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Dent Blanche. Viereselgrat

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

Von Hans Hotz.

Um l 45 Uhr des 15. Juni 1931 verlassen wir die Schönbühlhütte und verfolgen das undeutliche Weglein beim unsicheren Licht der Laterne, bis es unter dem Schnee verschwindet. Etwas mühsam arbeiten wir uns die Moräne hinauf bis zu jener Stelle, wo sie in den flachen Gletscher übergeht. Vorerst trägt uns der gefrorene Schnee, so dass wir schnell vorwärts kommen. Hinten im Kessel unter dem Col de Zinal brechen wir jedoch durch die obere, angefrorene Schicht und sinken fast mit jedem Tritt bis tief über die Knie in den nassen Lawinenschnee. Unter dem Bergschrund löschen wir die Laterne.

Das erste Licht des Tages, welches auf unseren Berg fällt, lässt uns in eine Wand blicken, die wir uns in guten Treuen anders vorgestellt haben. Die vom Gipfel, dem Süd- und Ostgrat der Dent Blanche die Ostwand hinunter laufenden Rippen sind sämtlich mit dicken weissen Kämmen bedeckt. Die ganze Wand, die sonst im Sommer vorherrschend schwarz erscheint, ist fast ganz von grauweissem Frühlingsschnee bedeckt. Wir haben keine Zeit, lange zu staunen, macht uns doch die zum Col hinaufführende Wand schon genug zu schaffen. Wir können nicht den normalen Weg verfolgen, da dort so viel Schnee liegt, dass wir bis über den Bauch darin stecken und kaum mehr weiter kommen. Wir sehen uns gezwungen, ganz rechts in vereisten Rinnen emporzuklettern. Nach genau drei Stunden, eine Zeit, die man bei normalen Verhältnissen wohl nicht benötigt, erreichen wir den Col de Zinal, von wo wir einen überwältigenden Blick über den auf dem Zinalgletscher liegenden Morgennebel hinüber zum Obergabelhorn, Zinalrothorn und Weisshorn haben. Während einer Viertelstunde schauen wir dem Lichte des kommenden Tages zu, wie es machtvoll von den leuchtenden Spitzen hinunter zu den Gletschern und Tälern dringt.

Um 5 Uhr beginnen wir den Kampf um den Ostgrat, dessen Aussehen darauf schliessen lässt, dass er heute alles von uns verlangen will, was wir einzusetzen vermögen. Ein kurzer Schneegrat bringt uns zu den ersten brüchigen Felsen, die vorerst gerade aufwärts dem Grat nach überwunden werden können. Kurz nach Durchkletterung einer steilen stark eingeschnittenen Rinne, die infolge der in ihr eingelagerten losen Blöcke grosse Vorsicht erheischt, drängt uns der hier sich steil aufschwingende Grat nach rechts in die Wand, durch welche uns ein Quergang über brüchige Bänder an das untere Ende eines langen Couloirs bringt, welches sich zur Gratschneide hinaufzieht. An dieser Stelle ist der Fels von allerletzter Qualität, dafür bietet das folgende Couloir ein kurzes Stück mittelschwere genussreiche Kletterei in anständigem Gestein, während sonst bis zu diesem Punkte der ganze erste Gratabschnitt des schlechten Felsens wegen wohl grösste Vorsicht erheischt, ohne jedoch den entsprechenden technischen Genuss zu verschaffen.

Wir stehen an der markantesten Stelle des ganzen Grates. Steil und scharf schwingt sich der mächtige Gratturm wie ein grimmiger Torwächter vor uns auf. Senkrecht sind seine nördlichen Wände, senkrecht die Ostkante, doch links in der Wand wissen wir, dass es einen Weg geben muss. Dieser Quergang soll nicht schwer sein, doch heute sieht die Sache sehr wenig einladend aus. Der untere Drittel des Steilabsatzes wird in hübscher Felskletterei überwunden, bis uns die glatten Platten zu einem Quergang nach links zwingen. Da wo der obere vereiste Rand des Schnees sich an die Felsen lehnt, hacken wir uns Tritte und halten uns mit der rechten Hand in einer horizontal verlaufenden Felsspalte. Nach Überwindung einer heiklen, mit Glatteis überzogenen Ecke müssen wir die Felsen verlassen und die schneebedeckte Flanke schief aufwärts durchqueren. Durch die obere gefrorene Schicht stampfen wir tiefe Löcher. Meterhoch liegt hier noch fauler, durchnässter Schnee, so dass wir oft bis zu den Hüften drin stecken und riskieren müssen, dass die ganze schwere Masse mit uns hinunter rutscht. Nochmals müssen wir auf dem oberen Rande des Schnees, die Schulter an die grifflosen Felsen gedrückt, um unser Gleichgewicht kämpfen, bis wir endlich westlich des mächtigen Turmes den Grat wieder erreichen. Das folgende horizontale Stück hat sich einen so hohen und scharfen Firnkamm aufgesetzt, dass wir uns bei dessen Überschreitung wie Variété-Equilibristen vorkommen. Doch dies ist nur eine kleine Vorahnung der Schwierigkeiten, die uns noch erwarten.

Unverzüglich nehmen wir den zweiten Drittel des Grates, welcher sich steil vor uns aufschwingt, in Angriff. Der erste Absatz, der von unten fast unmöglich erscheint, erweist sich als recht gut begehbar. Es folgen Grattürme, scharfe Kanten, luftige Ecken in bunter Abwechslung. Die Freude am Klettern erwacht in uns, wenn wir fern von objektiven Gefahren in festem Granit Schritt für Schritt den Fels bezwingen. Doch werden die Verhältnisse mit jedem Meter, den wir gewinnen, schlechter. Immer mehr Schnee liegt auf den Felsen, so dass wir oft auf dem steilen Kamm prüfen müssen, ob wirklich noch Fels unter dem Schnee liegt, denn oft hängt die dicke Schneemasse in die Luft hinaus.

Um 910 Uhr, nach gut vier Stunden vom Col de Zinal, erreichen wir den Vereinigungspunkt. Hier kommen in einem Winkel von etwa 45 Grad der eigentliche Viereselgrat und der Ostgrat zusammen. Die Begehung des Nordostsporns dürfte wohl kaum dem Ostgrat vorzuziehen sein. Wenn vielleicht auch der erste Teil des Ostgrates ob dem Col de Zinal des brüchigen Gesteines wegen keine hohen Genüsse verschafft, so bietet doch das soeben beschriebene Gratstück nach dem grossen Gendarm eine Gratwanderung allerersten Ranges. Der Ostsporn aber trifft erst ob diesem Teil auf den Ostgrat.

Wir gönnen uns hier eine kurze Rast von 10 Minuten. Von nun an übernehme ich die Führung, die bisher Campell innegehabt hat. Ein stolzer Turm von rötlichem Granit drängt uns in die Nordwand. Ein Quergang führt uns zu einem Kamin, der merkwürdigerweise weder Schnee noch Eis enthält, obwohl er den ganzen Tag von keinem Sonnenstrahl getroffen wird. Nochmals übersteigen wir einen prächtigen Grataufschwung direkt über die Kante; dann ist es Schluss mit den eigentlichen Grattürmen. Es folgt das berühmte und berüchtigte, wenig steile, lange Gratstück, das schon so manchem seine Zeitrechnung über den Haufen geworfen hat. Wir pflegen uns nicht gleich einschüchtern zu lassen, und zudem sind wir diesmal trainiert wie selten. Trotzdem sind wir, wenn nicht gerade erschrocken, so doch mindestens sehr erstaunt. Wir glauben uns in die Arktis versetzt und sind nun ein für allemal überzeugt, dass die Eiszeit doch noch nicht ganz überwunden ist, sondern dass sie sich hier oben den letzten Zufluchtsort auserwählt hat. Die Schneemassen, die auf diesem Grat und in der linken, südöstlichen Wand liegen, sind so gewaltig, dass man sich fragt, wie sie so lange Sonne und Sturm haben standhalten können. Zudem sind sie in einem Zustande, der Bedenken erregt; denn teilweise sind sie stark durchnässt, faul und hohl. Mächtige, tief ausgehöhlte, mit Eiszapfen verzierte Gwächten hangen bald nach links, bald nach rechts über gähnende Wände. Manchmal ist die oberste Schneeschicht auf der Nordseite angefroren, während an der gleichen Stelle die Sonne auf der Südseite den Schnee ausgehöhlt und zermürbt hat. Zwei Minuten lang betrachten wir diese winterliche Landschaft, dann gehen wir zum Angriff über. Unterdessen bilden sich leichte Nebel am Grat, ziehen von links heran und vergehen wieder einige Meter über unseren Köpfen. Diffuses Sonnenlicht dringt durch diese dünne Nebelschicht auf den grauen Schnee, als ich die ersten tiefen Tritte in den Schneegrat schlage. Wir brauchen nicht viele Worte zu verlieren, wissen wir doch, was wir zu tun haben. Fast 20 m Seil liegen zwischen uns. Sollte einer von uns ausgleiten oder mit einer Gwächte hinunterstürzen, so wäre es die Pflicht und Schuldigkeit des Kameraden ( in seinem eigenen Interesse ), ohne Zögern auf irgendeine Art die entgegengesetzte Wand hinunter zu rutschen, zu steigen oder zu springen.

Unter angespanntester Aufmerksamkeit arbeiten wir uns vorwärts. Oft versinken wir bis über die Hüften im faulen Schnee, so dass wir uns platt auf den Schnee legen müssen, um überhaupt beim nächsten Schritt wieder einige Zentimeter zu gewinnen. Wenn die Gwächten gar zu schlimm aussehen, versuchen wir es auf der Nordseite unter dem Schneekamm in den Felsen. Doch sind jene Bänder sehr schmal, die Griffe mit Pulverschnee gänzlich ausgefüllt, so dass wir einige Male in recht heikle Situationen kommen. Wenn wir den Grat wieder gewinnen wollen, müssen wir zuerst tiefen Pulverschnee wegschaffen und darunter Stufen ins Eis schlagen. Kaum sind wir wieder oben und ein Stück weiter gegangen, stecken wir wieder im faulen Schnee. An Abwechslung fehlt es also nicht. An manchen Stellen ist es unmöglich, die Gwächten zu umgehen. Es bleibt nichts anderes übrig, als sachte, sachte darüber zu gehen. 0h, wie gern würde man sich federleicht machen! Die obere Schneeschicht ist aber leider nicht so stark gefroren, dass man leicht auftretend darüber hinwegeilen könnte; im Gegenteil, wir müssen Tritte hineinschlagen, da leichtes Auftreten und nachheriges plötzliches Durchsacken das Abbrechen der Gwächte fast mit Sicherheit herbeiführen müsste. Recht « angenehme » Gefühle löst das dumpfe Dröhnen und das deutlich spürbare Erzittern des hohlen Gewölbes aus. Kaum ist eine solche Stelle überschritten, folgt ein kurzes scharfes Gratstück, und dann neigt sich schon wieder die nächste Gwächte auf die andere Seite. Kleine Grataufschwünge unterbrechen hie und da den Gwächtengrat; dort aber versinkt der halbe Körper im Schnee.

Fast drei Stunden haben wir nun seit der Vereinigungsstelle mit dem Berg gerungen. Um 1205 Uhr begrüsst uns die Sonne auf dem 4364 m hohen Gipfel. Alle Nebel sind verschwunden, und eine herrliche Aussicht, warme Sonnenstrahlen und eine Büchse Mirabellen entschädigen uns für alle Strapazen. Sieben Stunden und 20 Minuten ( inklusive 10 Minuten Rast ) haben wir gebraucht, um diesen widerspenstigen Ostgrat zu bezwingen. Ohne unser ausgezeichnetes Training hätten wir wohl gut 10 bis 12 Stunden benötigt. Körperlich fühlen wir uns gar nicht müde, doch unseren Nerven gönnen wir gerne eine volle Stunde Ruhe und Entspannung.

Um 1315 Uhr steigen wir über die weisse Firnhaube des Dent-Blanche-Gipfels zum Südgrat hinunter. Er ist mir kein Unbekannter mehr, was uns manchen unnützen Schritt erspart. Auch hier führt der Winter noch das Regiment. Doch schon nach einigen Seillängen kommen wir auf trockenen Fels, und etwas weiter unten beim Gendarm präsentiert sich der Südgrat in allerbester sommerlicher Verfassung, und wir geniessen nach dem Vorangegangenen doppelt die anregende Kletterei im warmen Fels.

Im Eilschritt rutschen wir durch die Schuttrinnen der Wandfluh zum Gletscher hinunter, den wir in gerader Richtung zur Moräne überschreiten.

Zum letztenmal dieses Frühjahr « bauen » wir uns ein grosses Hüttendiner, dann wandeln wir nach einem tiefen Schlaf durch grüne Wiesen und farbenprächtige Blumen hinunter nach Zermatt, und als uns der Schnellzug bei untergehender rotglühender Abendsonne durch wogende Kornfelder, blühende Obstbäume und satte Wiesen fährt, da wird uns bewusst, dass hier inzwischen machtvoll der warme Sommer ins Land gezogen ist, und wir freuen uns wieder, nachdem wir unsere Lust nach Kampf mit Eis und Fels gestillt haben, an der friedlichen und weichen Pracht der uns umgebenden Natur.

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