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Ein Sommertag im Steinbockrevier

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

Albert Schmidt, Engi GL

27. Juni 1981 - Hochsommer. In aller Frühe steige ich über die vom Gipfelkranz des Kärpf steil abfallenden Flanken ins Bergtal hinauf, während sich neben mir der Wildbach weiss aufgischtend seinen Weg zwischen abgeschliffenen, schwarzen Schieferplatten, Felsblöcken und Lawinenholz in die Tiefe bahnt.

Im Talkessel der Bischofalp halte ich ein und schaue in die Runde, um zunächst nur die umliegende Berglandschaft in mich aufzunehmen: über steilen, nicht mehr genutzten Wildheuplanken zieht sich ein Felsgürtel hin, der wiederum von abschüssigen Gras- und Geröllhängen gefolgt wird.

Dort oben erspähe ich plötzlich das grosse Gemsrudel, von dem mir der Wildhüter noch kürzlich berichtete. Nicht weniger als 37 führende Muttertiere hat er hier zählen können. Der Trupp hat seinen Tageseinstand geschickt gewählt, denn die Tiere ruhen oder äsen am oberen Ende der breiten und gut überblickbaren Bergflanke, so dass sie auch gegen oben durch Schrofengelände und zerklüftete Felsbänke gut geschützt sind.

Wo befindet sich aber das Steinwild? Sorgfältig suche ich, bei den untersten Felsen beginnend, ihren Sommereinstand ab. Tatsächlich, bald entdecke ich mitten in der ostwärts gerichteten Wand eine tiefschwarze Höhlung mit einer Gruppe von vier Steingeissen und drei Kitzen. Mit ihrem hellen, beige-braunen Sommerfell heben sie sich vor dem dunklen Gestein besonders deutlich ab. Doch wo sind die anderen, wo haben sie sich wohl versteckt? Erst als ich wieder aufbreche, erspähe ich noch eine zweite Gruppe, die aus dem Joch in die Wand hineinwechselt und dort schnell gegen die Gratschneide hinaufklettert. Ihre Eile kann ich mir bei dem sonst eher gemächlichen Steinwild angesichts der frühen Tageszeit und des Fehlens einer offensichtlichen Gefahr allerdings nicht recht erklären.

Während ich über abschüssige Grashänge, Blockfelder und letzte Firnreste gegen ein tief eingekerbtes Couloir hochstrebe, frage ich mich, welcher Gruppe ich mich zuwenden soll. Die Steingeissen hier am Kärpf sind während der ersten Lebensmonate ihrer Kitze ständig fluchtbereit und sogar scheuer als die Gemsen; was bedeutet, dass ich mich ihnen nur sehr vorsichtig nähern darf.

Über steiles Schrofengelände verlasse ich das Couloir, erreiche ein Band und klettere über rauhe Kristallinfelsen empor.

Ein schmales Grasbort, das in eine Felsleiste ausläuft, erlaubt mir, in die Ostwand hinauszuqueren. Bis hierher bin ich mit Hilfe meiner Gebietskenntnisse und alpinistischer Erfahrung gelangt. Will ich mich jetzt aber dem zu beobachtenden Rudel weiter nähern, dann muss ich mich so verhalten, dass es allmählich mit der Anwesenheit meiner Person vertraut wird. Denn das angesprochene Wild darf mich nicht als Eindringling, nicht als Gefahr, sondern sollte mich als Teil seiner Umgebung betrachten. Wie es - neben gelegentlichen Misserfolgen - immer wieder gelingt, die art-spezifischen Fluchtdistanzen zu unterschrei-ten, bleibt jedoch ( Betriebsgeheimnis ) jedes Tierphotographen. Allerdings verfügt meistens nur der Einzelgänger über die Chance, mit Wildtieren in nahen Kontakt zu kommen.

Nach langem, geduldigem Anpirschen liege ich schliesslich exponiert auf einem schräg abfallenden, in eine überhängende Wand abbrechenden Band; etwa vierzig Meter unterhalb der Nische, in der sich die Geissen mit ih- à'1 '

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rer Jungmannschaft aufhalten. Auf gleicher Höhe, praktisch mir gegenüber, jedoch von einer tiefen Felskluft getrennt, steht eine nicht-führende Geiss und äugt mich interessiert an. ( 1 ). Die andern, über meinem Standort befindlichen Tiere, haben sich zunächst etwas zurückgezogen. Ihre Neugier, herauszufinden, was die scheinbar leblose Gestalt auf dem Band unten treibt, lässt sie aber immer wieder an den Rand des Abbruchs treten. ( 2 ). Ein Muttertier verlässt mit seinem Kitz sogar weitgehend die schützende Nische, wobei es zurück schaut, ob die übrigen ihm folgen wollen. ( 3 ). Dann blickt es, das Junge hart neben sich, lange Zeit mit gespannter Aufmerksamkeit zu mir hinunter. ( 4 ).

Die Steinböcke haben mich nun akzeptiert. Das beweist die einzelne Geiss, die sich knapp jenseits der Felsrinne auf dem Grasband niederlegt und mir keine grosse Aufmerksamkeit mehr schenkt. Ihr Interesse wendet sich ihren Gefährtinnen und deren Nachwuchs zu, fast so wie eine alleinstehende Frau, die im Stadt-park sitzt und sinnend den Müttern und ihren Kleinkindern zuschaut. ( 5 ).

Die wahrscheinlich etwa drei Wochen alten Jungen sehen mit ihrem hellen, pelzigen Haarkleid, den stämmigen Beinchen und dem kleinen, doch wohlgeformten Köpfchen wirklich hübsch aus. Erstaunlich auch die Sicherheit, mit der sie sich in ihrer hochalpinen Kinderstube bereits bewegen. Ohne von seiner Mutter gehindert zu werden, entfernt sich ein Kitz und steigt auf ein schmales Felsbändchen. ( 6 ). Dort oben dreht es sich um und nähert sich rückwärts Schritt um Schritt dem Abgrund. Aber nach Minuten, in denen ich vor Angst, es könnte abstürzen, bewegungslos den Atem anhalte, trippelt es ein wenig nach vorne und springt mit verblüffender Leichtigkeit über die Felsstufe hinab, die ein Mehrfaches seiner Körpergrösse misst - und gleich steht es wieder neben seiner Mutter, die ihm ruhig zugeschaut hat...

Unbemerkt vergeht so die Zeit in tiefer Vertrautheit mit den Geschöpfen hier oben in der Bergwelt, die auch mir zum Lebensraum ge- WiUworden ist. Ohne die Tiere aufzuschrecken, ziehe ich mich dann vorsichtig zurück.

Die zweite Steinwild-Gruppe finde ich nicht am vermuteten Standort. Ich überschreite den Gipfel, blicke von einem Vorsprung aus in die Westwand hinein, suche den ganzen Berg ab - vergeblich.

Ein hier oben sich kalt anfühlender Föhnwind veranlasst mich, zum Essen eine Nische aufzusuchen, die mir etwas Schutz bietet. Mittägliche Ruhe, und wo ich hinschaue - die vertrauten Gipfel, Alphöhen und Wildreviere des Glarner Freibergs. Nur an der Gratkante über mir singt der Wind seine Sommermelodie. Im verwitterten alten Gestein ringsum eine Spur Wildgeruch, vermischt mit dem Duft blühender Kräuter und Gräser. Einige Bergdohlen kommen aus der Weite dahergesegelt, landen nahe bei mir in der Hoffnung, ein paar Bissen für den hungrigen Magen zu erhaschen.

Der Abstieg führt mich erneut in die Nähe der bereits besuchten Gruppe, so dass ich von einem über ihren Einstand hinausragenden Felskopf aus nochmals einen Blick auf ihr ( Familienleben ) werfen kann. Dadurch komme ich unverhofft zu einer interessanten und neuen Erfahrung über das Sozialverhalten der Steinböcke. Die hier senkrechte Felswand hin-abschauend, sehe ich eine der Geissen, die ihr Kitz in eine sonnenwarme Nische geführt hat. ( 7 ). Legt es sich hin, guckt nur der kleine Kopf noch hinaus. Hat der Wind die Witterung zugetragen oder ist es der Instinkt, der die Geiss unvermittelt dazu bewegt, hinaufzublicken? ( 8 ).

Obschon sie nur meinen Hut und das schwarzglänzende Objektiv sehen kann, wird sie unruhig, äugt ständig zu mir empor, stösst wiederholt den kurzen, scharfen Warnpfiff aus und dreht sich auf ihrem Standplatz drei- bis viermal im Kreise herum. Währenddessen bleibt das Junge ruhig liegen. Offensichtlich nimmt es seine Umwelt noch nicht bewusst wahr, sondern , sich im Schutz seiner Mutter geborgen fühlend, in den Tag hinaus. Dieser behagt es jedoch gar nicht, dass sich ihre Unruhe nicht auf das Kind überträgt. Wie aber soll sie es auf etwas Ungewohntes, vielleicht Gefährliches in ihrem Revier hinweisen?

Zu meinem Erstaunen versucht sie nun, seinen Rücken mit recht rauhen Hufschlägen zu bearbeiten, um ihr Kleines auf das Wesen da oben aufmerksam zu machen. ( 9 ). Es scheint aber nicht zu wissen, wie es das Verhalten seiner Mutter deuten soll und zieht sich immer wieder in die kleine Höhlung zurück. Die Geiss selbst macht trotz ihrer Aufregung keine Anstalten, den Platz zu verlassen, ob- wohl ihr über ein etwas tiefer liegendes Band ein Fluchtweg nach beiden Seiten offen-stünde. Ihr unübliches Verhalten veranlasst bald eine zweite Geiss mit ihrem Kitz, auf den äussersten Rand des Wandabbruchs hinauszuspringen, um den Grund für die Unruhe zu erspähen. Ihre gespreizten Schalen auf das plattige Gestein gepresst, stehen die beiden da, unter ihnen der überhängend abfallende Fels. Ein lebendes Symbol des Verwachsen-seins mit ihrem Berg. ( 10 ). Im Moment, wo kein Muttertier zu mir heraufschaut, gleite ich hinter die Kante zurück. Die Tiere haben von mir nie eine Bewegung gesehen und vor allem haben sie mich nicht als gefährliches Menschenwesen erfahren. Der Film ist zu Ende; zufrieden verstaue ich meine Kamera wieder im Rucksack. Bevor ich aber aus der Wand hinausquere, lockt es mich, doch noch einen letzten Blick nach unten zu tun.

Was ich sehe, gibt mir einen weiteren Einblick in die wunderbare Beziehung zwischen Muttertier und Tierkind: das Kitz liegt wieder ruhig in der Nische und seine Mutter leckt ihm zärtlich und ausgiebig die kleine, runde Stirn, so, als wollte sie ihr Kind für die vorgängigen, ihm unverständlichen Schläge trösten. Ich weiss, tierisches Verhalten darf man nicht mit menschlichem Denken und Handeln vergleichen. Dennoch - die Szene, deren Zeuge ich hier werde, erinnert mich verblüffend an mütterlichen Trost und die Liebkosungen für ein Menschenkind, dem aus einem ihm unbegreiflichen Grund oder aus Versehen körperlich weh getan wurde.

Ich aber steige, einmal mehr beglückt durch das Erlebte, aus dem Felsenreich der Steinböcke hinunter ins Tal. Die Freude über diese nahe Begegnung wird ein zweitesmal Wirklichkeit, als ich einige Tage später die geglückten Aufnahmen in den Händen halte -zum Dokument gewordene Augenblicke aus dem Leben unserer alpinen Tierwelt.

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