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Die Bernina-Rundtour

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

VON WILLY LIESCH ( BALGACH )

Mit einem Bild ( 87 ) und einer Karte Vermutlich wissen die Italiener über die Schweizer Seite der Berninagruppe weit besser Bescheid als wir über ihre Südseite. Im Gegensatz zu den himmelstrebenden Spitzen des Palü, der Bellavista, des Bernina und deren steilen Nordflanken, weist die Südseite eine Höhenterrasse zwischen 3000und 3500 Metern auf. Der Palü schrumpft zu einem Steinhügel zusammen, die herrliche Bellavista hat « ihr Gesicht verloren », und nur der Roseg kann sich dank seinem Südgrat noch einigermassen behaupten. Aber was die Berninagruppe verloren hat, gewinnen die Bergeller und Bergamasker Berge und die herrliche Disgrazia. Für den Skitouristen ist eine Wanderung auf dieser Höhenstrasse ein unvergessliches Erlebnis.

Aber die Tour wird sehr selten gemacht, und Auskünfte, welche ich vor der Tour sicherheitshalber einzog, waren sehr irreführend. Der Lawinendienst Weissfluhjoch gab für die Schweizer Seite Ende April 1958 eine Schneehöhe von einem Meter auf den Gletschern an und riet, die Tour zu verschieben. Dabei waren die Schneeverhältnisse ausgezeichnet. Die « Meteorologische » erklärte, keine Wetterprognose über mehr als 24 Stunden geben zu können, und mit Mühe entlockte ich dem Wetter-onket ein « momentanes Tief über Westafrika ». Der Hüttenwart der Marinellihütte warf die bezahlte Antwortkarte vermutlich in den Papierkorb. Vom Verkehrsbureau Pontresina wurde mitgeteilt, der Palügletscher, Seite Alp Grüm, sei stark zerschrundet ( was zum Glück auch nicht stimm-te...Ein Kamerad sagte ab, weil er sich nicht fit genug fühlte. Mein Freund Rico meldete einen halben Tag vor der Abfahrt einen Ischiasanfall. So blieb nur noch Kamerad Leo Rau und, in letzter Minute, kam noch Walter Hartmann dazu, ein Mann schnellen Entschlusses.

Am 3. Mai 1958 fuhren wir im Wagen Leos in etwas mehr als 3 Stunden von Buchs nach Pontresina, mit der Berninabahn nach der Alp Grüm, wo wir im Bahnhofrestaurant übernachteten, dem einzigen Hotel, das noch offen war. Vor dem Nachtessen rekognoszierten wir den Beginn der Route, ein kleines Strässchen, welches ohne grosse Steigung zum Palügletscher führt. Von der Lawinen-galerie tropfte noch um 20 Uhr das Schmelzwasser, der Himmel war voll dunkler Wolken. Und zu allem prophezeite die Wirtin Regen.

Um 5 Uhr früh dasselbe Bild. Etwas Mondschein, aber gegen den Piz Cambrena sah es schlecht aus. Um 6 Uhr waren wir bereit. Das Strässchen verursachte uns die grössten Mühen der ganzen Tour. Wir hatten gehofft, harten Schnee zu haben. Er war gerade so hart, dass man Mühe mit Kanten hatte, und so weich, dass man bestimmt bei jedem zweiten oder dritten Schritt einbrach. Und immer wieder zwangen uns apere Stellen zu einem neuen Versuch in dieser oder jener Art. So stand dieses Wegstück einem richtigen « Moränenschinder » nicht nach; statt einer Stunde benötigten wir zwei und ermüdeten mehr als nötig.

Der Sassal Masone, dieser hübsche Skikletterberg, war in eine dunkle Wolke verpackt, welche uns gelegentlich Windstösse und Graupeln zusandte. Über einen kleinen, dreckigen Lawinenfels-sturz erreichten wir ein paar flache Böden, einen zimmergrossen Felsblock, auf dem wir uns zum Znüni niederliessen. Mit hochgeschlagenem Kragen und herabgezogener Mütze, unter Beigabe von Schneekristallen, ging auch das vorüber, nur dass ich mir sagte: « Nun wäre der Moment gekommen, zu erklären: Leider ist das Wetter usw. usw. » Aber ich schwieg, und meine beiden Kameraden schwiegen auch.

Der Gletscher lag nun unmittelbar vor uns. Wir seilten also an, sogar mit Prusikschlingen. Aber eins - zwei - drei - waren wir an den paar Spalten vorbei und stiegen aufwärts in die Lücke zwischen dem Sassa Rosso und dem Pizzo di Verona. Langsam besserte sich das Wetter. Walter hatte seinen « Höhenast » überwunden, Leo begann irgendwelche Arien zu singen; kurz, sehr zufrieden kamen wir hinauf.

In der Lücke, nun schon auf 3000 m, liessen wir uns zur zweiten Rast nieder. Vor uns standen die Bergeller Zacken, die Berge von Bergamo und, ganz rechts, der Monte Disgrazia, einer der schönsten Berge Italiens. Umsonst suchte ich das neue Rifugio Bignami bei der Alp Fellaria, unterhalb der Bochetta di Caspoggio, zu entdecken.

Wir hatten beabsichtigt, auch den Pizzo di Verona zu besteigen. Aber er war blankgeweht. So stiegen wir weiter auf, gegen den Bellavista-Sattel. Aber immer noch waren der Palü ganz und die Bellavista teilweise im Nebel. Der Firn war spaltenlos. Deshalb wanderte das Seil wieder in den Sack. Der Grenzübertritt nach Italien erfolgte ohne eine Formalität, denn hier geht die Grenze mitten durch ein Firnbecken.

Der massig steile, aber ziemlich viele Spalten aufweisende Abhang über den Fellariagletscher hinunter war teilweise im Nebel. Also wieder ans Seil und vorsichtig, die verschneiten Spalten querend, fuhren wir hinab. In halber Höhe seilten wir uns ab und fuhren vollends auf den Gletscherboden hinab. Hier gelangten wir ins Einzugsgebiet der Marinellihütte, von der aus die Skispuren nach Ost und West ausstrahlen. Gemütlich ansteigend, es handelt sich nur noch um ein paar Dutzend Meter, standen wir beim P. 3063, dem oberen Ende einer nach Süden ziehenden Felsbarre, an deren unterm, 200 m tiefer gelegenen Ende die Marinellihütte steht. Schöne Mulden führen hinunter, und schon um 15.00 Uhr standen wir vor unserm heutigen Tagesziel, der Marinellihütte, 2812 m.

Bis auf den Winterraum, eine grosse, warme Küche, und den Schlafraum, kalt und dunkel, war die Hütte geschlossen. Hütte ist eigentlich eine falsche Bezeichnung, denn es ist ein grosses Berghaus, der Antenne nach zu schliessen mit Radiotéléphonie und Fernsehen. Holz war genügend vorhanden, Decken auch. Eine mächtige Seilbahn — die Spannweite zur nächsten Stütze mag wohl über einen Kilometer betragen - dient offenbar dem Warentransport, wenn die Hütte bewirtet ist, was in der Regel von Spätwinter bis Ostern der Fall ist, dann kann man, den Anschlägen nach zu urteilen, eine preiswerte Pension erhalten.

Den langen, schönen Nachmittag faulenzten wir vor und in der Hütte. Immer schöner wurde das Wetter. Eine bronzene Orientierungstafel, mit drehbarem Zeiger, gab die Nomenklatur der umliegenden Berge, Täler und Pässe. Die untergehende Sonne färbte die unendlich vielen Spitzen und Zacken.

Als ich um Mitternacht vor die Hütte trat, lag Mondschein über den Bergen, dunkle Schatten in den Tälern.

Der folgende Tag fand uns um 06.30 Uhr marschbereit. Wir trugen und zogen die Ski und standen, gemütlich steigend, in 35 Minuten wieder auf P. 3063 beim « Signal » im Gletscher ( ein alter Kistendeckel an einer Stange ). Im Aufstieg bewunderten wir immer wieder die warme, braunrote Färbung der Felsen, unterbrochen von grünen Flechten. Hoch über uns, unter den Felsen der Spalla des P. Bernina, klebt die Marco-e-Rosa-Hütte mit ihren Schlafkabinen und grünen Vorhängen. Hier im Becken des Oberen Scerscengletschers war der Firn spaltenlos, und so fuhren wir wie vollkommene Geniesser dahin. Alle Spuren führten gegen den Sellapass. Aber vorher besuchten wir noch das Bivacco fisso, diesen aufgestellten « Überseekoffer ». Zirka 3 Meter hoch, 2 lang und 2 breit, aus Blech, mit Holz gefüttert, mit Drahtseilen gut verankert, steht diese Notunterkunft bei P. 3174 m. Das Innere ist spartanisch einfach, aber genügend: 4 Hängematten, ein Hüttenbuch und eine kleine Gebietskarte. Auch ein Gebet des Papstes, worin dieser, selbst ehemaliger Alpinist, den Segen Gottes für das Bivacco herabfleht, steckt in einem Rahmen.

Hier verweilten wir eine Weile. Wir hatten ja Zeit, viel Zeit. In einer Viertelstunde würden wir auf dem Sellapass sein, wo eine der schönsten Abfahrten der Alpen folgt. Immer und immer wieder mussten wir die Bergamasker Alpen bewundern, den Monte Disgrazia, den kühnen Südgrat des Piz Roseg, den Piz Argient und diese ganze, erhabene Bergwelt.

Mit dem Erreichen des Sellapasses änderte das Bild: Hier standen zum Greifen nah die schimmernden Schneeberge der Sellagruppe, La Sella, Ils Gümels, der Piz Glüschaint und wie sie alle heissen. Abziehen der Skifelle. Abfahrt! Der Schnee war, wie man ihn sich wünscht: 10 cm Pulverschnee auf führiger Unterlage.Vorhandene Spuren und eine sorgfältige Beobachtung des Spaltenverlaufs gestatteten ein Fahren ohne Seil. So glitten wir Stufe um Stufe tiefer, immer wieder haltend, schauend und nochmals schauend. Ein kleines Seitental, gleichsam ein Fenster, zeigte die Tschiervahütte mit dem Silberband des Bianco und der kühnen Eisnase des Scerscen.

Leo fuhr uns mit seinen « Eisenski » davon. Der Schnee wurde schwer, im Talgrund war schon richtiger Schneesumpf mit bläulich schimmerndem, stehendem Wasser, und bald lernten wir auch die « Engadiner-Spezialität », den faulen Schnee, kennen: 2 Schritte vorwärts, dann, wupp, einen halben Meter tiefer. Ein Trost blieb uns, das Rosegrestaurant! Es war geschlossen! Bei einer Rast unter einer Tanne begegneten wir einer Engadinerin mit Bub, Ross und Wagen. Aber so diplomatisch wir es auch anpackten, zurück nach Pontresina wollte sie mit uns nicht fahren. Dabei wäre es ihr sogar von Nutzen gewesen: denn sie hatte in Pontresina Briketts gekauft und von diesen auf dem ganzen Weg einen guten Teil verloren. Das Rosegrestaurant musste übrigens im Winter gut besucht worden sein: der einzige fahrbare Schnee auf der Strasse war mit einem lückenlosen Teppich aufgelöster Rossbollen bedeckt.

Kurz nachdem wir in Pontresina eingetroffen waren, begann es zu regnen, ein richtiger, leichter Frühlingsregen.

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