinen silbernen Bächlein und winzigen Spuren menschlicher Wohnstätten vor ihr, dann glätteten sich ihre edlen Züge zu einem friedvollen Lächeln, ja es fluteten Glücksschauer über sie, wie Sonnenblicke und Wolkenschatten auf Fluren sich jagen. Sie fühlte sich von irdischer Schwere losgelöst und glaubte, aus einem Guckloch des Himmels die Welt zu beschauen.

Der kühle Abendwind und das Geläute der heimkehrenden Herden brachten sie wieder der Wirklichkeit zurück. Zufrieden und reich von all diesen Eindrücken kehrte sie, behutsam ihre Schritte lenkend, in die gastlichen Räume des Hotels zurück.

Ein ganzer Sommer verging, ohne dass Miss M. ihrem geliebten Erdenfleck einen Besuch abstattete. Der Herbst hatte die Luft zur Spiegelreinheit geklärt, und die kräftige Höhensonne hatte der Alp mit ihren eingeflochtenen Rosengärten das glühende Fieberrot auf die Wangen geprägt, das noch einmal aufleuchtet, bevor der Tod dem scheidenden Leben der Natur seine Schleier überwirft. Was war wohl der Grund ihres Ausbleibens? Hatten die Berge ihre Zauberkraft eingebüsst oder hatten materielle Sorgen und sogar Krankheit ihr die Wege zu den Höhen versperrt?

Ein regnerischer, nebeliger Herbsttag brachte die Lösung des Rätsels. Ihr Bruder, der sie zu Hause wie in den Ferien mit zärtlicher Geschwisterliebe betreute, meldete sich plötzlich zu einem mehrtägigen Besuche an. Auf einem wie ein Fischotter durchnässten Maultier kam er unter strömendem Regen an.

Ich versuchte, das Geheimnis des so späten Besuches aus seinen gramdurchfurchten Zügen zu lesen, doch als Brite kam er mir kurz und entschlossen zuvor. « My sister is dead, I bring her ashes with me. » ( Meine Schwester ist tot, ich bringe ihre Asche mit mir. ) Welche Tragik lag in diesen wenigen Worten. Und nun bemerkte ich auch erst, um wieviel er gealtert und dass eine tiefe Leidensfurche seinen edlen bartlosen Mund umrandete.

Ein warmes Bad, trockene Kleider und heisser Tee brachten ihn bald wieder in sein leibliches Gleichgewicht, und so erzählte er mir von den traurigen Geschehnissen der letzten Monate: wie seine Schwester, von einem hartnäckigen Leiden befallen, hinsiechte wie der Schnee an der Sonne, wie der eiserne Wille noch lange den gebrechlichen Bau wie ein Stahlgerippe zusammenhielt, und wie sie dann, von der erschütternden Tatsache ihres hoff- nungslosen Zustandes gebrochen, ihre letztwilligen Verfügungen traf und ihm mit scheidenden Blicken ihr schwesterliches Vermächtnis hinterliess.

« Da schien noch einmal, bevor der Tod ihre Augen schloss, neues Leben in den leblosen Körper zurückzukehren; es war, als hätte sich die fliehende Seele der starren Umarmung des Schattenkönigs entwinden und zu ihrem menschlichen Gehäuse zurückkehren können. Ihre Augen gewannen neues Licht und Wärme, und ihre Lippen versuchten zu sprechen. Da neigte ich mich zu ihr hin, so dass mein Ohr ihren blassen Mund berührte, und so hauchte sie mir ihre letzte Bitte ins Ohr, ihre sterblichen Überreste, ihre Asche in den von ihr so geliebten Bergen beizusetzen, auf jenem bevorzugten Plätzchen auf Beialp, wo sie so glücklich gewesen, geträumt und Stunden feierlicher Stille durchlebt hatte. Mit einem friedlichen Lächeln ging sie von mir. » Die Augen feuchteten sich bei diesem traurigen Bericht, und ein Ächzen erschütterte den müden Bau des breitknochigen Mannes.

Und so habe ich mich nach Wochenfrist, fuhr er weiter, auf die Reise gemacht und bin nun hier, den letzten Wunsch meiner verstorbenen Schwester zu erfüllen.

Sir, ich bin von der Treue Ihrer Schwester und von ihrem idealen Sinn tief gerührt.

Auf den folgenden Tag wurde die Bestattung festgesetzt, die durch ihre Schlichtheit an die Anfänge des Menschentums gemahnte, an Ergriffenheit aber die pompöseste Begräbnisfeier übertraf. Als Bestattungsort wurde ihr Lieblingsplatz, der Tyndallhügel, gewählt, da das schlechte Wetter ihn von seinem Vorhaben abhielt, die Asche auf dem Gletscher beizusetzen. Auf dem Tyndallhügel ist dem berühmten englischen Naturforscher und Physiker John Tyndall ein Denkmal gesetzt, das wie eine lohende Flamme seine einst so glühende Liebe zu den Bergen versinnbildlicht.

Aus Erika wurde ein Trauerkranz geflochten, da es um diese Zeit keine Alpenblumen mehr gab, und kurz vor 10 Uhr morgens begaben wir uns auf den Weg. Der Trauerzug bestand aus dem Bruder der Verstorbenen, drei Begleiterinnen und mir.

Bald waren wir im dichten Nebel verschwunden, und die hinter uns liegenden Gebäude versanken bald mit Grund und Boden im endlosen weissen Dunste. Lautlos stieg die kleine Karawane den steilen Alpweg hinan, und nur das Aufschlagen der Stöcke und das Plätschern des nahen Bächleins störten die feierliche Stille. In harmonischer Stimmung zu dem sonderlichen Anlass lag die Luft frostig und bleiern über den dürren Alpweiden. Auch den Bergen hatte sie ihre grauen Schleier übergeworfen und nur auf kleine Sichtweite gab sie Schritt für Schritt ein Stück ihrer verhüllten endlosen Domäne frei. Wie Bergkobolde tauchten die Felsen und losen Steinblöcke mit ihren phantastischen Umrissen aus dem grauen Nebel auf, begleiteten uns eine Weile, blieben zurück und verschwanden wieder; andere lagen auf den Knien, neigten ehrfurchtsvoll ihre verwitterten Häupter vor dem Trauer-zuge, wieder andere erhoben ihre Arme zum grauen Himmel empor, als schienen sie Gnade zu erflehen. Ein jammervoll pfeifender Kreuzwind, der vom Gletscher her durch die zerklüfteten Abgründe heraufheulte, sang die Trauermette. Stillschweigend und in Gedanken versunken zogen wir weiter und höher hinauf, und die düstere Stimmung der Natur begleitete uns und legte sich auf das erregte Gemüt.

Endlich, nach einer knappen halben Stunde tauchte vor uns ein pyramidenförmiger Alphügel auf, auf dessen Scheitel ein gewaltiger Steinkoloss dolchförmig in die Höhe ragte, erst ganz blass, wie eine Vision, dann klar und eindrucksvoll. Nun standen wir am Ziel, an unserm Bergfriedhof, den kein Kreuz, keine Umfriedung und keine Trauerweide kennzeichnet, und harrten gespannt der originellsten und einfachsten Bestattungszeremonie, die wir im Leben gesehen.

Von dem steilen und raschen Aufstieg etwas ermüdet, lehnte sich der greise Engländer an die scharfe Kante des Denkmals und verweilte einige Zeit regungslos. Traurig und wehmütig hingen seine Gedanken am Gehänge des grauen Nebels, und seine Augen wurden feucht, als er nach der menschlichen Asche, die er in einer Kunstschatulle geborgen hatte, suchte.

Wir waren im Halbkreis um den Gedenkstein gruppiert, wie man am offenen Grab einer lieben Verstorbenen steht. Da geschah etwas Sonderbares:

Wie auf ein Zeichen teilte sich der Nebel und drängte sich mit Windeseile in die Hochtäler zurück, die Riesengipfel des Weisshorns, des Matterhorns und des Fletschhorns schälten sich von ihrer weissen Umhüllung los und glühten im Hellglanze des Sonnenlichtes. Die Zacken des Beigrates ragten aus dem muffigen Gewölk wie die Rückenflossen eines vorsündflutlichen Ungeheuers. An den roten und abschüssigen Hängen der Fusshörner hingen die Nebel in Fetzen herunter. Über uns aber lachte ein spiegelklarer Herbsthimmel. Dies war alles das Werk einiger Minuten. Die Natur schien die Feier selbst übernommen zu haben. Sie warf sich in Festtagsgewänder, deren prunkvolle Aufmachung allen irdischen Tand übertraf. Sie hatte plötzlich alle Trauer abgelegt und prangte in heller Feierstimmung. Sie bot ihr Schönstes und Bestes zur Heimkehr ihrer grossen Verehrerin.

Dieses überwältigende Schauspiel wurde zum unvergesslichen Erlebnis. Rings um uns das wogende Nebelmeer, über ihm wie gewaltige Leuchttürme die Berge, und wir fünf winzige Lebewesen auf einem Eiland, das wie eine blossgelegte Klippe aus den Dunstwellen hervorragte.

Grossartig, grossartig! kam es begeistert von dem Munde des Engländers, und weihevoll und mit tiefer Ergriffenheit streute er die Asche kreuz-förmig auf den Rasen. Wir entblössten unsere Häupter, und ich legte den Erikakranz über die Stelle, auf der die menschliche Asche sichtbar war.

Dann sandten wir noch einige stille Gebete ins Reich ewiger Vergeltung und traten den Rückweg an. Und schon mummten uns die ersten Nebelschleier wieder ein und bereiteten dem ganzen Zauber ein rasches Ende. Das Erlebte und Gesehene aber nahmen wir als Geschenk ehrfurchtsvoller Erinnerung mit uns nach Hause und bewahren es in steter Ehrung unserer verstorbenen Naturfreundin und als Vorbild einer feurigen Liebe zu unserer schönen Heimat, in der eine Fremde uns beschämt.

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