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Ein vergessener Grat: der «Fis»

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

Jean Sesiano, Genf

Der Fis-Grat befindet sich, in Luftlinie gemessen, zehn Kilometer von Chamonix in den französischen Voralpen. Es ist ein von Nord nach Süd gerichteter Grat in einer Höhe von 2700 2800 Meter, der an seinen beiden Enden je einen bedeutenden Gipfel besitzt: die Tête de l' Ane ( 2804 m ) im Süden und die Pointe de Chardon- nière ( 2721 m ) im Norden. Die « Arête des Fis », die sie verbindet, zieht sich, sehr zerrissen, manchmal nur einen halben Meter breit, 1200 Meter lang hin; da und dort stehen Felstürme, von denen zwei isoliert und weithin sichtbar sind.

Ausgesetzt ist man da, soviel man will: Nach Osten, d.h. ins Vallon d' Anterne, stürzt der Blick über eine ungeheure, senkrechte Wand siebenhundert Meter tief; ein Stein, den man von der Krete aus mit Schwung hinabschleuderte, würde etwa 12 Sekunden brauchen, bis er auf dem Geröll aufschlüge, das von ihrem Fuss weiter abfällt. Gegen Westen ist die Wand, die von drei oder vier Felsbändern unterbrochen ist, weniger eindrucksvoll; immerhin überragt sie die Alpen von Sales um dreihundert Meter.

Der Fels ist im allgemeinen von massiger Qualität; denn die ganze Krete besteht aus einem Flysch-Rest, der auf einer breiten, gesamthaft vorzüglichen, von Karstrinnen zerfressenen Kalkfliese ruht; Schichten soliden Sandsteins wechseln mit verwitterten Bändern von Schiefer oder sonstwie plattigem Gestein, und die « Tellerstapel » sind deshalb häufig.

Ein Reiseführer dieser Gegend, noch aus dem vorigen Jahrhundert stammend, verrät uns: « Nach den Aussagen der Talbewohner soll ein Hirte von Sales den ganzen Grat überschritten haben. » Sonst findet man in der alpinen Litera-turgar keinen Hinweis auf irgend eine Begehung. Da das Problem doch heikel erscheint, zweifeln wir an der Wahrheit der Erzählung von dem Hirten; aber am besten gehen wir selber zu einem Augenschein hin, um « de visu in situ » urteilen zu können.

Die Morgenröte des 1. November 1968 sieht uns - meinen Freund Pierre Bossus und mich -schon auf dem Gipfel der The de l' Ane, den wir nach einer ungemütlichen Nacht in den Alphütten von Sales, auf 1900 Meter, erreicht haben. Das Wetter ist schön und kalt. Neuschnee ist in der vorhergehenden Woche gefallen und liegt noch in den schattigen Winkeln, die in dieser Jahreszeit sehr zahlreich sind. Der Anfang ist leicht:

Abstieg im Geröll vom Gipfel zum Grat und Überschreitung verwitterter Türme, die wir, bevor wir sie angehen, teilweise säubern müssen ( eine vollständige Säuberung würde fast die Wegräumung der ganzen Krete bedeuten !). Einige Aufschwünge passieren wir in Felskletterei, doch die Schwierigkeit übersteigt nicht den dritten Grad.

Bald schon ergreift uns ein vorsichtiger Optimismus: Werden wir wohl das Problem so rasch und so leicht lösen und uns von dem legendären Hirten die Erstbegehung wegschnappen lassen?

Gewisse Stellen müssen wir rittlings bezwingen; denn sie sind schmal, und unsere Unterlage hat die lästige Neigung, sich zu den Geröllhalden am Fusse der Wände zu gesellen.. Nach 450 Meter Auf und Ab in luftiger Höhe schwindet uns plötzlich der Grat unter den Füssen: Es scheint, als wäre es nötig, sich dreissig bis sechzig Meter abzuseilen, und die Fortsetzung der Führe sieht wenig einladend aus. Zudem ist es schon Mittag, und da die Tage im November kurz sind, erachten wir es als klüger, das Abenteuer hier abzubrechen, nachdem wir noch zum Trost ein Steinmannli errichtet haben.

Die Sage der Talleute geht uns durch den Kopf, und wir müssen zugeben, dass ein Hirte, der sich um seine Schafe wenig Sorgen machte und den Gütern dieser Welt abgesagt hatte, wohl bis zu dem Punkt gelangen konnte, den wir jetzt erreicht hatten, aber keineswegs über den Riegel hinaus, den die Abseilstelle bildet.

J. Juli igyo: Die selben zwei Männer stellen sich ein zweitcsmal beim Fis-Grat ein; doch an diesem Tag geht der Angriff von Norden, also von der Pointe de Chardonnière aus. Wir sind gegen neun Uhr auf dem Gipfel, verhältnismässig spät für ein solches Unterfangen, vor allem wenn es einen nicht nach improvisierten Biwaks gelüstet.

Zuerst steigt man durch Geröllhalden vom Gipfel zum Grat hinunter; dann verbreitert sich dieser und wird eindeutig horizontal und geräumig, geradezu eine Autostrasse, verglichen mit den anderen Abschnitten, die an zwei Stellen von Aufschwüngen dritten Grades unterbrochen sind. Doch die Lage scheint sich ändern zu wollen: In der Ferne erhebt sich ein Turm aus Sandstein und Schiefer auf der Schneide des Grates, und seine 25 Meter hohe, teilweise überhängende Front weist stellenweise erschreckende Abstürze auf. Im Verhältnis zur Entfernung von dem Turm nimmt nun unser Optimismus ab, das Unternehmen erfolgreich zu beenden. Je näher wir kommen, desto klarer wird uns, dass das die Schlüsselstelle ist - der Schlüssel ist sehr gut versteckt, wenn nicht überhaupt ins Geröll am Wandfuss hinabgefallen! Wir brauchten eine ganze Ausrüstung für künstliche Kletterei, und die haben wir nicht bei uns; und ob wir damit durchkämen? In der Hoffnung, den Turm zu umgehen, versuchen wir einem sehr schiefen Felsband zu folgen, das in die Westwand hinunterführt; doch es verschmälert sich und läuft schliesslich in der Wand aus.

Ein stärkeres Hindernis also hält uns im Schach und zwingt uns, nach etwa dreihundertfünfzig Meter Weg auf dem Grat in den eigenen Fussstapfen zurückzukehren, natürlich nicht ohne dass wir den traditionellen Trost-Steinmann errichtet haben. Die mittleren vierhundert Meter der von zwei massiven Türmen überragten Krete scheinen entschieden wohl verteidigt.

Neuer Versuch zu dreien, eine Woche später, mit Claude Bächler, einem ausgezeichneten Kletterer. Aber diesen neuen Angriff von Süden, d.h. von der Tête de l' Ane aus, vereitelt das Wetter: Die Pickel singen, und da nimmt man sich gewiss die Zeit nicht zum Zuhören.

Eine nach meinem Dafürhalten allzu lange Abwesenheit hält mich bis zum Sommer 1973 im Ausland fest; aber ich werde inzwischen auf dem laufenden gehalten, was « unseren » Grat betrifft: Nach jeder Saison erreichte mich der lakonische Bericht von Pierre: « Niemand hat den Fis-Grat versucht; zwar haben Angriffe stattgefunden auf die grossen Kalkwände der Ostflanke, jedoch nicht am senkrechten Absturz des Grates; die Kletterer haben wohl gemerkt, dass der Ort selbst für helmbewehrte Alpinisten gefährlich ist !» Das beruhigte mich nur teilweise, war mir doch wohl bewusst, dass Erstbegehungen dieser Art in den Alpen nicht mehr zahlreich sind und schnell und systematisch erledigt werden.

Endlich, am 12. und 13.Juli ( einem Freitag !) 1973, breche ich auf, zusammen mit David Young, einem tüchtigen amerikanischen Alpinisten, der in der Schweiz arbeitet. Dieser Freund ist im allgemeinen ein Liebhaber des Granits; doch auf dieser Tour übernehme ich seine Ausbildung in faulem Fels. Pierre kann leider aus beruflichen Gründen nicht mit von der Partie sein.

Wir steigen am Spätnachmittag des Donnerstags bei wolkenlosem Himmel von den Alphütten von Sales aus auf und richten auf 2700 Meter ein bequemes Biwak auf dem Grat unterhalb der Tête de l' Ane ein; es dünkt mich nämlich, dass der schwache Punkt der Festung auf dieser Seite liegt. In der Nacht steigt Nebel auf und hüllt uns zeitweise völlig ein; dann wird der Himmel klar, und die aufgehende Sonne findet uns unter einer Rauh reifdecke. Um fünf Uhr sind wir auf dem Gipfel der Tête de l' Ane und um sechs Uhr an jenem Endpunkt, den wir 1968 um den Preis von fünf anstrengenden Stunden erreicht hatten; dieser Teil des Grates ist mir allmählich vertraut.

Die Lage wird nun genauestens untersucht, und es erweist sich als möglich, etwa zehn Meter in der Ostflanke abzuklettern und hernach auf den Grat zurück zu kommen, um zwanzig Meter, gesichert durch eine Reepschnur um einen Steinzacken und durch einen Felshaken in einer glücklicherweise soliden Sandsteinschicht, abzuseilen.

In einiger Entfernung könnte uns links eine Abseilstrecke von fünfzig Meter auf ein ansteigendes Felsband bringen, das etwas weiter wieder zur Krete führt. Das wäre in seiner Ausgesetztheit ein eindrücklicher Abstieg. Und dazu die andere Entscheidung: Sollten wir das Seil nachziehen Das« Hotel des Neuchâtelois » ( in der Nähe der heutigen Lauter aarhütte ) 2Die Familie Agassiz besucht das « Hôtel des Neuchâtelois » 1 Die, Ostseite des Fis-Grates Die Westseite des Fis-Grates ( Haute Savoie ) Photosjean Gesiann. ( renf und uns jeden Rückzug abschneiden? Von weitem sehen die beiden Haupttürme nicht gerade abweisend aus; aber wie ist es mit ihrer Nordseite, die wir von hier aus nicht sehen können? Ein Blick auf die Wand über uns überzeugt uns: Unsere Steigbügel und einige Meter fünften Grad müssten uns erlauben, die Höhe wieder zu gewinnen. Pfeifend ist das Seil gefallen; alea iacta est!

Dem Gratfirst zu folgen ist relativ einfach; man muss nur die Füsse vorsichtig setzen. Nach einer Stelle dritten Grades ist die Besteigung des ersten Turms gelungen, und voller Freude errichten wir den Steinmann, obwohl die Tour noch nicht zu Ende ist; denn es gilt noch an der Nordseite dieses Turms abzusteigen, dann die Südflanke des zweiten Turms zu erklettern und schliesslich seine wilde, überhängende Nordseite zu bezwingen: Dies ganze Vorhaben dämpft unseren Übermut.

Der Abstieg bietet nicht allzu viel Probleme: neuerdings dritter Grad auf der Ostseite, dann « Tellerstapel », eine Stelle vierten Grades, und schon sind wir im Sattel, der die beiden Türme trennt. Er ist breit und geräumig, im Gegensatz zum vorhergehenden. Nach rechts scheint ein Weg offen, während vor uns der Felsen überhängend und verwittert ist. Einige Minuten später betreten wir die Spitze des zweiten Turms, und wie bisher finden wir keine Spur menschlicher Anwesenheit vor.

Die letzten Schwierigkeiten künden sich an in Form einer Abseilstelle von 15 Meter, teils überhängend, so dass man frei schwebend auf dem Grat anlangt ( Breite 50 cm und verwitterter Fels !). Zwei mit einer Reepschnur verbundene Haken werden in die sehr homogene Sandsteinschicht geschlagen, die wir schon zuvor angetroffen haben, und mein Kamerad seilt sich ab. Er passiert den Grat links ( auf der Westseite ) und steigt noch etwa zehn Meter ab, um auf ein sehr stark geneigtes, ansteigendes Band zu gelangen, das den Grat dreissig Meter weiter nördlich erreicht. Ich rege an, er solle das Seil nachziehen; aber die Reibungsstellen sind zu zahlreich, und das Seil gleitet nicht. Das beunruhigt mich etwas; denn es scheint mir nicht möglich, anderwärts Haken einzuschlagen. Ich werde mein Glück versuchen und auf dem Grat anhalten, statt bis zu dem Band weiter zu gehen; so kann ich die Reibungspunkte vermindern, wobei sich allerdings das Risiko erhöht. Zu meiner grossen Erleichterung geht es, wenn ich auch gewaltig zerren muss an dem verdammten Seil, bis es endlich zu meinen Füssen hinfallt. Rittlings auf dieser zerrissenen Krete hockend, rolle ich das Seil auf, befestige es auf meinem Sack und setze meinen Vormarsch auf wirksame, wenn auch nicht elegante Weise fort bis zum Ende des Aufschwungs, wo eine ziemlich heikle und exponierte ( IV ) Kletterei von fünf Meter mich zu einem bequemeren Standort bei der Einmündung des Bandes führt, wo mich mein Kollege erwartet.

Leider bleiben uns noch etwa vierzig Meter bis zu dem Punkt, den wir 1970 erreicht hatten. Es wird ein sehr exponiertes Wegstück, wo wir meist rittlings auf Blöcken voller Risse und auf schiefen Schiefertafeln rutschen, die der Gesetze des Gleichgewichts spotten. Nie sind mir Fliegen-füsse wünschenswerter erschienen! Endlich erreichen wir, unsere letzten Meter mit weithallenden Kanonaden interpunktierend, das Steinmannli, das wir vor drei Jahren errichtet haben. Es ist ein Moment zum Umsinken; denn die Nervenanspannung war während der gesamten neuen Wegstrecke gross gewesen. Die letzten dreihundertfünfzig Meter sind bekannt und bieten keine mit den schon überwundenen vergleichbaren Probleme.

Um 14 Uhr, also neun Stunden nach unserem Start von der Tête de l' Ane, stehen wir auf der Pointe de Chardonnière, 83 Meter tiefer als unser Ausgangspunkt und 1200 Meter weiter im Norden. Ein kräftiger Händedruck — und das Nachlassen der Spannung; der Grat selber scheint am Fest teilnehmen zu wollen mit einer schallenden Kanonade ( ich habe nicht geachtet, ob es wirklich 22 Schüsse waren !).

Der Fis-Grat, von der Tête al'Ane ausgesehen 4 Auf der Pie Chardonnière. Hinten: Aiguille du Midi, Mont Blanc du Tacul, Mont Maudit, Mont Blanc, Dôme du Goûter Der Eiger im Winter Photo W.A. Comstive, Blackpool/GB Die Erstbegehung des Grates von Süden nach Norden ist geglückt; doch es ist mir, als wäre eine fünf Jahre alte Freundschaft erloschen...

Unter uns gesagt: In der Legende der Talleute - da handelte es sich vielleicht um einen geflügelten Hirten...

( Übersetzung W. Derungs )

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