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Die östliche La Rossa-Spitze

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In dem Jahrbuche des S.A.C. XXVIII hat Mr. Coolidge gar eindringlich gebeten, es möge doch ein jeder, der auf neuem Wege in den Bergen gewandelt zu haben glaubt, auch etwas darüber berichten und nicht durch Stillschweigen dem alpinen Historiographen sein mühsames Handwerk noch mehr erschweren. Als ich seiner Zeit diese Bitte las, fiel es mir schwer aufs Herz, daß ich einmal an einem weltvergessenen Punkte eine leere Schoppenflasche und darin, statt einer Visitenkarte, ein Fünfpfennigstück zurückgelassen habe. Um nun, wenn das vermeintlich ungelöste „ Problem " einer Besteigung der östlichen La Rossa-Spitze — mühelos — zum zweitenmal gelöst sein sollte, nicht das weit schwieriger zu lösende Problem entstehen zu lassen, wie die besagte Flasche auf den Gipfel gekommen ist, mögen die nachfolgenden Zeilen geschrieben werden.

Ich war am 20. Juli 1882 über den Kreuzlipaß nach Sedrun gekommen, um auf irgend einem Wege von der Oberalpstraße nach Airolo zu gehen. Als ich aber den Kronenwirt, den alten Lukas Caveng — er starb, wenn ich nicht irre, im Jahre darauf — um Rat und um Angabe eines Führers bat, wurde mir zur Antwort, daß niemand in Sedrun die fraglichen Übergänge kenne, und daß ein Führer wohl nur in Tschamut zu finden sein werde. In Tschamut wußte man nun auch nicht mehr, als in Sedrun; indessen wurde mir doch als etwaiger Führer der im Jahrbuche des S.A.C. XXI, pag. 460, genannte Joh. Martin Peder zugewiesen. Peder erklärte, er sei einmal bis zur Paßhöhe des Passo Bornengo vorgedrungen, die andern Übergänge kenne er gar nicht. Im übrigen würde er wohl überall sich zurechtfinden, doch sei er kein eigentlicher Führer, und das Nachkommen sei — meine Sache. Da meine Absichten sich nicht höher verstiegen, als auf einen vielleicht etwas rauhen Bergpfad, so wurde ich mit Peder bald handelseinig: er sollte mich auf irgend eine später zu bestimmende Paßhöhe geleiten; die Spedition meines Ichs und meines Ranzens von der Paßhöhe bis Airolo wollte ich dann selbst unternehmen.

Am 22. in aller Frühe traten wir unsern Marsch in die Val Maigels an bei nicht allzu guten Wetteraussichten. Peder hatte sich mit einem langen Alpstocke bewaffnet, dessen Ende aber nur noch Rudi-ment è einer Spitze aufwies — ein Zeichen, daß er sich in erster Linie auf seine eigenen Beine verließe; daß es die Beine aber mitunter nicht allein thun, zeigte sich später.

Als wir am Maigelspasse ankamen, entschied |ich mich für den La Rossa - Paß, und wir traten in das Unteralpthal über. Um nicht an Höhe zu verlieren, beschlossen wir, nicht die gerade Richtung einzuhalten, sondern uns an dem das Thal abschließenden Gehänge so lange hinzuziehen, bis wir unsern Paß fänden. Bei der Ausführung unseres Beschlusses kamen wir, ohne es zu bemerken, immer mehr in die Höhe und standen plötzlich vor einem tief eingeschnittenen Graben, der Fortsetzung der die beiden La Rossa-Spitzen trennenden Schlucht. Es wäre recht mühsam gewesen, den Graben zu durchklettern; nicht weniger mühsam schien es zu sein, ihn abwärts steigend zu umgehen. Vielleicht hätten wir aber doch das eine oder das andere gethan, wenn ich mir klar gemacht hätte, daß unser Paß, der schon hinter der nächsten Bergecke lag, nicht mehr fern sein könnte. Als ich nun die seitwärts liegenden Gipfel überblickte, kam mir der Gedanke, es wäre das einfachste, statt den Graben zu überschreiten, auf den nächsten Gipfel hinaufzusteigen und von da in die Val Canaria hinabzugehen. Als ich Peder den Plan mitteilte, drehte er sich um, sah sich den neuen Gegner an und ging dann, ohne ein Wort zu verlieren, auf ihn los.

Betritt man, von Andermatt kommend, das Unteralpthal, so müßte man bald die La Rossa - Spitzen erblicken; als ich aber 1885 mit dem Führer Franz Senn von Gesehenen dem Sellajoche zuging, konnte ich die von mir erstiegene Spitze nicht sicher erkennen. Möglicherweise sieht sie nämlich aus der Entfernung schwieriger aus, als sie ist. Im übrigen ist auch der oberste Teil des Gipfels, der sich mit einer Steilwand plötzlich erhebt, wahrscheinlich von Norden her unzugänglich, falls er sich nicht über einen zusammengewehten Schneegrat erreichen läßt, wie bei meiner Besteigung der Fall war.

Peder und ich waren bald am Fuße des eigentlichen Berges; es ging nun im Zickzack aufwärts über durch kleine Abstürze geschiedene, in der Längs- und Querrichtung geneigte Terrassen. Etwas Vorsicht war nötig, denn der Boden war stellenweise vereist. Als wir an dem untern Ende des schon erwähnten, übrigens recht steilen Schneegrates ankamen, der auf der äußersten östlichen Kante der Nordseite des Berges, hoch über einem links liegenden Gletscherchen, den Zugang zu dem Gipfelturme, um den Ausdruck zu gebrauchen, bildete, rasteten wir eine Weile, dann begann Peder Stufen in den Grat zu treten. Als er oben angelangt war, folgte ich nach; es waren mehr als hundert Stufen. Peder ging nun wieder voran, während ich zurückblieb. Er verschwand hinter einigen Felszacken, kam dann wieder zum Vorschein und ging von der östlichen auf die Westseite hinüber. Er mußte dabei einige stark geneigte, augenscheinlich vereiste Stellen überschreiten, was er nur langsam und mit großer Vorsicht bewerkstelligen konnte. Schon schickte ich mich an, ihm zu folgen, als er, den ich eine Zeit lang nicht mehr hatte sehen können, wieder tiefer unten auf der westlichen Kante des Gipfels erschien und mir durch Zeichen und Rufe bedeutete, nicht seinen Weg zu gehen, sondern geradeswegs zu ihm zu kommen. Wäre ich ihm nicht gefolgt, so würde ich ohne sonderliche Mühe die vereisten Stellen, die er seines schlechten Alpstockes halber kaum hatte überwinden können, stufenschlagend überschritten haben, während ich auf dem von ihm an-geratenen Wege, den weder ich noch er ganz übersehen konnte, in eine etwas unangenehme Lage kam.

Ich mußte hart an dem Rande des Absturzes auf einem Absatze entlang gehen, zuerst auf sicherem Boden, dann kam loser Schutt und dazwischen durch eine vereiste Stelle von so starker Neigung, daß ich es vorzog, den Pickel mit einer Hand zu führen und außer den Stufen auch Griffe zu schlagen. Eine mehr als mannshohe Wand, die den Absatz, auf dem ich mich befand, unterbrach, hätte mich zuletzt fast noch zur Umkehr gezwungen, doch fanden sich an ihrer äußern Kante Risse, in die ich Hand und Fuß einzwängen konnte. Für einen guten Kletterer wäre übrigens daselbst kaum eine Schwierigkeit vorhanden gewesen. Als ich oben ankam, sah ich, weshalb Peder mir nicht, wie ich erwartet hatte, entgegengekommen war. Wir befanden uns beide vor einer Runse, die den Absatz, auf dem wir standen, durchsetzte. Was den kurzen Beinen Peders unmöglich war, konnten meine längern leisten. Im Doppel-sprunge, auf einem mitten im Risse sich erhebenden Zacken aufsetzend, gelangte ich an Peders Seite.

Wir gingen nun auf bequemem Terrain aufwärts und kamen nach einigen Minuten an die Stelle, wo der von der Westspitze kommeude Grat sich an den Körper der Ostspitze anschließt. An diesem Punkte, an dem sich ein kleines Felsenfenster befindet, wäre es möglich, in den wenig tiefer liegenden Grund der die beiden Gipfel trennenden Schlucht zu gelangen und dergestalt vom Gipfelturme auch dann abzusteigen, wenn der Schneegrat, auf dem wir ansteigen konnten, nicht vorhanden sein sollte.

Das Wetter hatte sich seit unserm Abmärsche fortwährend verschlechtert. Norden und Westen lagen längst unter den vorrückenden Wolken, und die Nebel erreichten unsern Gipfel gerade, als wir oben auf einem kleinen, von Norden nach Süden streichenden Plateau anlangten.

Wir mochten eine Stunde oben gesessen haben, als die Nebel sich für einige Minuten verzogen und uns einen Blick in die Val Canaria gestatteten. Wir standen am Rande einer nahezu senkrechten Wand, über deren Höhe ich mir kaum ein Urteil erlaube. Die Niveaukurven des Siegfriedblattes Six Madun liefern eine Höhe von 120 Meter; nach meiner Erinnerung wäre es nicht unerheblich weniger. In dem Panorama vom Signal Borei ( Jahrbuch S.A.C. XXVIII, pag. 354 ) läuft die Wand mit den sich an sie anschließenden, weniger steilen Partien zusammen. „ Hier werden wir wohl umkehren müssen ", meinte Peder. „ Aber ", wandte ich ein, „ können wir denn nicht auf den Bändern, die an der Wand entlang laufen, hinunterkommen ?" Ganz vergnügt erwiderte Peder: „ Wenn Sie da hinunter wollen — gehen wird es schon. "

Die wiederkehrenden Nebel nötigten uns zur Verschiebung des Abstieges; erst nach neuem, längerm Warten konnten wir uns auf den Weg machen. Das Band ist allerdings nur schmal, aber der es meistens bedeckende Rasen war nach den Regengüssen der letzten Tage in bester Verfassung und gewährte absolut sichern Stand. Nach längerer Trockenheit, wenn das Gras verdorrt und glatt ist, wird aber das in beiden Richtungen abschüssige Band nur mit großer Vorsicht betreten werden dürfen. Die einzige etwas unangenehme Stelle liegt schon ziemlich tief unten. Das Band bricht ab, und drei weite Schritte müssen, schmale Vorsprünge benutzend, gemacht werden. Eine besondere Schwierigkeit ist dies zwar nicht, aber der Gedanke, daß ein Vorsprung abbrechen könnte, war bei der Beschaffenheit des Gesteins nicht zurückzudrängen, und die vorsichtig mit Peders langem Alpstocke angestellte Untersuchung der Vorsprünge konnte keine volle Beruhigung gewähren.

WTir erreichten schließlich den Fuß der Wand nördlich von dem kleinen Lago di Froda und sahen, weiter absteigend, bald zu unserer Linken den flachen, breiten Sattel des La Rossa-Passes. Über das Ende unserer Fahrt ist nichts Besonderes zu berichten. In Airolo angelangt, lohnte ich Peder ab unter gebührender Berücksichtigung seiner Mehr-leistungen. Dann nahmen wir herzlich Abschied voneinander, er, um durch den Tunnel mit der Eisenbahn heimzukehren, was er für den interessantesten Teil seiner Bergreise hielt; ich, um die Nacht in Airolo zu bleiben und am nächsten Morgen nach den Tosafällen zu wandern.

Über die Dauer unserer Besteigung kann ich nichts angeben; man wird übrigens nach der Karte von dem Punkte aus, wo wir uns gegen den Berg wandten, bis zur Spitze reichlich 300 Meter rechnen müssen.

Das Blatt Six Madun ( Nr. 411 ) scheint die Nordseite der La Rossa-Gipfel nicht ganz darzustellen. Als gemessen bezeichnet es den Westgipfel von 2791 m. Ob er bei der Messung betreten wurde, kann ich natürlich nicht sagen; auf unserm Gipfel fanden sich keine Zeichen einer frühern Besteigung. Ein Führer, den ich in Airolo über den Gipfel befragte, schien von der ganzen Gegend nicht mehr zu wissen, als in Sedrun bekannt war. Auch Franz Senn, der lange Jahre im Gotthardhospiz be-dienstet war, kannte von der Umgebung des Unteralpthales nur den Sellapaß.

Was endlich die Aussicht von der östlichen La Rossa - Spitze betrifft, so kann ich nur das über sie sagen, daß der Rheinwald vollständig überblickt werden kann; alles übrige lag im Nebel.

Bei dieser Gelegenheit möchte ich nachtragen, daß ich den von Herrn A. Wäber 1887 gemachten Abstieg durch das Guspisthai vom Pizzo Centrale ( Jahrbuch S.A.C. XXIII, pag. 513 ) schon am 28. August 1878 gemacht habe. Ich war mit dem Führer Andreas Sulzer beim schlechtesten Wetter über den uns beiden unbekannten LecM-Ywerber-Paß nach dem Hospiz gekommen. Aus der Dufourkarte entnahm ich dann, daß der kürzeste Abstieg vom Pizzo Centrale für den nach Andermatt Gehenden der durch das Guspisthai sei. Auf meine Fragen, wie dieser Weg beschaffen sei, wurde mir im Hospiz nur die Antwort, daß nichts über ihn bekannt sei, was Sulzer und mich natürlich nicht davon abhielt, ihn einzuschlagen. Schwierigkeiten irgend welcher Art fanden sich auch damals im Spätsommer nicht. Die Schweigsamkeit der Hospiz-bewohner erklärt übrigens, weshalb der Weg durch das Guspisthai so lange unbekannt blieb, so empfehlenswert er auch für alle vom oder zum Hospiz Gehenden ist.

Kaum minder empfehlenswert ist der Sellapaß, wenn man mit ihm den Besuch des Giubing verbindet, obwohl Tschudi noch 1895 ihn für „ ohne Wert " erklärt. Die auch von Mr. Coolidge a. a. O. pag. 122 gelobte Aussicht vom Giubing ist derjenigen vom Pizzo Centrale fast gleich, wie ich mit Hülfe des Heimschen Panoramas konstatieren konnte. Am vorteilhaftesten istdie Benutzung des Sellapasses für den, der in das Rheinthal will oder daher kommt, wobei natürlich die Val Maigels zu passieren ist. Ich möchte dann noch bemerken, daß es nach der Aussage Franz Senns bequemer ist, über den Giubing zu gehen, als direkt vom Sellapasse in die Val Torta abzusteigen.J. Lüders ( Sektion Basel ).

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