Die Verborgene (Aiguille du Chardonnet) | Club Alpin Suisse CAS
Soutiens le CAS Faire un don

Die Verborgene (Aiguille du Chardonnet)

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

Ruedi Sauser, Sigriswil

Ruedi Sauser, Sigriswil Wir hofften auf gutes Wetter für Ende September. Mitte des Monats fiel jedoch viel Schnee in den Bergen. Unsere freien Tage rückten immer näher, ohne dass der Wetterbericht Besseres verkündete. Wir verschoben den Start von Samstag auf Sonntag, von Sonntag auf Montag, schliesslich noch vom Montag auf den Dienstag.

Zum Glück hellt es tüchtig auf, als wir dem Unterwallis entgegenfahren. In Martigny zweigen wir ab und fahren bis Orsières. Hier, mitten im Dorf, durch eine enge Gasse, biegen wir nochmals ab, und auf schmaler Strasse mit vielen Kehren geht 's weiter bergwärts. Dann plötzlich -welch eine Überraschung: ein See, Tannen und Lärchen, Häuser und Hotels vor uns! Wir haben unser erstes Ziel, Champex, erreicht. Ein Parkplatz unter Tannen ist rasch gefunden. Der Ort liegt still da, die Feriengäste sind nach Hause zurückgekehrt.

Ob wohl die La-Breya-Bahn noch fährt? Das würde unsern Weg zur Hütte beträchtlich abkürzen. Wir erkundigen uns an der Station. Nein -nur noch samstags und sonntags, steht da geschrieben. Nun, einen Vorteil hat 's auch: da wird nicht mehr viel Volk unterwegs sein.

Vorerst lassen wir uns im nahen Restaurant ein gutes Mittagessen schmecken; dann werden die Säcke gepackt; für einen gut fünfstündigen Hüttenaufstieg werden sie schwer genug - und gleich verschwinden wir auf angenehmem Weglein im stattlichen Nadelwald. Nach einem kurzen, steileren Wegstück öffnet sich der Wald: wir wandern ins Val d' Arpette. Die Wiesen des Talgrundes haben ihr Grün verloren, und die Abhänge links und rechts leuchten schon golden bis dunkelrot in der Nachmittagssonne.

Bald verlassen wir den Weg, der sich durch das Tal hinzieht, und wenden uns nach links. Der Pfad führt zuerst durch Tannen-, dann durch Lärchenwald steil in die Höhe. Wenn wir nur Zeit IL'hätten, die vielen Butterröhrlinge und Heidelbeeren zu pflücken! Doch der Weg ist noch weit. Nur noch vereinzelt stehen kleine Lärchen am Weg. Dann kommen wir an den Hang, der in die Combe d' Orny hinüberleitet. An schattigen Stellen liegt schon der erste Schnee. Endlich kommt der Übergang; der strengste Teil des Aufstiegs liegt hinter uns. Unterdessen sind aus dem Tal ganz unmerklich Nebelschwaden höher gestiegen - und plötzlich stecken wir mitten drin. Soll das etwa wieder schlechtes Wetter bedeuten? Bei der Cabane d' Orny ( 2687 m ) rasten wir. Weder Menschen noch Spuren sind zu sehen, nur grauer Nebel rings um uns.

Weiter geht 's der Moräne entlang. Da - plötzlich reisst der Nebel auf! Welch ein Anblick: rechts richten .sich die Aiguilles d' Arpette auf, links die Zacken des Portalet, und dazwischen liegt in makellosem Weiss der frisch verschneite Glacier d' Orny. Talauswärts, hoch über dem Nebelmeer, seine Nachbargipfel weit überragend, leuchtet der Grand Combin in der Abendsonne. Bei all dem Schauen und Staunen ist 's uns am Schatten kalt geworden. Rasch gehen wir weiter, holpern über Moränengeröll auf den Gletscher hinunter und ziehen unsere Spur im schuh-hohen Schnee höher. Dann verlassen wir den Gletscher wieder, steigen steil nach rechts, um endlich, jedoch unvermittelt vor der Cabane du Trient ( 3170 m ) zu stehen. Es dunkelt, wir sind müde, doch können wir sie gerade noch erkennen, die Ersehnte, Verborgene, wenn auch nur den Gipfel: die Aiguille du Chardonnet ( 3824 m ).

Kalt und verlassen ist die Hütte. Wir richten uns im Winterraum ein, und bald knistert ein munteres Feuer im Herd, so dass wir uns ganz geborgen fühlen. Draussen wölbt sich ein sternenübersäter Himmel über die stille Bergwelt. Aber so still ist es auf einmal gar nicht mehr! Ein kalter Wind beginnt an den Fensterläden zu rütteln. Ich habe Mühe, den Schlaf zu finden.

Am Morgen zieht dunkles Gewölk von Westen auf. Uns an die Chardonnet heranzumachen, müssen wir für heute vergessen. Das Plateau du Trient überqueren wir trotzdem, überklettern die Aiguille Purtscheller - um unvermittelt im dichtesten Nebel zu verschwinden. In hohem Schnee stapfen wir der Aiguille du Tour ( 3540 m ) entgegen. Aber die Mühe lohnt sich; auf dem Gipfel hellt es wieder auf. Und da steht sie nun vor uns mit ihrer steilen Nordwand, dem gendarmge-spickten Nordostgrat - die Aiguille du Chardonnet. Nebelfetzen umjagen Gipfel und Flanken. Wir spähen und diskutieren über eine mögliche Aufstiegsroute und einigen uns schliesslich für den Eisaufstieg durch die Nordflanke und den Nordostgrat.

Bei herrlichem Wetter und fröhlicher Laune kehren wir zur Hütte zurück. Die Behausung haben wir weiter für uns allein; wir machen es uns gemütlich; doch früh schon sind wir auf unseren Nachtlagern.

Noch bei Nacht brechen wir auf. In der Spur vom Vortag geht es rasch über das weite Gletscherfeld zum Col du Tour ( 3281 m ). Ein wunderbarer Tag ist angebrochen. Im Osten, über den Walliser Bergen, färbt sich der Himmel dun-kelrotbräunlich bis hellgelb, um gegen uns zu ganz durchsichtig, fast wasserhell zu schimmern.

Nochmals überblicken wir die Aufstiegsroute; dann steigen wir leicht ab und queren in fast kniehohem Schnee den Glacier du Tour. Die ganze Nordwand des Berges liegt noch im Schatten, während an der gegenüberliegenden Aiguille du Tour bereits die ersten Sonnenstrahlen die Gipfelfelsen umspielen. Über einen kleinen, steilen Gletscherarm steigen wir in die Eisflanke ein. Es ist recht mühsam, im pulvrigen Schnee voranzukommen. Bald erreichen wir ein kleines Plateau. Aber oha, so schnell lässt sich der Übergang nicht bewältigen! Ein riesiger Schrund gähnt plötzlich vor uns. Wohl würde ein feines, nicht gerade vertrauenerweckendes Schneebrücklein ans andere Ufer leiten. Wir finden es aber ratsamer, uns an der linken, steilen Begrenzung, dort, wo die Spalte ausläuft, hinüberzuschwindeln.

Weiter geht es nun wieder leichter, bis sich die Flanke steil aufrichtet. Über eine Eisnase steigen wir weiter, um wieder in leichteres Gelände zu kommen. Kurz unterhalb der Gratschneide gilt es nochmals einen abschüssigen Hang zu überwinden. Dann stehen wir keuchend auf dem Grat -und können nur noch staunen: so plötzlich im strahlenden Sonnenlicht, tief unter uns der mächtige Glacier d' Argentière und auf der gegenüberliegenden Seite die gewaltigen Wände der Aiguille Verte, Les Droites, Les Courtes und der Aiguille de Triolet; darüber ein glanzklarer, tiefblauer Himmel! Mühten wir uns noch vor wenigen Minuten in der kalten, schattigen Nordflanke des Berges, so gönnen wir uns nun, an der warmen Sonne sitzend, die erste Rast. Dann geht 's weiter, bald über Zacken, bald über feine Firnschneiden dem nahen Gipfel entgegen. Den letzten Aufschwung erklettern wir auf der Ostseite; dann ist der höchste Punkt erreicht. Der Handschlag ist nur ein äusseres Zeichen der Gipfelfreude, eine Geste des Dankes für treue Kameradschaft, während in unserer Seele die Festtagsglocken läuten. Kein Lüftchen regt sich; es ist angenehm warm an der Spätherbstsonne. Kein Dunst hindert die Sicht. Unzählig sind die Gipfel, die rings um uns am blauen Himmel stehen. Der Tiefblick in den Argentière-Kessel ist einmalig, unvergleichlich.

Doch die Zeit mahnt uns zum Aufbruch. Die Tage sind nicht mehr allzu lang, und wir möchten vor Einbruch der Dunkelheit zurück in der Hütte sein. Den gleichen Weg, wie wir gekommen sind, geht 's wieder zurück. An der steilsten Stelle in der Eisflanke gleiten wir mühelos am Seil in die Tiefe. Überraschend schnell stehen wir wieder auf dem Glacier du Tour. Noch leuchtet die Abendsonne, als wir nach kurzer Rast dem Col du Tour zustreben. Hier sehen wir nochmals zurück zur Chardonnet und freuen uns über die gelungene Bergfahrt; dann wenden wir uns über das weite Gletscherfeld der trauten Hütte zu.

Feedback