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Die Gspaltenhorn-Nordostwand

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

Erste Begehung am 29./30. Juli 1951V°n/ Mit 3 Bildern ( 4-6 ) 1. Einleitung Das Gspaltenhorn ( 3442 m ü. M. ) stürzt gegen Nordosten in einer 1700 Meter hohen Wand ins Sefinental ab. Diese Wand ist mit der Eigernordwand die höchste der Berner Alpen.

Sie wird nördlich von einem deutlichen Grat begrenzt, von Weizenbach « Kilchbalmgrat » genannt, der in der Fallirne des Büttlassenjochs verläuft und in drei Viertel Wandhöhe sich verliert; südlich von der Wand der Tschingelspitzen.

Im Jahre 1932 machte der grosse deutsche Bergsteiger Willo Weizenbach einen Versuch zur Lösung des Nordostwandproblems. Er erklärte aber die untern drei Viertel der Wand als « unbegehbar » ( s. sein Buch « Bergfahrten », Berlin 1935, S. 219 ). Daher stieg er in der Rinne des Büttlassen-joches hoch, erreichte dann den Kilchbalmgrat von Norden, verfolgte ihn bis an sein Ende und durchstieg schliesslich auf einem System schwacher Rippen, sich immer nahe am Nordwestgrat haltend, die Gipfelwand des Gspaltenhorns, allerdings weit von der Fallirne entfernt. So blieben vier Fünftel der Wand völlig, die direkte Nordostwand bis zum Gipfel unbegangen. Ernst Reiss durchstieg die Weizenbachroute auf einer Erkundigungsfahrt vom Kilchbalm bis zum Gipfel in sieben Stunden.

Es ist klar, dass diese Route keine Lösung des Problems Gspaltenhorn-nordostwand darstellen konnte. Weizenbach selbst hat das so empfunden, und er schreibt denn auch stets korrekt nur von der « Gipfelwand », die er begangen habe. Ernst Reiss und Hermann Etter wurden von bekannten deutschen Himalayaleuten ( Dr. Fendt, Dr. Bauer ) auf dieses Problem aufmerksam gemacht, von dem diese sagten, es sei das grösste noch ungelöste Problem der Berner Alpen und nur dem Eiger zur Seite zu stellen. Auch österreichischen Bergsteigern und den Stechelberger Führern war das Problem bekannt.

Am 29./30. Juli 1951 hatten Ernst Reiss, Erich Haitiner und ich das Glück, als erste durch diese Wand gehen zu dürfen. Die Route geht aus dem Bild hervor. Der Fels ist im untern Teil ausgezeichnet, im obersten sehr brüchig.

Zeiten: Kilchbalm ab04.00 Uhr Einstieg05.00 » Ende der Steilstufe18.00 » Biwak20.15 » Aufbruch 04.30 » Gipfe111.00 » Ausrüstung: 2 Nylonseile, 1 Reepschnur, 4 Eishaken, 9 Karabiner, 12 Felshaken, 2 Pickel, Steigeisen, 2 Hämmer.

2. Unsere Begehung Samstag, 28. Juli, Strandbad Faulensee bei Interlaken. Ein frohes Bade-volk, platschend und schwimmend im warmen Wasser, ganz unbeschwert und wunschlos die Schönheit der sonnübergossenen Landschaft geniessend. Darunter stecken auch wir drei. Mit Seilen, Pickeln und Steigeisen sind wir ins Strandbad geschlichen, haben unsere Ausrüstung etwas schamhaft hinter dem dichtesten Busch verstaut und wollen nun die Kühle und Fröhlichkeit des Strandlebens zum voraus geniessen: denn die nächsten Tage werden uns kaum Zeit dazu lassen. Um 5 Uhr ist der letzte Kopfsprung getan, die Motorräder beginnen gemächlich ins Lauterbrunnental hinein zu rollen.

Die Gartenwirtschaft in Stechelberg. Ein Berg Rösti, Schinken, Spiegeleier: Kalorienvorrat für zwei Tage soll gefasst werden, was nicht jedes Magens Sache ist. Der meinige auf jeden Fall rächte sich während eben dieser Tage für die erlittene Missetat mit völliger Arbeitsniederlegung.

Mit aller Sorgfalt wird die Ausrüstung nochmals überprüft. Kein Gramm zuviel darf mitkommen. Erich verzichtet tränenden Auges auf eine seiner vier gewichtigen Tabakspfeifen, Ernst stellt Schnaps- und Feldflasche auf die Seite, und bei mir kommt nur gerade ein lieber Brief als unnötiger Gegenstand mit — wegen der Biwakwärme!

Es geht hinein ins Sefinental. Ein goldener Sommerabend sinkt auf die Bergwelt nieder. Die Gipfel der Ferne sind leicht umdünstet, die Rottalflanke der Jungfrau wirft ein gedämpftes Abendlicht ins schattige Tal, in dem wir ruhig aufwärtswandern. Die Wasser scheinen mir noch lauter als sonst in der Abendstille zu rauschen. Es ist mir etwas seltsam zumut. Jene Stimmung, die in Erwartung eines grossen Unbekannten über uns kommt, lässt meine Gedanken um mancherlei Fragen kreisen. Wir plaudern, Belang-losigkeiten, aber im Innern denkt jeder an die Wand, die Gspaltenhornwand. Vorfreude und Vorfurcht, froher Tatendrang und bange Erwartung, all das ist bunt gemischt. Wir wandern weiter. Und dann, mit einemmal, steigt sie empor aus dem schwarzen Grund des engen Tals, schliesst es ausweglos ab, steigt empor, in grauen, schwarzen Plattenschüssen zuerst, höher und höher, zu den Hängegletschern, empor zur leuchtenden Eiskuppel des Gipfels. Unendlich hoch, fern und ruhig scheint sie, unbekümmert um die drei Menschlein, die sie in ihrer Schönheit bestaunen und zugleich ihre Schwächen entdecken wollen.

Bist du es wert, Wand, dass für dich so viel eingesetzt wird, wie wir das tun wollen? Dürfen wir es wagen, trotz unsern Bindungen an Beruf, Familie und Gemeinschaft? Wir wollen nochmals Ja sagen zum Wagnis! Warum? Aus Lust am Abenteuer? Aus Sehnsucht nach dem nackten Kampf des Menschen mit der Natur, die er doch liebt? Aus Liebe zum ganz tiefen Erleben der Berge, wie es nur eine grosse, schwere Tour schenken kann? Aus Freude an einer Leistung, die keinen Gewinn, keine greifbaren Vorteile, die nichts bringt als die Freude und das Glück der Leistung selbst? Aus Freude an einer Leistung, die man einmal, ausnahmsweise, nicht mit Zahlen und nicht mit Geld messen kann? Und wollen wir es nicht auch darum versuchen, weil wir dich fürchten, Berg? Weil wir Meister werden wollen über unsere kleinen Ängste, weil wir aus dem engen Tal der Furchtsamkeit, in dem wir heute abend stehen, hinaufsteigen wollen auf den freien Gipfel der Furchtlosigkeit?

Kilchbalm. Es steht keine Klubhütte da hinten im wilden, engen Kessel des Sefinentales. Aber rechts oben, in den untersten Felsen hebt sich schwarz eine mächtige Höhle ab: die Kilchbalm. Wildheuer haben sie etwas hergerichtet. Wir finden Heu, eine schwarze Kochstelle, etwas Holz und einige mächtige Steinblöcke zum Draufsitzen. Die Kerzenlaterne wird aufgehängt, die roten Flammen des Feuers zucken bald an den Höhlenwänden auf, ein mächtiger Kupferkessel mit Tee steht darauf, die Pfeifen qualmen mit dem Feuer um die Wette, im Halbrund des mächtigen Höhleneinganges steht der unterste Teil unserer Wand im blassen Nachtlicht. Aber an sie denken wir jetzt nicht. Einige Lieder steigen, mit unterschiedlicher Reinheit gesungen; Tee wird geschlürft; man streitet sich um die sicherste Methode, morgens um 3 Uhr ohne Wecker zu erwachen. Das Feuer brennt nieder, wir kriechen zum erstenmal in den Biwaksack, und ich falle sogleich in einen tiefen und traumlosen Schlaf, aus dem mich erst das Ächzen und Räkeln meines Nachbarn Ernst wieder weckt.

Es ist noch finstere Nacht. Die Rucksäcke werden gepackt, der Wettkampf um den leichtesten ist zu Ende gefochten. Eine heisse Ovo soll die letzten Reserven geben. Und dann tappen wir mit dem gewohnten Missbehagen des frühen Morgens in die Dämmerung hinaus.

Wir queren auf gewaltigen Lawinenresten unter dem Kilchbalmgrat durch in den Kessel hinein, der vom Fuss unserer Wand gebildet wird. Leicht geht es auf Trittschnee aufwärts. In 1700 Meter Höhe erreichen wir fast genau in der Gipfelfallinie eine kleine Schlucht, in der wir vom Schnee auf den Fels wechseln können.

Ernst hat vor Jahren schon mit Hermann Etter f eine Erkundigung der untern Wand vorgenommen, und so übernimmt er die Führung. Schon die erste Seillänge gibt uns zu schaffen: solider, aber widerspenstig runder, abwärts geschichteter Kalk; steil bäumt er sich auf und sucht uns abzuschütteln, wobei ihn die gewichtigen Rucksäcke nach Kräften unterstützen. Über steile Platten, vereinzelt mit Schneeflecken bedeckt, geht es zunächst hoch. Immer wieder machen uns die senkrechten Übergänge von einer Plattenzone zur andern zu schaffen. Muntere Wässerlein rinnen die Felsen hinunter, den Augen angenehm, den Adhäsion suchenden Schuhen weniger. Aber es ist doch ein flottes Vorwärtskommen. Wir sind guter Dinge. Und wie dann ein herrlicher Sommermorgen aufsteigt, die Wand mit warmem Licht übergiesst, die Alpweiden im Tal aufgrünen und alles so freundlich dreinschaut, was gestern abend so finster und abweisend aussah, da kennt unsere Zuversicht keine Grenzen mehr.

Der erste Dämpfer sollte aber bald kommen. Immer näher sind wir der ersten, wohl hundert Meter hohen, senkrechten Wandstufe gekommen. Sie war noch nie überwunden worden. Würde sich uns ein Durchschlupf öffnen? In diesen Wänden mit ihren ungeheuren Dimensionen gibt es kein Suchen nach « schönen Kletterstellen », da gibt es nur eines: den besten Durchstieg wählen, der bei diesen Ausmassen immer noch schwer und langwierig genug ist. Wasserfälle rauschen über die Stufe, wir stehen an ihrem Fuss. Ernst nimmt sie in Angriff. Der erste Standhaken singt im Fels, eine solide Basis für die Seilschaft bildend. An senkrechter Wand schiebt sich Ernst höher, quert langsam, langsam um eine Ecke, verschwindet. Steine poltern: Ernst scheint Aufräumarbeit zu haben. Dann ist es wieder ruhig. Ich kann ihn nicht beobachten, bewundere dafür die rötlichen Blüten des Steinbrechs, der in dieser steilen Wand sein Leben fristet und uns mutspendend zunickt. Das Seil ist aus, ich kann nachkommen. Es geht dem zweiten immer gleich: er staunt, dass der erste da durchgekommen ist. Es scheint, als ob der erste am Seil zusätzliche Kräfte gewänne. Ich bin bei Ernst, er geht gleich weiter, jetzt für kurze Zeit in brüchigem Gestein, über eine senkrechte, äusserst exponierte kleine Wand, in der man jeden Griff dreimal betastet, bevor man ihn anfasst. Wieder können wir einen Stand gewinnen. Eine dritte, schwere Seillänge bringt uns auf einen üppigen Balkon, wo wir uns ausstrecken und ins Land hinausschauen können.

Es ist Mittag geworden, die Wand liegt bereits wieder im Schatten, einzelne Steine pfeifen noch weit ausserhalb von uns in die Tiefe. Mittagsverpflegung. Stichwort ist: gedörrte Bananen. Immer wieder tauchen sie auf, die langen, klebrigen Dinger: zum z'Morge, zum z'Mittag, zum z'Vieri, zum z'Nacht. Ich glaube, ich kann meiner Lebtag keine gedörrten Bananen mehr essen. Jetzt aber kauen wir sie mit Hochgenuss. Erich erhöht das Wohlbehagen noch durch einen unbändig duftenden Limburger, den wir « Lawinenparfüm-käse » taufen, während ich vergeblich versuche, den ausgelaufenen Tee meiner Feldflasche aus Ernsts Ersatzsocken zu winden.

Etwa 400 Meter Wandhöhe mögen unter uns liegen. Um 12 Uhr geht es weiter. Diesmal habe ich den Vortritt zu nehmen und tue es gern, denn jeder will nach besten Kräften etwas zum Gelingen der gemeinsamen Fahrt beitragen. Ein grosser Wasserfall, links unter mir, begleitet die Kletterarbeit, die über senkrechte, aber griffige Stufen, dann über Plattenzonen und steile Schneefelder zum zweiten Wandaufschwung führt. In gelbschwarzer Schroffheit riegelt er uns mit wohl 150-200 Metern Höhe den Weg ab. Die Möglichkeiten werden sorgfältig abgewogen. Über schmutzigen, steilen Schnee gewinnen wir einen Kamin, der sich hinter einem überhängenden Pfeiler verbirgt und die ganze Wandstufe durchreisst. Sein unterer Teil ist nass, glatt und unbegehbar. Drei Haken lassen mich den ersten Absatz des Pfeilerkopfes gewinnen. Wie ich da oben auf dieser Kanzel sitze, die Kameraden sichere und dazu hinausschaue ins grüne Land, mit ausgedörrtem Mund, schon etwas wundgekletterten Fingern, während die Müdigkeit leise auf die Augen drückt, und wie dazu noch das Boganggenalpseelein so verführerisch blau und kühl aus seinen Matten herauf glänzt, da kommen mir « schwache, allzu menschliche » Wünsche: Strandbadvisionen, Grapefruit-Bilder... Ich hüte mich, ein Wort von meiner innern Untreue verlauten zu lassen. Aber in Ernsts Augenwinkeln sehe ich, wie auch er heimlich dort hinunterkiebitzt, wo man sich so herrlich sonnen könnte; und als wir Erich hinterhältig fragen, was er jetzt am liebsten möchte, meint er mit grimmigem Spott: « Wieder abe. » Aber diese Anwandlungen müssen verschwinden! Noch sehen wir nicht einmal in die mittlere, etwas flachere Wandzone mit den Hängegletschern hinein, und es scheint uns doch schon eine Unendlichkeit vergangen zu sein, seit wir im Banne unserer Wand stehen. Nach jeder ausgekletterten Seillänge tönt von unten die Frage: « Geht es weiter? » Und es gehtl Zunächst über den senkrechten, aber griffigen Pfeiler, dann hinein in den engen Kamin, durch den man sich mühsam hinaufwürgt, hinaus auf ein steiles, abfallendes Band mit feinem Kies darauf, welches höchste Vorsicht erfordert. Ein weiterer, paralleler Kamin wird gewonnen, mit einem kleinen Überhang verteidigt er sich, dann bietet er uns lose Klemmblöcke zum Höherkommen an, bis man den Kopf an einem abschliessenden Dach anstösst. Doch da führt ein Bändchen nach rechts hinaus, vorsichtig quere ich, und ein Jauchzer kündet meinen Kameraden an, dass der Mittelteil der Wand gewonnen ist, dass die Platten der untern Wandhälfte überwunden sind.

Es ist abends 6 Uhr. Wir stehen am Anfang der Rippe zwischen den beiden Hängegletschern. Auf ihr wollen wir noch möglichst weit hochkommen und dann ein Biwak beziehen. Erich übernimmt die Führung.

Schnell geht es jetzt höher, meist können wir miteinander klettern, in unbedingtem Vertrauen aufeinander, dass in diesem Gelände keiner stürzen oder einen Stein lösen wird. Wasser rinnt über die Platten, feines Moos überzieht sie, und noch hier oben bringt uns hie und da ein blühender, kleiner Steinbrech einen Gruss aus dem Tal und dem Leben.

Abends 8 Uhr stehen wir dort, wo unsere Rippe unter dem grossen Firnfeld des obern Wanddrittels untertaucht. Auf der letzten Felsplatte wollen wir ein Biwak beziehen. Alle Haken werden eingetrieben, Schuhe, Ausrüstung aufgehängt, ein Reepschnurnetz wird auf der abschüssigen Platte gespannt und mit Geröll gefüllt, um die Neigung etwas auszugleichen. Jeder zieht an, was er eben anzuziehen hat. Mit dem Seil binden wir uns an die Haken. Dann nimmt uns der Biwaksack auf, aus dem nur noch drei vergnügte, vermummte Köpfe herausschauen. Im Bordekocher summt ein Kaffee. Die obligatorischen Bananen kommen wie von selbst aus dem Proviantsack. Und dann wird es ruhig auf unserm Horst. Die dunklen Gewitterwolken des Abends sind fortgezogen. Der leise Wind einer sternklaren Nacht reibt und knistert etwas in der Biwakhülle. Das fahle Licht der ersten Nachtstunden liegt noch auf den Gipfeln; in schwarzer Tiefe, 1200 Meter unter uns, steht die Kilchbalmhöhle.

Wir schweigen, jeder ist mit sich beschäftigt. Ich denke an die vergangenen Stunden, frage mich, auf was es eigentlich ankam. Auf das technische und körperliche Können? Ja, das ist Voraussetzung. Aber hier ist das Nebensache, was in den Voralpen Hauptsache ist. Hier ist Ernsts Losung das Wichtigste: « Den Humor behalten. » Heisst das nicht, sich selbst immer in der Hand halten, sich nie gehen lassen, weder in der Unbequemlichkeit des Biwaks noch in der Schwierigkeit einer Kletterstelle, sondern immer, wenn es auch schwer fällt, in Ruhe das Vernünftige tun, den besten Weg suchen?

Bis 12 Uhr schlafe ich, dann weckt mich die Kälte und Härte des steinernen Betts. Auch Ernst ist wach, Erich brummt hin und wieder im Halbschlaf. Wir zwei plaudern in den Morgen hinein: von der Verantwortung des Bergsteigers, seinem Erleben, von Beruf und Vergnügen, von Mädchen und Liebe.

Sachte hebt sich die Nacht. Abbrucharbeiten erwärmen uns, eine heisse Bouillonbrühe tut ein übriges. Um halb 5 Uhr brechen wir auf. Ernst ist wieder an der Reihe. Der steile Quergang durch das Firnfeld in die Gipfelschlucht liegt vor uns. Zunächst ist der Schnee recht gut, nur in den Steinschlagrinnen glänzt Blankeis, muss gehackt werden, und hin und wieder sichert ein Eishaken die Seilschaft. Unglaublich steil flieht der Firnhang unter uns weg und verliert sich im Bodenlosen. « Steiler als der Lauperschild », ruft Ernst zurück. Die Sonne ist längst aufgegangen, als wir die völlig vereisten und verschneiten Felsen der Gipfelschlucht erreichen. Grüne Eis-raupen füllen Rinnen und Griffe, brechen aus bei jedem kräftigen Tritt. Das Gestein ist von einer mehligen Brüchigkeit. Was Ernst in den nächsten Stunden leistet, stellt wohl das Maximum dar, was in solchem Gelände ge- meistert werden kann. In minime Felsritzen krallen sich seine Steigeisen, er stemmt auf Eis durch fast senkrechte Risse empor, über brüchige Blöcke tastet er weg in schwindelnder Exponiertheit. Wir beobachten sein Vordringen mit höchster Konzentration, weichen fallenden Steinen aus, versuchen der Seilschaft das Maximum an Sicherheit zu bieten, obwohl eine eigentliche Sicherung unmöglich ist. In unser Ringen hinein zwitschern die Mauerläufer von den benachbarten Tarratürmen, beobachten die fremden Lebewesen, die da mühsam zum erstenmal in ihr Reich eindringen. Es tönt tröstlich, dieses Vogelgezwitscher, wie nach Garten, Bäumen, Ruhe. Dann wird das Gelände leichter. Ein Quergang von 15 Metern Länge wird nach rechts möglich, wir stehen am Anfang der 200 Meter hohen Geröll-, Schnee- und Eisstufe, die zum Gipfel führt und in deren Mitte wohl die Weizenbachroute auf uns stösst. Die grössten Schwierigkeiten sind vorbei, glücklich vorbei, denn nicht der leiseste Unfall hat uns betroffen. Und doch heisst es immer noch: aufpassen. Mit aller Vorsicht spure ich den nassen, gleitbereiten Schnee hinauf, vermeide die losen Blöcke, räume hin und wieder etwas fort. Ein letzter Firnhang: das Gipfelsignal leuchtet über die Wächte!

Wir sind oben. Es ist 11 Uhr. Wir drücken uns die Hand, froh, dass die Sonnenbrille unsere Bewegtheit verbirgt. Wir schauen hinab in die Wand, in ihre grundlose Tiefe, und dann, aufatmend und gelöst, in die unendliche Weite, Freiheit und Ruhe dieser Gipfelhöhe. Das Lied von den Bergvagabunden... Müdigkeit fällt auf uns. Wir liegen nieder, werden unseres Erfolges noch nicht recht froh, sind zu abgestumpft. Aber dann, am folgenden Tag und an allen Tagen, die ihm folgen, dann blüht unser Erleben auf, füllt unsere Erinnerung immer wieder und unauslöschlich mit Eindrücken, wie sie nur eine grosse Wand schenken kann.

Um die Mittagszeit beginnen wir den sechsstündigen Abstieg nach Stechelberg.

Wir sind dankbar um all das Glück, das uns zuteil geworden war, um das gute Wetter, die günstigen Verhältnisse und vor allem dankbar für das Vertrauen, das jeder von uns zu jeder Stunde in den Kameraden haben durfte, um das Wissen, dass jeder sein Bestes für das gemeinsame Ziel getan hat.

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