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Die Kette des Piz Forun

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

Werner Zwicky, Sektion Scesaplana.

Von Die Sommerferien waren herangekommen, jene Zeit, wo die sonst so geplagten Schulmeister von allen beneidet werden. Damit war zugleich nach wochenlanger unbeständiger Witterung das herrlichste Sommerwetter angebrochen, und so säumten denn Herr Imhof und ich nicht, zur Ausführung der im Winter projektierten Touren im Albulagebiet zu schreiten. Samstag den 21. Juli bestiegen wir am Nachmittag den mit Fremden aus aller Herren Ländern überfüllten Davoserzug, nachdem wir Führer Mettier in Bergün telegraphisch auf den 23. bestellt hatten. Der nächste und bequemste Weg von Davos nach Bergün wäre die hochromantische Landstraße durch die Züge nach Filisur und durch den Bergünerstein gewesen; aber es geht uns zwei wie jenem Touristen in der reizenden Töpfferschen Novelle: Le col d' Auterne, welcher fand, der für einen Touristen gegebene Weg von Chamonix nach Genf sei nicht die platte Landstraße, wo die Commis Voyageurs, die Käsehändler und Finanzbarone reisen, sondern eben der col d' Auterne. Denn der Tourist will Gipfel, Pässe, Abenteuer, Gefahren: warum? Es liegt so in seiner Natur. So hatten denn auch wir beschlossen, über den Piz Forun, jenen Gebirgsstock zwischen Piz Kesch und der Ducankette, nach Bergün zu gelangen, zunächst nicht der Abenteuer wegen ( solche stellten die folgenden Punkte unseres Programmes hinreichend in Aussicht ), sondern um diesen Gebirgsstock kennen zu lernen, über den in sämtlichen Bänden unseres Jahrbuches nicht eine Silbe zu finden ist. Einzig in G. Studers: Über Eis und Schnee ( Bd. III, pag. 112 ) steht die kurze Notiz, daß Coaz im Jahr 1847 die beiden Hauptgipfel Piz Murtelet und Piz Forun bestiegen habe. Dann lag uns auch daran, zu untersuchen, ob der die beiden Hauptspitzen verbindende zackige Grat des Munt Piatta naira begangen werden könne.

So dampften wir denn durch das hintere Prätigau, das von Sommerfrischlern und Passanten wimmelte, nach Davos. Nachdem wir uns hier verproviantiert und in dem behaglichen Junggesellenheim Herrn Rzewuskis, des liebenswürdigen Vicepräsidenten der Sekt. Davos, ein Stündchen verplaudert hatten, machten wir uns kurz vor 7*/a Uhr auf den Weg nach Sertig-Dörfli. Erquickend war in der Kühle des Abends die Wanderung durch das schöne Sertigthal. Als wir, die Schatten des Waldes verlassend, auf die schöne Terrasse von Clavadel heraustraten, drückte die Sonne eben den Scheidekuß auf die Stirn der Bergriesen im Hintergrund, die das Thal so wirkungsvoll abschließen. Tiefe Nacht war bereits hereingebrochen, als wir das freundliche Sommerdörfchen und damit unser Nachtquartier erreichten. Wie gern möchte man hier verweilen, sei es um die benachbarten einladenden Gipfel des Älplihorn, Kühalphorn und der Ducankette zu ersteigen, sei es auch nur um sich einem ungestörten dolce far niente hinzugeben, wozu dieses stille Alpenthal wie geschaffen ist. Doch diesmal hält es uns nicht, und der folgende Morgen sieht uns schon kurz nach 5 Uhr auf dem Weg zum Sertigpaß. Es marschiert sich herrlich in der Frische des schönen Sonntagmorgens. Da bis weit in das fast baumlose Kühalpthal hinein ein ordentlicher und nur mäßig ansteigender Pfad führt, so kamen wir rasch vorwärts. Unterhalb des Seeleins aber mußte der Bach überschritten werden, und nun ging es eine steile, mit Blöcken übersäte Halde empor. Vom Bach weg verloren wir jede Spur des Weges, was uns besonders bei der Durchquerung des nun folgenden steilen Trümmerfeldes verdroß. Es wäre ein verdienstvolles Werk für die gerade in Weg-Anlagen und -Verbesserungen so überaus rührige Sektion Davos, sich auch des Sertigpasses anzunehmen, der seit Erstellung ihrer schönen Keschhütte als bequemster und lohnendster Zugang zu derselben ungleich stärker frequentiert wird als früher. Mein Begleiter erinnerte sich bei einer frühem Begehung des Passes durch dieses langweilige Trümmerfeld hindurch einen Fußpfad benutzt zu haben. Daß wir diesen diesmal trotz allem Suchen nicht entdeckten, beweist doch wohl, daß die Markierung zu wünschen übrig läßt.

Die letzte, mit Trümmern erfüllte Mulde unter der Paßhöhe war mit hartem Schnee bedeckt, über den wir rasch fortkamen. Um 7 Uhr 20 Min. hatten wir die Höhe erreicht und wurden nun für den etwas mühsamen Aufstieg überreich belohnt durch die herrliche Aussicht. Denn gerade uns gegenüber breiten sich die blendenden Eisgefilde des mächtigen Porchabella-Gletschers aus, und daraus erhebt sich die imposante Gestalt des Piz Kesch, des Königs in diesem einsamen Berg- und Gletscherreviere, flankiert vom Piz Val Müra und Piz Albula. Umsonst versucht man, sich auch den übrigen Teil der Aussicht einzuprägen; das trunkene Auge kehrt immer wieder zu dem zuerst Geschauten zurück, und auch in der Erinnerung bleibt nur dieses haften. So ist es wenigstens mir ergangen. Auch botanisch ist der Sertigpaß interessant. Wir fanden da, um nur diejenigen Pflanzen zu nennen, die uns zum Teil wegen ihres massenhaften Die Kette de Pie Forum.2ft Auftretens auffielen, schon beim Aufstieg, dann auf der Paßhöhe selber und auch beim Abstieg zu den Raveis-ch-Seen: Arnica montana, Bellidiastrum Michelii, die zierliche Azalea procumbens, Pedicularis cespitosa, Bartsia alpina, Primula integrifolia, die rosaroten Polster der Silène acaulis, Gentiaua punctata, acaulis und excisa, Androsace obtusifolia, Ranunculus glacialis, Geum reptans, die niedlichen Glöcklein der Soldanella pusilla, Linaria alpina, Saxifraga stenopetala. Unsere besondere Aufmerksamkeit wandten wir dem zu unserer Rechten sich aufbauenden Massiv des Piz Forun und seinem nächsten Gipfel, dem Piz Murtelet, zu, um uns die Aufstiegslinie zurecht zu legen. Über diese konnte von unserm Standpunkt kein Zweifel herrschen, und so verließen wir denn kurz nach 8 Uhr die Paßhöhe und stiegen zu den 200 m tiefer liegenden Raveis-ch-Seen hinunter, deren kleinerer zum Stromgebiet der Donau und damit des Schwarzen Meeres gehört, während der Abfluß des größeren, nur wenige Meter davon entfernten, der Albula und damit dem Rhein und der Nordsee zueilt. Wir hielten uns nicht lange bei diesen Seelein auf, die zum Teil noch mit Eis bedeckt waren, sondern begannen nun ungesäumt den steilen Anstieg zum Piz Murtelet. Zuerst ging 's über wüstes Gneißgeröll, untermischt mit etwas Hornblendeschiefer und dioritartigen Blöcken. Dann betraten wir ein kleines, ziemlich stark geneigtes Gletscherchen ( auf der Exkursionskarte offenbar zu groß eingezeichnet ). Dieses war im untern Teil ganz ausgeapert, aber mit Hülfe unserer Pickel brachten wir uns rasch in die Höhe; weiter oben aber versanken wir bis an die Schenkel in den Schnee, so daß wir endlich für gut fanden, nach rechts in die Felsen zu traversieren. Schließlich trennten wir uns, indem Herr Imhof rechts und ich links durch ein Couloir den Gipfel zu erreichen trachteten. Kaum hatte ich den Blockgipfel betreten und wollte mich eben nach meinem Gefährten umsehen, da tauchte auch schon unmittelbar zu meinen Füßen sein rötliches Haupt aus der Tiefe empor. Es war 9 Uhr 40 Min. Die Höhenquote des Piz Murtelet ist 3031 m die des kleinen Raveis ch-Sees, den wir um 8 Uhr 30 Min. passiert hatten, cirka 2580 m; wir hatten somit die 450 m betragende Höhendifferenz in einer starken Stunde überwunden, woraus man ersieht, daß wir mit keinen Schwierigkeiten zu kämpfen gehabt hatten.

Die Aussicht war über alle Erwartung großartig. Vor allem fesselte uns auch hier wieder der Piz Kesch mit Blaisun und Piz Uertsch ( Piz Albula ) zur Rechten und Piz Val Mura zur Linken. ( Letzterer ist wenige Tage später von Herrn Rzewuski und Herrn und Frau Dr. Gelbke zum erstenmal erstiegen worden. ) Sehr schön präsentierten sich der doppel-türmige Piz Vadret, die elegante Pyramide des Kühalphorn, Scalettahorn und Grialetschhorn. Im Westen zog vor allem die furchtbar zerrissene Ducankette unsern Blick auf sich, deren einzelne Gipfel von hier aus ganz unnahbar aussehen. Ungemein schroff, wild und fast vegetationslos starrt diese gewaltige Kalkmauer gen Himmel. Ein breites Band von Rötidolomit zieht sich vom kleinen Ducan bis zum Piz Val Mala und bringt im Verein mit roten und grünen Quartenschiefern einige Abwechslung in das einförmige Grau dieser Kalkwände. Wie lieblich sticht dagegen das einsame Hochthal Val Tuors ab, durch das man hinaussieht nach den grünen Maiensäßen von Chaclavuot und Chants, ja bis nach Bergün. Im südlichen Quadranten imponieren vor allem die mächtigen Bergünerstöcke Piz Michel, Tinzenhorn und Piz d' Aela, sowie besonders die vergletscherte Errgruppe, die wir in ihrer ganzen Ausdehnung von Piz d' Err bis zum Piz d' Agnelli übersehen. Darüber hinaus ragen der gabelige Piz Forbisch und die stolze Pyramide des Piz Piatta. Die Berninagruppe kommt nicht recht zur Geltung; nur links und rechts vom breiten Kesch erscheinen einzelne vereiste Kuppen derselben. Dagegen überblicken wir die Unterengadinerberge fast vollständig, ebenso die Ortlergruppe und die bedeutendsten Gipfel der Silvretta und des Rätikon. Die Tödikette und die Oberländerberge sind während unseres ganzen Aufenthalts auf der Spitze von leichtem Gewölk bedeckt. Freundlich grüßen aus der Tiefe die smaragdenen Raveis-ch-Seen herauf. Die Keschhütte sieht man nicht.

Nachdem wir uns eine volle Stunde diesen Genüssen hingegeben hatten, traten wir um 10 Uhr 40 Min. die Gratwanderung nach dem Munt Piatta naira ( 3023 m ) an, dessen Spitze wir um 12 ühr 15 Min. betraten. Es ging ohne nennenswerte Schwierigkeiten; die Gegensteigungen sind mit Ausnahme der ersten unbedeutend. Allerdings ist der Grat stellenweise stark zerhackt, und das Hinuntersteigen in die Scharten oder das Überklettern eines „ Gendarmen " beanspruchte bisweilen ziemlich viel Zeit. Wurde der Grat allzu schneidig, so traversierten wir und zwar immer links, weil derselbe rechts fast überall sehr steil in die Val Tuors abfällt.

Auf Piatta naira war die Aussicht noch besser als auf Piz Murtelet. Das Gewölk im Westen hatte sich gehoben, und die ganze Tödikette von der Sardona bis zum Oberalpstock erstrahlte in wunderbarem Glänze. Ihr vorgelagert erschienen die Oberländerberge, der breite mit Dörfchen und Alpen bis auf den Grat geschmückte Heinzenberg, den Herzog Rohan einst den schönsten Berg der Welt nannte, die Gruppe des Piz Beverin, die Splügener Kalkberge. Auch die Churfirsten, die Alvierkette, das Alpsteingebirge mit dem Säntis kamen sehr gut zur Geltung. Links vom Ortler waren nun auch die Ötzthaler sichtbar, und in der Tiefe, am Rand des Porchabellagletschers, die Clubhütte. Hier wie auf dem Murtelet sind Spuren eines Steinmännchens. Um 12 Uhr 40 Min. brachen wir wieder auf, um dem höchsten Punkt, dem Piz Forun ( 3056 m ), zuzusteuern. Die Gegensteigung ist hier am bedeutendsten, der Grat zum Teil noch stärker geschartet, dagegen die Luftlinie bedeutend kürzer, als zwischen den zwei ersten Gipfeln.

Im letzten Einschnitt vor dem Piz Forun rasteten wir zehn Minuten und wandten unsere Aufmerksamkeit der üppig blühenden Flora zu. Außer den oben genannten Phanerogamen, die hier der Mehrzahl nach auch vertreten waren, erfreute uns da namentlich das Eritrichium nanum, der zierliche Himmelsherold, „ der den tiefblauen Himmel der Südalpen an sanfter Kraft der Farbe erreichtferner Erigeron alpinus, Phyteuma pauciflorum, Senecio carniolicus in einzelnen Exemplaren, Gentiana tenella, Saxifraga oppositifolia.

Der letzte Aufstieg ward mir etwas beschwerlich. Die Sonne, die eben ihren höchsten Stand erreicht hatte, schickte ihre glühendsten Strahlen herunter; mein flüssiger Proviant war schon längst zur Neige gegangen, und nirgends zeigte sich ein kühles Wässerlein. ( Wir fanden auf dem ganzen Abstieg und durch die Val Tuors hinaus bis nach Bergün eine einzige Quelle und zwar erst weit unten im Thal. ) Verdrossen schleppte ich den schweren Sack, den ich mit Rücksicht auf eine mehrtägige Tour im Hochgebirge mit allen möglichen Utensilien bepackt hatte, den steilen, mit Gneißtrümmern bedeckten Hang hinauf. Aber endlich oben angelangt, vergaß ich angesichts der überwältigenden Pracht Durst und Müdigkeit. Es war 1 Uhr 30 Min. Herr Imhof war schon seit 10 Minuten da und machte eifrig Notizen.

Die Aussicht auf dem Piz Forun ist ungefähr dieselbe, wie auf dem Murtelet; sie ist bereichert durch den westlichen Teil der Berninagruppe, und rechts vom Piz Linard tritt nun auch die charakteristische Gestalt des Fluchthorns in den Gesichtskreis. Die vier schönen Polster des Eritrichium nanum, der Androsace, der Silène acaulis.und der Saxifraga oppositifolia hatten uns bis fast auf die Spitze begleitet, wo wir auch zahlreiche Exemplare von Lloydia serotina vorfanden. Ein Steinhaufen mit einer hinfälligen Signalstange schmückt den flachen Gipfel. Punkt 2 Uhr traten wir den Abstieg an. Hätte uns nicht Herr Rzewuski das Hüttenbuch der Keschhütte aufgeladen gehabt, so wären wir direkt in südwestlicher Richtung in das Salegt abgestiegen; so aber blieb uns keine andere Wahl, als über die steilen Rasenhänge zur Clubhütte abzusteigen, wo Herr Imhof schon nach einer halben Stunde eintraf, während ich mir ein wenig mehr Zeit nahm und mir namentlich auch in dem Seelein am Fuß des Piz Forun die Wohlthat eines Bades angedeihen ließ. In der Hütte, wo wir in der Person des Herrn Spörri aus Flums einen Clubgenossen antrafen, hielten wir uns nicht lange auf, sondern traten kurz nach 3 Uhr den Marsch nach Bergün an. Nachdem wir unterhalb der Hütten von Chants am Bach einen kleinen Aufenthalt gemacht hatten, langten wir punkt 6 Uhr am Ziel unserer heutigen so genuß- und abwechslungsreichen Wanderung an, hochbefriedigt von all dem Gesehenen und Erlebten.

Daß der Piz Forun bisher fast ganz ignoriert wurde, daran ist wohl ausschließlich die gefährliche Nähe des königlichen Piz Kesch schuld. Die meisten, die eben in diese Gegend kommen, haben es auf ihn abgesehen und lassen die minderen Größen unbeachtet. Wer aber mit möglichst wenig Zeit-, Geld- und Kraftaufwand und ohne Führer eine höchst lohnende und interessante Tour ausführen will, die ihm zugleich einen instruktiven Einblick in das verworrene rätische Alpennetz gewährt, dem sei der Piz Forun warm empfohlen. Wer nicht ganz schwindelfrei ist und auch kleineren Klettereien lieber aus dem Wege geht, der lasse die Gratwanderung sein und begnüge sich mit dem Aufstieg auf den Piz Murtelet von den Raveis-ch-Seen aus oder gehe, wenn ihm mehr Zeit zur Verfügung steht, zur Keschhütte und steige von dort direkt zum Piz Forun auf. Sollten diese Zeilen diesem lohnenden Berge in Zukunft einige Freunde mehr verschaffen, so haben sie ihren Zweck vollständig erreicht.

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