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Eine ungewöhnliche Rettungsaktion

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

Louis Tschümperlin, Rettungsobmann, Schwyz

Unter dem grössten Karstgebiet der Schweiz, das sich vom Dorfe Muotathal ostwärts über den Pragelpass hinüber bis zu den Firnfeldern des Glärnisch und südwärts bis zu den Felswänden über dem Klausenpass erstreckt, liegt das Hölloch im Muotatal. Im Jahre 1875 wurde die Höhle vom Einheimischen Alois Ulrich entdeckt und erstmals betreten. Um die Jahrhundertwende haben sich in- und ausländische Speläologen intensiv um die Erforschung der Höhle bemüht. Später jedoch geriet das Hölloch wieder in Vergessenheit, bis im Jahre 1946 Dr. Alfred Bögli, Hitzkirch, die Forschung wieder aufnahm. Verschiedene Gruppen, u.a. die Arbeitsgemeinschaft Höllochforschung ( AGH ) und die Société Suisse de Spéléologie ( SSS ), haben in den folgenden Jahren das Höhlenlabyrinth untersucht und bis

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2 Piz Chapütschin ( 323s m ), Verstanclahorn ( 3297 m ) und Torwache, von Munt da las Muojas aus gesehen Photos G. Schwarzenbacher, Räterschen heute rund 110 Kilometer Gänge vermessen. Bei all dieser Forschungstätigkeit hat sich als grosses Problem die Durchführung der Transporte für den Nachschub ( Verpflegung, Brenn- und Beleuchtungsmaterial usw. ) ergeben. Die Zahl der Forscher war zu klein, um diese Arbeit selber zu bewältigen. Im Spätherbst wurden deshalb Vortransporte organisiert und mit jungen Leuten aus dem ganzen Lande, aus Österreich und Deutschland manchmal bis zu 150 Traglasten in die Basislager gebracht. Damit wurden aber auch weitere Kreise in den Bann der Höhle gezogen, so dass der Besucherstrom ein beträchtliches Ausmass angenommen hat.

Am 3.Januar 1969, morgens 7 Uhr, hat M., der Leiter einer Forschergruppe der AGH, im Hochsystem des Götterganges einen Unterschenkelbruch mit offener Quetschwunde erlitten. Der Unfall ereignete sich infolge eines herabfallenden Steins. Die drei Kameraden schleppten und zogen den Hilflosen in achtstündiger mühseliger Arbeit durch enge Röhren über Auf- und Abseilstellen zum guteingerichteten und sichern Biwak VI zurück. Hier musste der Verunfallte hinter unzähligen Hindernissen etwa 14 Kilometer im Bergesinnern auf die Hilfeleistung der Rettungsmannschaft warten. Zwei Kollegen brachten am Nachmittag des 4.Januar die Unfallmeldung ans Tageslicht. Zum erstenmal in der Geschichte der Forschungen im Hölloch hatte sich die AGH mit der Bergung eines Verletzten aus einem äusserst schwer zugänglichen Gebiet zu befassen. Die Forschungsgemeinschaft hat wohl einen internen Rettungsdienst organisiert; die technischen Kenntnisse und Erfahrungen für einen derartigen Transport fehlten ihr jedoch weitgehend. Die Rettungskolonne SAC Mythen wurde deshalb um Hilfe angegangen. Die nachfolgende Aktion hat sowohl Leiter wie Teilnehmer auf die Probe gestellt und ihnen unvergessliche Eindrücke vermittelt.

Bei einer Bergung aus dem Hölloch ergeben sich aus der Sicht einer SAC-Rettungskolonne 2 folgende besondern Schwierigkeiten:

QH deutschDas weitverzweigte Höhlenlabyrinth und die besondern Tücken der Höhle verlangen eine kundige Führung durch erfahrene Höhlenken-ner.

- Mit dem Eintritt in die Höhle ist der Kontakt mit der Aussenwelt abgebrochen, da noch kein geeignetes Funkgerät eine drahtlose Verbindung ermöglicht. Einzig in einigen gutausgebauten Biwaks sind mehrere hundert Meter Antennen ausgehängt, an die ein Transistorradio angeschlossen werden kann. So ist es immerhin möglich, den für manche Entscheidung wichtigen Wetterbericht von Radio Beromünster und im Notfall eine Radiomeldung von aussen zu empfangen. Der weitere Kontakt mit der Aussenwelt geht nur über Meldeläufer.

- Bei einem möglichen Wassereinbruch zufolge Regenwetters oder Schneeschmelze stehen weite Teile der Höhle unter Wasser. Mehrere Siphons im Hauptgang sind geschlossen. In dieser Situation muss zugewartet werden, bis das Wasser abgelaufen ist. Jegliche Einwirkung von aussen durch Sprengen, Abpumpen des Wassers usw. ist aussichtslos, was sich auch im Jahre 1952 klar gezeigt hat, als A. Bögli mit 3 Mann während 10 Tagen eingeschlossen war. Verpflegung, Brenn- und Beleuchtungsmaterial ( Karbid ) müssen daher genügend in den sichern Biwaks vorrätig sein.

Die technischen Schwierigkeiten des Transportes waren weitgehend unbekannt. Der Rettungsmannschaft des SAC kamen einzig die im Winter 1967 an einem Rettungskurs im Hölloch gemachten Erfahrungen zugute. Anderseits bedrückte die Tatsache, dass im Jahre 1957 eine Gruppe Höhlenbesucher für die Bergung ihres verletzten Kameraden nur vom Drahtsee zum Ausgang ( etwa eine Marschstunde ) 16 Stunden benötigt hatte. Der Zeitaufwand für die bevorstehende Aktion war kaum abzuschätzen, dies insbesondere, weil die technischen Schwierigkeiten in diesem abgelegenen Höhlenteil soviel wie unbekannt waren und weil auch im Winter ein Wasserein- bruch durchaus möglich ist. Die Überbringer der Unfallmeldung berichteten, dass die grössten Schwierigkeiten zwischen dem Biwak VI und dem Biwak V zu erwarten seien. Im Biwak V, das immer noch i i Kilometer im Bergesinnern liegt, sei der halbe Weg gewonnen. Alle diese Tatsachen und Vorstellungen bildeten eine ungewohnte und zusätzliche Belastung für mich als verantwortlichen Rettungsobmann wie aber auch für die übrigen Helfer. Die Aktion war gründlich zu überlegen und in Zusammenarbeit mit den Forschern zu organisieren. Die Verantwortung wurde aufgeteilt in:

- die medizinische Betreuung des Verunfallten und die Führung der Rettungsmannschaftden Nachschub, die Ablösungen und die weitere Organisation ausserhalb der Höhleden technischen Teil der Bergungsaktion. Am Samstagabend, dem 4. Januar um 21.00 Uhr, stiegen wir als erste Gruppe von g Mann ins Hölloch ein. Wir trugen mit:

Medikamente ( schmerzstillende Präparate, Starrkrampfspritzen, Antibiotika usw. ) Fixationsmaterial ( Gipsbinden ) 1 zusammensetzbaren Rettungsschlitten 1 Grammingersitz 1 Tenta-Bergungstuch und zwei Armeezelte Kletterausrüstung ( Hämmer, Karabiner, Hacken ) Reepschnurstücke à 4 Meter 5 Strickleitern 6 Bergseile 1 Gummiboot Karbid und Verpflegung für einen Tag Alles Material in den Biwaks stand uns überdies zur freien Verfügung. Beim Rettungsschlitten handelte es sich um eine Eigenkonstruktion: Auf zwei Kufen aus Eschenholz werden solide Sperrholzplatten ( Schiffssperrholz ) von 23 X 55 Zentimeter aufgeschraubt. An den Ringmuttern auf der Oberseite des Schlittens kann der Patient festgebunden werden. Auch Zug-, Brems- und Tragstricke lassen sich nach Belieben einhängen. Der Schlitten hatte sich in einfacherer Ausfüh- Der Verletzte im Schlauchboot über dem Styxsee. Photo: Max Gubser, Zürich rung bereits an der Rettungsübung im Winter 1967 am besten bewährt. Ein unzerlegbares Transportgerät wäre höchstens bis zum ersten engen Schlupfloch gekommen.

Der Anmarsch zum Verletzten im Biwak VI beanspruchte volle 24 Stunden, wobei allerdings etwa 9 Stunden Schlaf- und Verpflegungspausen miteingerechnet sind. Es stand von Anfang an fest, dass die erste Equipe den anstrengendsten und technisch schwierigsten Teil der Aktion vor sich hatte. Auf dem Weg vom Biwak V zum Biwak VI waren senkrechte bis überhängende Felsstufen von 20 und mehr Metern lediglich mit einem fixen Seil erschlossen. Der erste musste sich mit dem Schiebeknoten hinaufarbeiten. Für die Nachfolgenden wurde dann der Weg mit Strick- leitern gangbarer gemacht. Unsere Ankunft im Biwak VI stimmte den Verunfallten zuversichtlich; aber auch für uns, die wir um sein Befinden bangten, waren erleichtert, als wir feststellen konnten, dass er bei guter Verfassung war und dass sich keine Komplikationen eingestellt hatten. Der Krankenpfleger verabreichte die nötigen Medikamente und Injektionen und legte den gebrochenen Unterschenkel in Gips. Diese Art Fixation war für den beschwerlichen und langen Transport notwendig und auch am besten.

Um Mitternacht vom 5. auf den 6.Januar konnte der Transport beginnen. Unweit vom Biwak musste über den Kirchturm des Grossen Götterdomes abgeseilt werden. Diese 60 Meter hohe Wand haben wir in zwei Malen mittels der behelfsmässigen Karabinerbremse überwunden. Nach der Querung des Schiffes im riesigen Dom versperrte ein enger Durchschlupf das Vordringen. Bis zu diesem Engpass hat M. die Reise auf dem Rücken des Retters im Grammingersitz zurückgelegt. Hier musste er aussteigen und sich auf dem Hosenboden durch das Abflussloch - der Grosse Götterdom gleicht einem riesigen Wasserreservoir - ziehen und stossen lassen. Nach diesem Schlupfloch, wo sich der Stollen wieder auf etwa 1,5 Meter Breite und 50 Zentimeter Höhe weitet, haben wir den zurückgelassenen Schlitten montiert. M. wurde samt dem Grammingersitz auf den mit Schaumgummi und Schlafsack gepolsterten Schlitten gebettet, damit er in den steilen Schloten jederzeit gesichert und in überhängenden Abstürzen buchstäblich mit dem Schlitten am Rücken abgeseilt werden konnte. Die unglaubliche Vielfalt der Gänge, Schlote und Stollen in ihrer Form und Dimension stellten fortwährend neue Probleme. Einzelne Gänge zum Beispiel gleichen einer unregelmässigen Gletscherspalte mit Wasser auf dem Grund. Diese Spalten waren mühsam in ihrer ganzen Längsrichtung zu bewältigen. Oft verengt sich der Spalt, so dass der Schlitten hochgestellt seitlich an der Wand weitergeschoben werden musste. Anderseits gibt es wieder Stellen, die nur mit aller Mühe überspreizt werden können. Immer war die Last des Transportes vorwärts zu bringen und darauf zu achten, dass weder der Patient noch ein Retter in das darunter befindliche Wasser tauchte. Mehrere Male musste M. sein « Taxi » auch verlassen, wenn ein röhrenförmiger Stollen zu eng wurde oder ein Durchschlupf die Weiterfahrt verhinderte. Kriechen wie ein Maulwurf war da die einzig mögliche Fortbewegungsart. Zum Glück verfügte M. noch über zwei gesunde Arme. Müdigkeit und Schlafmangel machten sich bei den Rettern je länger, je mehr bemerkbar. Die ungewohnten Gangarten in gebeugter Stellung, auf Händen und Knien oder kriechend, zehrten an den Kräften.

Die erste Ablösung im Kleinen Götterdom um 09.00 Uhr wurde dankbar angenommen. Mehr torkelnd als gehend, erreichte die abgelöste Mannschaft am Mittag das Biwak V, wo sie verpflegt wurde und sich ausruhen konnte.

Die Temperatur im Hölloch beträgt stets etwas über 50 Celsius. Die Luftfeuchtigkeit erreicht beinahe %. Verschwitzte und durchnässte Kleider trocknen nur am eigenen Leib. Die alte Methode des Anziehens der Kleider in umgekehrter Reihenfolge ( warmer Pullover auf den nackten Leib und das feuchte Hemd darüber usw. ) hatten sich bestens bewährt. Dennoch zeigten sich erste Reaktionen der Strapazen. Ein Mann musste mit 380 Fieber, 120 Puls und Anzeichen einer Lungenentzündung hinausgeschickt werden. Einige Begleiter meldeten sich freiwillig. Ich war froh, dass jeder der Helfer selber wusste, was er seinen Kräften und seiner Gesundheit noch zutrauen konnte. Schliesslich waren wir nicht als Höhlenbewohner trainiert. Einige waren sogar zum erstenmal in der Höhle. Auf jeden Fall haben kein Höhlenkoller, Unfall oder weitere Krankheit die Aktion zusätzlich belastet.

Der Verletzte erreichte das Biwak V nach r gstündiger Fahrt. Ab Biwak V gestaltete sich der Transport bedeutend flüssiger. Einerseits reihten sich die Hindernisse und technischen Schwierigkeiten nicht mehr so häufig aneinander, und an- derseits wurden die Helfer und damit die Ablösungen zahlreicher. Lange Sand-, Lehm- und Schutthallen erlaubten ein rascheres Vorwärtsgehen. Aber auch hier sorgten grössere und kleinere Auf- und Abseilstellen sowie Seen, die nur im Schlauchboot überwunden werden können, für Abwechslung. Besonders begünstigt wurde die Aktion durch trockenes, kaltes Wetter ausserhalb der Höhle. Der Wasserstand der Seen war sehr niedrig, und die sonst so lästigen Bächlein und Wasserfälle im Göttergang führten nur wenig Wasser. Dank diesem glücklichen Umstand konnten wir auch ab Biwak V den kürzesten Weg über den SAC-Siphon einschlagen. Im Biwak II, dem besteingerichteten Lager im Hölloch, wurde eine ausgiebige Ruhepause eingeschaltet. Hier konnte auch der Patient einige Stunden schlafen. Er war immerhin seit fast 35 Stunden auf der Fahrt. Zur Kontrolle und Behandlung der offenen Wunde am gebrochenen Bein musste der Gips aufgeschnitten und erneuert werden. Frisch gestärkt und ausgeruht, ging 's dann wieder auf die Reise und im Eiltempo über den Styx dem Hauptgang zu. Die Aktion konnte endlich entgegen unsern eigenen Erwartungen in verhältnismässig kurzer Zeit, am Mittwochvormittag, dem 8.Januar, abgeschlossen werden.

Der gute Verlauf der Bergungsarbeiten im Hölloch war zu einem grossen Teil auch der reibungslosen Organisation ausserhalb der Höhle zuzuschreiben. Die Einsatzleitung im Restaurant Höllgrotte hatte beide Hände voll zu tun. Die Ablösungen und der Nachschub haben tadellos funktioniert. Über den ganzen Verlauf der Aktion wurde auf Grund der Meldungen von innen genau Buch geführt; jeder Helfer wurde mit Namen und Funktion beim Einstieg in die Höhle und bei seiner Rückkehr im Tagebuch notiert. Die Presse sowie Radio und Fernsehen schalteten sich ebenfalls ein und wollten bedient werden. Eine Geheimhaltung des ganzen Geschehens vor der Sensationsgier war nicht möglich, da zu viele Beteiligte von daheim und ihrem Arbeitsplatz fernbleiben mussten. Schliesslich konnte die Aktion aber - was weit wichtiger ist - zum Wohle des Patienten und ohne nennenswerte Zwischenfälle abgeschlossen werden. Ich kann hier nur allen Helfern meine Anerkennung für die kameradschaftliche Zusammenarbeit wiederholen. Besonderes Lob aber verdient der Patient selbst für seine zähe und tapfere Haltung; mit keiner Miene hat er seiner Gemütsdepression Luft gemacht und mit keinem lauten Wort über seine Schmerzen geklagt.

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