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Die Seele des Aostatales

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

VON JEAN PIÉRARD, BRÜSSEL

Miti Bild ( 122 ) Ihr Berge im Val d' Aosta, ihr seid meine grosse Liebe! Das ist das Thema eines Volksliedes aus dem Aostatal, wo es übrigens viele solche Lieder gibt. Schriftsteller und Dichter haben es auch besungen mit aller Leidenschaft, die seine Bilder in ihnen erweckten. Und durch deren Feder ebenso wie durch das Land selbst, durch seine Menschen und die Melancholie seines Horizontes kommt man seiner wahrhaft treuen Seele näher, der Seele eines Landes von grosser Blüte, die es seiner Freiheit, seinen Vorrechten, seiner früheren Unabhängigkeit und der Erinnerung an eine glorreiche Vergangenheit verdankt, die gleich dem Schwung seiner Berggipfel zum Himmel aufstrebt. Der ehemalige kleine, « intramontane » Staat, wie ihn sein Historiker J.B. de Tillier bezeichnet, besteht aus einer Reihe von Tälern - eines reizvoller als das andere -, die sich vom Mont Blanc bis zur Ebene von Ivrea erstrecken und die alle in das von der Doire eingegrabene Haupttal münden. Da ein Teil der Seitentäler mit Pont-Saint-Martin, Gressoney, Verrès, Châtillon-Breuil, Courmayeur im Norden bis an die Schweizer Grenze reicht, der westliche Teil an Frankreich und der Süden von Pré-Saint-Didier bis nach Rhêmes, Valsavaranche, Villeneuve, Cogne, Champorcher an die Provinz Turin grenzt, breitet sich die ganze Landschaft weit aus und erzeugt jene besondere Faszination, die nur durch die Entdeckung des Hochgebirges erlebt werden kann.

Von diesem Gebirge weiss der Landsmann, dass es ihn nie enttäuscht und dass man immer wieder zu ihm zurückkehrt. Auch wenn heute die moderne Scheune den alten Heuschober verdrängt und viele Neuerungen das Aussehen des Landes verändert haben, kann es der Ausge-wanderte nicht vergessen. Er macht es sich zur Ehre, dem Ruf von Boniface de Challant treu zu bleiben, dem Mann, der wohl sein erster Dichter war und von dem ein auf einer der uralten Mauern des Schlosses Fénis eingravierter Vers aus dem Jahre 1402 seine Vaterlandsliebe zum Ausdruck bringt:

« Armes Vöglein, das so weit Fliegst fort von der Doire, Bewahr in deinem Herzen den, Der weint und für dich betet. » Ist die Doire, die von den Bergen herunterströmt und mitten durch das Aosta-Tal fliesst, nicht seine Schlagader, die sein Herz am Leben erhält und in ihrem Wasser seine Seele offenbart, indem sie die Erde mit ihrer Gletschermilch nährt?

Sie ist heilig, die Erde des Aostatales. Nie würde ein Erbe einem Fremden eine Parzelle verkaufen. Das ist ein Merkmal seiner Bewohner, ihrer der Denkart von Maurice Barrès ( Die Erde und die Toten ) so nah verwandten Mentalität. Die Heimat bedeutet dem Einheimischen in der Tat alles.

Zwischen Frankreich und der Schweiz aufgeteilt, besitzt das Aostagebiet, das durch enges und vollkommenes Zusammenwirken von Natur und Mensch sein Gepräge erhalten hat, einige der höchsten Schneeberge Westeuropas. Seine alten Gipfel sind schwer mit Geschichte beladen. Die Präsenz der Römer zeigt sich beinahe überall, vor allem aber in Aosta und Pondel, und das Gebiet weist an die hundert Schlösser, Landsitze und Türme aus dem Mittelalter auf.

Aber weit eher als dieser geschichtliche Nimbus ist die Seele des Aostatales, noch teurer als die Landschaft, aus der langen Anwesenheit des Menschen im Lande selbst geboren worden. Sie lebt und dauert fort in dem Eide, den einer der edelsten Lehnsherren, Pierre de Hallant, von seinem Vasallen, dem Grafen von Vert, forderte: « Ihr müsst schwören, die guten Bräuche dieses Landes zu bewahren. » Heimat! Das ist für den Landsmann, wie viele Schriftsteller richtig bemerkt haben, nicht die Gesamtheit der Täler. Es ist für ihn hauptsächlich das Land der Väter: die Gemeinde, das Dörfchen, der Hof, die Felder ringsum und die Alp mit dem traditionellen Alpaufzug.

Sie ist eine gefühlsmässige Vorstellung, die sich auf die einfachen Dinge des Lebens gründet. Aber es ist sehr schwer, dieses kostbare Ideal, das im Herzen des Bewohners vom Val d' Aosta lebt, gegen den ständig wachsenden Fremdenverkehr zu verteidigen und es zu bewahren. Und doch ist das der einzig gültige, dem Zahn der Zeit widerstehende Vaterlandsbegriff, wenn das Aostatal, wie jedes sich respektierende Bergland, seinen Charakter weiter behalten soll.

Diesen finden wir fast intakt im Buthier-Tal, das den Touristen am wenigsten zugänglich und vielleicht am charakteristischsten ist.

Da liegt in der Nähe der Ollomont-Region die bedeutende Alp By, die grösste, die ich kenne, überaus reich an Blumen und Wasser. Welch beglückende Einsamkeit, in der man das Herz der Heimat schlagen fühlt! Und ganz nahe der Mont Morion! Da wollen wir Amilcar Crétiers, Basilio Olliettis und Antoine Gaspards von Breuil gedenken, die im Juli 1933 bei der Erstbesteigung des Pic Tyndall über den Amicis-Grat abstürzten und in dem kleinen Friedhof von Valtournanche ruhen. Amilcar Crétier hat in einem Brief an seine Schwester seine ganze Liebe für die Berge und Valpelline ausgedrückt.

Und es wäre unverzeihlich, im Zusammenhang mit Valpelline nicht den Historiker und ausgezeichneten Humanisten, Pfarrer Joseph Henry, zu würdigen ( 1870 in Courmayeur geboren und 1947 in Valpelline gestorben ), an dessen edle Gestalt eine Gedenktafel an der Mauer der alten Kriche erinnert. « Hier », kann man auf italienisch lesen, « stand während 45 Jahren Abbé Joseph Henry, Pfarrer von Valpelline, Schriftsteller, Historiker und Naturwissenschafter, im Dienste Gottes, indem er sein hochwohllöbliches Amt in der Freude an den Blumen und der Leidenschaft für den Alpinismus ausübte. Er war ein unvergleichlicher, zu sichtbaren und unsichtbaren Höhen leitender Führer. Das italienische Verkehrsministerium hat seiner am 2. nationalen Kongress im Juni 1951 gedenken wollen. » Könnte es ein ergreifenderes Andenken geben an diesen Mann, der aktiver Dichter der Naturschönheit eines Landes war, in dem die Seele in ihrer tiefen Einsamkeit dem Himmel nahe ist?

Diese Einsamkeit findet man auch wieder von Prarayé bis Poillaye und Bionaz, wenn man versucht, das imposante Kraftwerk, das man da oben gebaut hat, zu vergessen. « Hier, » hat Saint-Loup geschrieben, « spannen die Frauen in alten Zeiten Nesseln, um ein grobes Tuch herzustellen, und der Schuster verarbeitete Arvenholz. » Es war ein Land starker, einfacher, ursprünglicher Menschen, die sehr erdverbunden waren. Ohne Zweifel haben sich die Zeiten geändert, aber es gibt immer noch hochgelegene Alpen, wo man dem Berg nahe ist, sich selbst etwas näherkommt und sich besser bewährt.

Und wo kann man eher mit den Bergen allein sein als in einigen ihrer geheimen Gebiete, oberhalb von Pont-Saint-Martin, die sie eifersüchtig für sich selbst beanspruchen, wo sie strenger und wilder werden und mit ihren riesigen Felsmauern steil zu den Ufern der Doire abfallen. Da könnte man die Verse von Louis Zumstein zitieren, der 1871 in Gressoney gestorben ist, der sein Aosta tief liebte, wenn er mit ihm allein sprechen konnte, fern vom Getümmel einer Welt, die aber noch ganz anders war, als wir sie heute kennen. Er hat das Glück, mit den Bergen verbunden zu sein, folgendermassen besungen:

« Wenn du fern vom Getöse dieser Welt,Fühlst du dich wohl wie im Himmel Gelangst auf die höchsten Berge,Und sehnst dich nach nichts anderem mehr... » Der ärmste Bergler wünscht nichts anderes als sein Bergland. Für manche bedeutet dieses das grösste Glück, sogar heutzutage noch, wo der Fortschritt überall eindringt.

Die Seele des Aostatales ist glücklicherweise trotz allem noch da und dort lebendig, besonders im Val de Cogne, in den Trachten der Frauen mit den langen schwarzen, plissierten Röcken und den steifen, wie Panzer angegossenen Miedern, eine Erinnerung an alte Hirtenkultur, die an Festen und Bergsonntagen weiterlebt, wenn die Kirchenglocken lange läuten und die Herzen von der Last des Werktags befreien.

Aber diese den Augen und der Seele so lieben Trachten verschwinden immer mehr:

« Mit dem Fortschritt in der WeltFrauen und Mädchen werden teuer, Wird heute alles ärmer,Wollen feines und neues Gewand. » Dies konstatierte Jean-Baptiste Cerlogne, der Pfarrer von Saint-Nicolas, der selbst so etwas wie die Seele des Landes war.

Vom Dichter Jean-Baptiste Cerlogne sprechen heisst, es auch von Saint-Nicolas tun, dem kleinen Dorfe im Haupttal von Aosta, was seine Schönheit aber keineswegs beeinträchtigt. « Saint-Nicolas », hat Saint-Loup geschrieben, « ist ein bedeutender Ort im Tale und in der Poesie, ein magischer Anziehungspunkt im Lebensraum der Bewohner des Tales, ein Ort, wo man wirklich den Geist der Berge spürt. » Dabei muss ich unwillkürlich an die Bettmeralp im Wallis denken, allerdings ohne ihren mächtigen Gletscher. Am Rande eines Felsens zwischen Himmel und Erde eine weisse Kirche, ein bescheidener Friedhof, wo das Gras die Gräber überwuchert. Da kann man die Dinge dieser Welt vollständig vergessen, sich von allem lösen und über die gewöhnlichen Hindernisse hinweg zu sich selbst kommen. Der Mensch, der dort lebt, ist ohne Alter und liest die Zeit nur am Lauf der Sonne über den Bergwänden ab. Da ruht der Dichter Jean-Baptiste Cerlogne, oder, besser gesagt, da lebt er weiter im Geiste, den er dem Berge gegeben und so gut besungen hat. Da ist er geboren. Er hat seine Heimat leidenschaftlich geliebt. Und da ist er auf ewig begraben, was er sich, wie ich glaube, immer gewünscht hat.

Als echter Dichter einer Talschaft hat Jean-Baptiste Cerlogne Gedichte voller Leidenschaft und Bewunderung für sein Land geschrieben. Aber der reinste Edgeruch entströmt ohne Zweifel denjenigen, die er schrieb, bevor er in den geistlichen Stand trat und nachdem er wieder ganz Bauer geworden war. Seine Meisterwerke « La Marenda à Tsesallet » ( 1885 ) und « La Bataille die Vatse » ( 1858 ) lassen vor unseren Augen ein Aosta-Tal erstehen, wie man es heute noch haben möchte.

« La Marenda à Tsesallet » ist ein wirkliches Kleinod, das die alten Sitten heraufbeschwört, die heutzutage nur noch ein Traum sind. Der Pfarrer von Saint-Nicolas hat davon wie ein flämischer Maler ein reizvolles ländliches Bild gezeichnet. Man braucht nur den Anfang eines seiner Gedichte zu lesen, um überzeugt zu werden:

« Eines schönen Morgens überkam mich die Lust, Ich nahm meinen Stecken und ging ganz allein Spazieren zu gehn. Ich schloss mein Haus,Einen Besuch machen in Tsesalle. » Anlässlich der Enthüllung des Denkmals, das man dem Dichter in Saint-Nicolas errichtet hat, hielt Advokat Désiré Lucat, ebenfalls ein Dichter, im Dialekt eine ergreifende Ansprache, in welcher er hervorhob, was der Heimatdichter für sein kleines Land gewesen sei und gewiss immer bleiben werde. Wenn ich diese Zeremonie erwähne, so will ich damit auch an das Werk von Désiré Lucat selbst erinnern, der in bildhafter und sehr persönlicher Sprache die Weinernte auf dem Hügel von Aosta an schönen Oktobertagen besingt. Von einem besonders faszinierenden Charme geprägt, verherrlichen diese poetischen Aufsätze die malerischen ländlichen Traditionen und lassen uns tief in die Volksseele hineinblicken.

Soll ich auch von Rhêmes-Notre-Dame sprechen, wo alles im wahrsten Sinne des Wortes Licht und Natur ist, wo alles dazu beiträgt, eine Landschaft früherer Zeiten zu schaffen? Verlorenes Paradies, beinah vollkommene Abgeschiedenheit, kaum berührt von der Unruhe der Welt! Sicher hat der junge Priester Maquignaz von einer solchen Stätte der Schönheit die folgenden Worte geschrieben: « Wenn ich wieder das Leben führen müsste, das ich vor meinem 13. Altersjahr gekannt habe, würde ich mich vollkommen glücklich fühlen ».

Als er das sagte, erinnerte er sich der Tage, die er auf den heimatlichen Alpen verbracht hatte. Der Alpaufzug im Juni und die Abfahrt im Oktober sind regelrechte Riten, die dem Leben eine Erhabenheit, eine Art Religion verleihen, welche an den vom Berg bestimmten Ablauf der Jahreszeiten gebunden ist.

Da ist der Berg allgegenwärtig. Er ist ein richtiges Apostolat. Wenn man von Valtournanche gegen Breuil hinaufsteigt und das Matterhorn immer grösser werden sieht, kann man nicht anders, als an die Namen jener denken, die ihm beim Bezwingen von dieser Seite her ihr Leben geweiht haben: Meynet, Jean-Baptiste Bich und der gute Abbé Goret, der diesen Berg beschrieb, nachdem er sich mit seinen Händen an ihn geklammert hatte. Dieser selbe Abbé Goret hat zahlreiche, im Dialekt von Cogne verfasste Lieder gesammelt, in denen man mitunter die derbe Art der Menschen dieses Landstriches entdeckt. So lautet der Anfang eines solchen Liedes:

« .Glücklich wären die Branntweintrinker,Aber in ihrer schrecklichen Sucht Wenn sie sich mit einem Glas begnügten.Hocken sie immer in der Kneipe. » Ist das nicht auch das wirkliche Leben am Sonntag auf der einsamen Alp, wo es oft nicht sehr unterhaltsam war?

Wenn einerseits das Aostatal gewissen Ausländern das Asylrecht gewährt hat, wie zum Beispiel während der französischen Revolution Xavier de Maistre, der in seinem Werk « Der Aus-sätzige der Stadt Aosta » einen besonderen Aspekt des Landes aufgezeigt hat, so gibt es kraft des Spiels des ewigen Ausgleichsgesetzes fern der Heimat Landsleute, die ihre Heimat nicht vergessen und das in leidenschaftlichen Worten ausgedrückt haben. So hat der Arzt Laurent Cerise, Neffe eines napoleonischen Generals, der aus Aosta stammte und in Paris wohnte, die Bilder aus seiner Jugend und die Seele der Berge immer in seinem Herzen bewahrt. « Das Aostatal », hat er geschrieben, « liebe ich über alles, sogar mehr als Paris, das ich doch recht gern habe. Dort bin ich geboren und besitze zwei oder drei Generationen von Verwandten und Freunden. Dort finde ich meine liebsten und süssesten Erinnerungen. Seit 30 Jahren ist es mein grösstes Glück, seine geliebten Berge so oft als möglich zu besuchen. » Stellt dieses über sich selbst Hinauswachsen des Landes nicht den wahren Ausdruck seiner Seele dar, das eigentliche Wesen von allem, was nicht zerstört werden kann durch die ständig wachsende Industrialisierung, die schon Guido Rey Angst einflösste Ihm schreibt man jenen Ausspruch zu, den andere wieder als eine Idee von Charles Gos ansehen: « An dem Tage, an dem die Strasse Breuil erreicht, werde ich sterben. » Und Gott weiss, wieviel Breuil den Einheimischen bedeutete und heute noch bedeutet. Guido Rey ist tot. Die Strasse hat Breuil nun schon lange erreicht. Und dazu gibt es jetzt auf der andern Seite des Aostatales noch den imposanten Mont-Blanc-Tunnel.

Gewiss haben diese neuen Verkehrswege den Aufschwung des Landes begünstigt, indem sie dem Tourismus eine immer grössere Ausdehnung erlaubten und Aosta einen unleugbaren Wohlstand verschafften. Aber dadurch hat man die edelsten Werte, die das Aostatal wirklich prägten, angetastet. Man hat den Körper auf Kosten der Seele entwickelt. Natürlich kann niemand den Fortschritt aufhalten, weder hier noch anderswo. Man ist ihm unweigerlich ausgeliefert, aber man muss sich auch bemühen, das Wesentliche so gut als möglich zu bewahren. Man muss die Seele des Landes retten, indem man sie auf den vereinsamten Alpen am Abhang des Berges pflegt in den alten Bräuchen, den alten Liedern, durch die Menschen und Sagen, indem man sich den Dichtern zuwendet und die Kraft der grossen Einsamkeit der Alpen aufrechterhält, von der Rainer Maria Rilke schrieb:

« Jedes Quentchen Stille schafft eine reife Frucht. » Die Seele von Aosta lebt immer noch, aber man muss sie dort suchen, wo sich der moderne Mensch noch nicht niedergelassen, wo er sie noch nicht zerstört hat, und vor allem im Herzen all derer, die an die Schönheit glauben.

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