Der Bergsturz bei Silenen vom 18. Juli 1948
vVon R. U. Winterhalter
Mit 4 Bildern ( 38—41 ) ( Zürich ) Auf dem linken Reussufer, gegenüber von Silenen, ereignete sich am 18. Juli 1948 ein Bergsturz ( Fig. 1 ), der über den mächtigen Schuttkegel eines Trockentales abstürzte, Wald zerschlug, einen Stall demolierte und Wiesen überschüttete. Seine grössten Blöcke rollten über die Reuss hinweg und drangen auf dem rechten Ufer bis zu einem Masten der SBB-Leitung vor. Schon seit einigen Tagen war beobachtet worden, dass sich vom Anrissgebiet Steine lösten, die in die Nähe des Trasses der projektierten verlängerten Gotthardleitung gelangten, welche dem Stromtransport vom Süden der Alpen in die Industriegebiete des Nordens dienen soll. Die Erstellerin dieser Leitung, die Motor-Columbus AG. in Baden, liess deshalb das Anrissgebiet untersuchen, um zu prüfen, ob durch eine künstliche Loslösung der Felsmassen das vorgesehene Trasse sichergestellt werden könnte.
Die Anrißstelle ist schwer zugänglich; am besten erreicht man sie, wenn man vom Arnisee durch den steilen Wald absteigt. Die ersten Beobachter vermuteten die Loslösung von der rechten Seite des sogenannten äussersten Teufelstales. Wie sich später zeigte, war aber die Wand links im Teufelstal wesentlich stärker zerrüttet, und der Abbruch erfolgte an dieser Stelle, während auf der rechten Seite die ganze, stark zerrissene Wand stehenblieb.
Die abgestürzten Felsmassen bestehen aus Injektionsgneisen des nördlichen Aarmassivs. Sie gehören dem südlichsten Teil des sogenannten Erstfelder Gneises an, der eine ziemlich unruhige Struktur und Textur aufweist. Er ist von zahlreichen Schlieren eines quarz- und feldspatreichen Materials durchzogen, die in einer vorwiegend aus Biotit, Quarz und Feldspat bestehenden Masse schwimmen Es handelt sich also um ein Gestein von granitartiger Zusammensetzung. Der Erstfelder Gneis ist sowohl in den abgestürzten Trümmern wie am Anriss und in den umliegenden Felsen beinahe unverwittert. Die seit Jahrhunderten den Atmosphärilien ausgesetzten Felsen zeigen höchstens an der äussersten Oberfläche bis in eine Tiefe von einigen Millimetern eine leichte Zerstörung durch die Verwitterung und eine Braunfärbung der Oberfläche, die zur Hauptsache durch Verrosten der eisenhaltigen Gesteins-bestandteile ( Biotit, Pyrit ) verursacht wird. Überall lassen sich glattgeschliffene Rundhöcker, an denen zum Teil noch die Rutschschrammen des Eises des ehemaligen Reussgletschers sichtbar sind, beobachten. Der Gneis ist aber — wie übrigens alle andern Gesteine des Aarmassivs — von vielen Klüften durchdrungen. Die Klüfte ordnen sich in bestimmte Systeme ein, von denen eines ziemlich flach liegt und bald eine schwache Neigung nach Westen oder Osten zeigt; ein anderes verläuft ungefähr parallel dem Reusstal und steht sehr steil. Es ist selbstverständlich, dass die Verwitterung im Laufe der Zeit auch von diesen Klüften aus eingriff; aber sie hat auch hier das Gestein nicht tiefer als einige Millimeter wirklich beeinflusst. Dagegen erzeugte das in sie eindringende Wasser und der vom Herbst bis spät in den Frühling sich oftmals wiederholende Gefrierprozess ( Spaltenfrost ) eine fortschreitende Lockerung. Als Folge des Frostes bildeten sich neue Risse und die Zerstörung griff immer weiter um sich. Da die Felswand im bewachsenen Gebiet lag, hatten auch die Wurzeln von Gräsern, Sträuchern und Bäumen Anteil an der Verwitterung; besonders die Bäume halfen durch ihr Wachstum mit, den Fels von den Klüften aus auseinanderzutreiben. So ist es nicht erstaunlich, dass schliesslich der immer mehr gelockerte Fels einen Zustand erreichte, der bei der geringsten Störung zum Absturz führen musste.
Nach kurzen Vorzeichen ist dann der Abbruch auf der linken Seite des äussersten Teufelstales erfolgt. Der Anriss zeigt frisches Felsmaterial, das zum Teil in mächtigen Platten ansteht und nur von relativ wenigen Rissen durchzogen ist. Also ist auf dieser Seite der labilste Teil abgestürzt. Auf der rechten Talseite, da, wo der Anriss ehedem vermutet wurde, ist der Fels vollständig zerrüttet ( Fig. 2 ). Mächtige Risse durchziehen ihn, und es ist nur eine Frage der Zeit, dass auch diese Partie losbricht und auf ihrer Sturzbahn kleinere oder grössere Zerstörungen anrichtet.
Die niedergestürzten Blöcke, von denen einzelne über 100 Kubikmeter messen — einige Blöcke werden auf ca. 150 Kubikmeter geschätzt —, überrollten sich auf dem steilen Schuttkegel. Im flachen Teil des Schuttkegels verursachten sie Eindrücke und Aufschürfungen von ca. 1 m Tiefe, flogen dann 3 bis 4 m weiter, ohne auch nur einen Grashalm zu krümmen, und gruben sich hierauf wieder in den Boden ein ( Fig. 4 ). Einzelne Blöcke rissen tiefe Gräben auf, andere drangen bis über die Reuss vor und wurden vom fliessenden Wasser leicht talabwärts abgedrängt ( Fig. 3 ). Da, wo sie schliesslich auf-prallten, schürften sie den Boden auf; doch vor der vollständigen Ruhe fielen sie noch um etliche Dezimeter zurück, so dass nach Abschluss der Bewegung zwischen Block und Stauchwall ein kleiner Graben bestehen blieb. Die im Reussbett liegengebliebenen Blöcke wurden gesprengt, und heute ist der Durchfluss wieder ungestört. Die Blöcke auf den Ufern sind Zeugen stets drohender Gefahren.
Die genaue Prüfung des Anrissgebietes ergab, dass eine künstliche Loslösung der sturzbereiten Felsmassen nur mit einem grossen Aufwand an Mitteln hätte bewerkstelligt werden können. Ausserdem hätten noch beträchtliche Entschädigungen für den angerichteten Schaden entrichtet werden müssen. So wurde vorgezogen, die Hochspannungsleitung ausserhalb des gefährdeten Gebietes zu erstellen.
Jeder Bergsturz erregt die Aufmerksamkeit. Man muss sich aber darüber klar sein, dass sich Bergstürze überall im Gebirge ereignen können. Bald da, bald dort brechen Felspartien infolge der fortschreitenden Zerstörung durch Spaltenfrost und Wurzelarbeit los. Dass dem so ist, zeigen die ausserordentlich zahlreichen Schuttkegel und Schuttanhäufungen aller Alpentäler, die nicht oder nur in beschränktem Masse mit dem Schuttransport der einst oder jetzt fliessenden Gewässer zusammenhängen. Die Anrißstellen lassen sich oft über Jahrzehnte an ihrer helleren Färbung erkennen, während das Ablagerungsgebiet meistens schon nach wenigen Jahren von Gestrüpp überwachsen wird.
Mit Ausnahme weniger, lokal begrenzter Stellen ist es ganz aussichtslos, Sicherungsmassnahmen vor fallenden Felsen treffen zu wollen. Es bleibt den Menschen kein anderer Ausweg, als das gefährdete Gebiet zu meiden oder das drohende Schicksal eines möglichen Felssturzes auf Feld und Haus auf sich zu nehmen.